Albert Schramm
Der innere Kreis
Albert Schramm

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Jedes abgesetzte Gewehr nahm ich an, gerne blieb ich mit vorn, wenn man nun Deckung brauchte für die Loslösung vom Feind. Denn nun ging es zurück, immer weiter, immer zurück.

Evelyn wollte ich vergessen. Und manchmal, tagelang, wenn mich nicht etwas Besonderes, ein Baum, eine Blüte, an sie erinnert hatte, konnte ich zufrieden und in einer mir neuen Ausgeglichenheit meinen Dienst tun. Dann aber auf einmal wieder brach auf, was ich vergessen gewähnt.

 

Rückzüge, Rückzüge, und immer am Feind. Im Hochsommer damals, im Juli, hatten wir gestürmt. Dann gingen die Rückzüge los, keinen Tag waren wir in Ruhe gekommen, und jetzt war es Oktober. Unsere Wäsche war zerrissen, unsere Socken und Stiefel zerfetzt, unsere Leiber zerlaust und zerschunden, unsere Nerven verbraucht. Es war keine Ablösung mehr da. Wir blieben, wir hielten. Mir war es recht so, es paßte so alles.

Tagelang hatte ich vor der Erinnerung Ruhe gehabt, aber da saßen wir nun wieder um ein Feuer, schnitten die halb mit Knochen, halb mit Wasser gefüllten Fleischbüchsen auf, wärmten das scharfe Zeug, dessen der Gaumen längst schon bis zum Ekel überdrüssig war, in den Kochgeschirren.

Wie lang war das her, daß ich Evelyn damals auf der Alb, unter der Buche, die Brote geschnitten? Jahre? Wieviel Jahre war das her?

Ich wußte es nicht, war auch zu müde, so ganz von innen heraus zu müde. Und es sollte mir auch gleich sein. Was kümmerte mich eine Frau, die mit einem anderen ging? Nimm dir das mit der Frau nicht so zu Herzen, du, hatte damals der Urlauber gesagt. Wieviele Wochen, wieviele Monate war das her? Das lag ja auch schon vor dem Großen Sturm – richtig – aber der hatte leicht reden – nicht wahr, Ev – nimm dir das nicht so zu Herzen – nicht wahr, Evelyn – nicht so zu Herzen –

 

Für unseren Zug wird Wein ausgegeben.

Nur für unseren Zug? Dann steckt auch was dahinter.

Und wenn es Wein gibt, für jeden Mann ein ganzes Kochgeschirr voll schweren roten Weins, dann ist es diesmal etwas Besonderes.

Mir ists recht. Also trinke ich meinen Rotwein. Es wird diesig und kalt. Schließlich tropft seiner Regen auf Helm und Mantel. Mit Mühe gelingt es, das abgedeckte Feuer zu unterhalten, auf dem ich meinen Wein wärme. Er tut mir gut. Die andern machen es mir nach, und als der Melder mit dem Befehl zu uns kommt, den er zögernd übergibt, da sind wir schon so sehr und so wohltätig durchwärmt, daß es keinen großen Eindruck mehr auf uns macht: wir sollen wieder vor und morgen den stark nachdrängenden Feind aufhalten.

Wir nehmen Gasmasken, Pistolen und Granaten ans Koppel, richten das Gerät und stapfen dem sumpfigen Bachgrund entlang wieder nach Westen, dem Feind entgegen, wir, eine Handvoll Todgeweihter, zwei schwere MGs, ein Halbzug Infanterie.

Ernst begleitet mich ein Stück. Er wollte mit mir vor. Aber der Kompanieführer hatte es ihm abgeschlagen: Es ist genug, wenn ich einen von euch verliere. Nun geht er schweigend neben mir her in die diesige Dämmerung hinein. Wir reden nicht, das Klirren des Geräts und das Patschen der Stiefel ist der Laut, der unseren Gang begleitet.

Ich halte, er muß nun zurück. Er will mir noch was sagen, wie zum Abschied. Aber ich denke an seine wegwerfende Handbewegung im Stollen damals beim Großen Sturm. Und diese Bewegung fällt auch mir nicht schwer, ebensowenig das Lächeln der Geringschätzung gegen die Gefahr. Ich hatte von ihm gelernt.

Kein Lebwohl, kein Händedruck, es geht auch so.

Dann stapfen wir weiter. Als ich mich noch einmal umdrehe, ihn noch einmal zu sehen, da steht er noch an derselben Stelle und hebt langsam, zum Gruß, den Arm.

Hier, mit niederem Buschwerk bestanden, die Höhe. Wir halten, setzen das Gerät ab. Eine Bretterbude, durch deren Dach der Regen tropft. Der Wind wirft die aufgerissene Tür knarrend wieder zu.

Drinnen machen zwei ein Feuer, in einem alten durchlöcherten Blecheimer. Eine Bretterbank wird mit dem Spaten zerkleinert, eine Handgranate, ohne Stiel und Sprengkapsel, hineingestellt, ein brennendes Papier dazugeworfen, und zischend steht alles in Flammen.

Um das Feuer sitzen die regennassen Kameraden. Ich gehe hinaus, suche Schußfeld und Stellung für die Gewehre. Unten, feindwärts im Tal, stiegt ein zurückgelassenes Munitionslager in die Luft. Unter Krachen und Dröhnen fährt ein ganzes Feuerwerk von Flammen und Funken in den nachtschwarzen Himmel hinauf, weit im Umkreis brennen die Dörfer. Regen und Rauch, Wolken verfinstern den Himmel.

Jetzt bin ich allein, ganz allein. Der Freund mußte zurückbleiben und an Evelyn sollte ich besser nicht denken.

Wie die Dörfer brannten dort unten!

Naß, durchfroren, kam ich in die Hütte. Posten wurden eingeteilt. Schweigend saßen wir um das knisternde Feuer bis tief in die Nacht. Dann legten wir uns auf den nassen Bretterboden, schlugen die Zeltbahn über uns zusammen, so wie man die Toten begräbt.

Schüsse fallen draußen. Es wird Tag. Wir sind wach und frösteln. Überm Feuer wird für jeden noch ein halber Becher Kaffee gewärmt. Dann gehen wir hinaus, an die im Grünen verborgenen Gewehre. Nebel tropft auf die Blätter der Büsche. Es ist bitterkalt. Das Gewehr ist mit einem Hauch von Reif überzogen, eiskalt sind die metallenen Griffe.

Wir lauschen hinein in den Nebel, aus dem von weit her hin und wieder ein Schuß fällt. Noch einmal wiederhole ich: Keiner schießt vor dem Befehl! Keiner vor unserem Gewehr! Wir wollen sie heranlassen und überraschend das Feuer eröffnen.

Stunden vergehen so, nichts geschieht. Kommen sie heute gar nicht?

Der Nebel verteilt sich währenddem in wogende Schwaden, die sich schließlich als ein Gespinst von glitzernden Perlen über die Gräser legen. Die Sonne bricht durch, der Waldrand drüben glüht auf, der Herbstmorgen liegt klar und friedlich über der Erde.

Wohlige Wärme erfüllt mich. Die klammen Finger werden wieder beweglich, die Sonnenstrahlen trinken den Reif vom Mantel des Gewehrs.

Vor uns, im Feld, flattern zwei Hühner auf, als gäbe es hier keine Jäger. Es ist tiefster Frieden. Es ist nicht wahr, daß mich in der Heimat eine Frau verlassen hat, es ist nicht wahr, daß ich hier erschossen liegen werde, ehe diese Sonne sich neigt, ehe dieser Tag vergangen, daß die Stiefel der Feinde über mich treten, der es nicht mehr spürt, daß ich hier liegen werde, eine Kugel im Leib, reglos, ohne Atem, stumm und bleich, wie die andern Vielen, die ich so liegen sah, nun auch – tot.

Ein Hörnersignal klingt auf, wie der Hirschruf bei der Rotwildjagd. Sie kommen.

Wir kauern uns tiefer in die Deckung. Unsere Blicke brennen hinüber zum Wald, der Atem geht kürzer, stoßweise: sie kommen!

Die Zeit, die Minuten werden zur Qual, die unser schon sicheres Schicksal hinauszögern wie eine Flucht.

Endlich, dort am Waldrand, mit bloßem Aug zu erkennen, der Feind.

Die Helme, die Waffen blinken in der Morgensonne. Dunkle Ketten schieben sich heran, immer mehr, immer mehr. Das Herz klopft rasch, bis zum Hals hinauf, die Schläfen hämmern. Der Richtschütz neigt sich plötzlich ans Gewehr, nimmt Ziel an. Ich dränge ihn heftig zur Seite, um Gotteswillen, nicht schießen! Herankommen lassen, so nah wie möglich –

Die Spannung wächst unerträglich. Alle flüstern: Schieß doch, schieß!

Aber ich warte.

Schieß doch! sie überlaufen uns!

Jetzt stelle ich über Kimme und Korn den Lauf auf die erste Kette ein, gehe mit ihrem Vormarsch mit, senke den Lauf des Gewehrs, immer näher, immer näher heran. Gib Feuer, schieß doch, flüstern die Kameraden. Aber ich warte. Noch nicht, noch nicht.

Da hinten, wenn sie alle aus dem Wald sind, alle im Schußfeld –

Die Vordersten sind bald heran. Gehen sie mit? Stocken sie? Nein, sie kommen fast sorglos heran, sie wissen uns weiter zurück. 400, 200, 100 Meter – warten – schieß nicht, spreche ich mir vor – noch nicht –

80 Meter, 70 – noch nicht – noch nicht –

60 Meter – sie müssen uns sehen – schieß doch – schieß doch – Ja! Jetzt – Feuer!!

Wie ein Schrei zerreißt das harte Schlagen des Gewehrs die Stille. Die erste Reihe fällt, ich streue im Breitenfeuer zurück – die zweite, dritte Reihe, hin und her gleitet der Lauf des Gewehrs, kein Schuß geht verloren, alles torkelt, stürzt durcheinander, halbmannshoch über dem Boden fahren zischend die Kugeln in die Reihen, durch die Lücken zwischen den Vordersten in die Hinterherkommenden. Der Gegner ist so völlig überrascht, das Feuer sitzt so gut, daß Unzählige auf dem Feld liegen, ehe sie drüben begreifen, was geschieht.

Ich lasse ihnen keine Zeit, sich zu besinnen. Ich presse die Lippen aufeinander und drücke den Daumen auf den Abzugsbügel.

Da reißt das Feuer ab, Gurt durch, schreit der Schütze, hier, rasch, der nächste Kasten, und während wir den neuen Gurt einziehen, hören wir in rasender Freude das Feuer des andern Gewehrs. Und jetzt wir, fertig, durchladen, Ziel, Dauerfeuer –

Wir haben die Sonne im Rücken, sie im Gesicht. Nichts entgeht uns.

Dort, an dem Gebüsch, 400 Meter, versuchen sie ihr dreibeiniges MG in Stellung zu bringen. An der drüben aufspritzenden Erde sehe ich die Einschläge unserer Kugeln so – etwas höher – jetzt – schon mitten drin – sie jagen auseinander. Einer macht einen Satz in die Luft, plumpst herunter auf den Boden, bleibt liegen. Da, dort, noch ein paar Sprünge Einzelner, die Garbe jagt, erfaßt sie.

Und dann Ruhe, völlige friedliche Ruhe. Die Morgensonne scheint, genau wie vor einer Stunde, auf das betaute Feld.

Wir zählen die Gurte, die durchgeschossen, die Kasten, die wir noch haben. Ich erschrecke. Fast die Hälfte verschossen! Und keine Möglichkeit, Patronen vorzubekommen!

Die funkelnden Perlen an Zweigen und Gräsern vergehen, die Halme richten sich auf. Drüben rührt sich nichts mehr. Es wird Nachmittag.

Da plötzlich brechen ganze Haufen von Grauen drüben aus dem Waldrand hervor, stürzen in jagendem Lauf auf unsere Stellung zu.

Im Augenblick ist alles wieder brennend wach, alle Spannung, alle vibrierende Aufmerksamkeit ist hochgerissen. Sie kommen wieder, der Hauptangriff setzt ein. Jetzt werden sie uns erreichen, uns überrennen.

Sie haben ihre Feldartillerie schon über die zerstörten Straßen nachgebracht. Feindliche Geschütze beschießen die Anhöhe. Dumpfes Abschußgeräusch kündigt die Granaten an, die in heulender Flachbahn dicht hinter uns einschlagen. Dort, hinter uns, raucht, dröhnt, hebt sich die Erde in Feuer und Qualm.

Kaum mehr ausgeschwärmt, in dichten Haufen, laufen jetzt die Angreifer aus dem Walde gegen unsere Stellung vor. Aber wir jagen unsere Geschosse über sie hinweg, in den Waldrand hinein, in dem sich eben wieder neue Truppen entwickeln und in der ersten Verwirrung noch wie Kletten aneinanderhängen. Wie ein Wutgeheul klingt das Schreien der Getroffenen zu uns herüber. Dicht prasseln die Schleier unserer Geschosse in sie hinein.

Wir werden sie ja doch nicht aufhalten können, es sind zu viele. Bald werden sie uns haben, bald wird es so weit sein. Evelyn, hörst du meinen Ruf? Ach, mir selbst ist fast zum Heulen vor lauter Verzweiflung. Evelyn, denkst du jetzt an mich, jetzt in dieser Stunde letzter Gefahr? Schießen, weiterschießen, mitten hinein in die geschlossenen Gruppen der Gegner.

Wir schießen an die Bäume des Waldrands mannshoch über dem Boden hin, daß die von den Stämmen abfetzenden Querschläger in sie hineinfahren – schießen, nur schießen!

Evelyn, ob du spürst, wie ich dich rufe, wie ich mit allen Fasern meines Wesens an dich denke, wie sich mein Leben an dich klammert in dieser letzten Stunde!

Da laufen die vom im Feld schon gegen unsere Stellung an. Höchste Zeit, sie zu erfassen, die Geschoßgarbe in sie hineinzuschleudern, damit sie nicht weiter unser Feuer unterlaufen können! Mitten hinein! Wie hingemäht brechen die Haufen zusammenstürzen die Reihen durcheinander, preschen vor, auseinander, hier, dorthin, vergeblich Schutz suchend vor den genau sitzenden Garben unserer Gewehre. Töten, töten, hinschießen, alle die da kommen. Es ist wie ein Krampf, ich kann die Hände nicht mehr vom Gewehr lösen. Alle Bitterkeit, allen Jammer jage ich mit den Geschossen da hinaus, da hinein in die Reihen der Feinde. Es ist furchtbar, wie sie schreiend aufschnellen, zusammenstürzen, im Feuer sich überschlagen, Ungezählte, es zerrt und reißt an mir selbst, aber ich kann nicht anders, als töten – Ich schreie deinen Namen in das Knallen des Gewehrs, ich drehe den Lauf im Breitenfeuer hin und her, ich rufe hinein in den Lärm, der jedes Wort, jeden Klang, jeden Schrei in sich verschlingt, hörst du, Evelyn, hörst du, ich rufe dich, jetzt – – da brechen wieder ganze Reihen aus dem Wald hervor. Meine Garbe jagt sie zusammen zu stürzenden Haufen, es ist zum Irrsinnigwerden – warum hast du mir das angetan!

Evelyn!

Da klingen dumpf, weit in unserem Rücken, zwei Abschüsse, und, kullernd aus ausgeleierten Rohren, nahen sich zwei deutsche schwere Granaten, neigen sich über der Anhöhe dem Boden zu, singen kurz furchtbar auf und verstummen. Wir starren uns in die totenblassen Gesichter, und einer sagt in die Stille hinein: Die kommen. Wir erwarten, totenbleich, den Einschlag, und schon fährt unter dunklem Krachen zwei Meter vor und neben uns Eisen und Erde auf, überschüttet uns, die wir kaum noch Zeit hatten, uns an die lehmige Erde zu pressen, mit einem Hagel von Steinen und Splittern.

Wir sehen uns an, ungläubig, daß wir noch leben, atmen tief und erlöst auf. Aber schon wieder klingen dumpf da hinten die beiden Abschüsse. Auf dem Kirchturm soll ein Beobachtungsposten sein, sagt einer noch, wie zum Trost, als müsse der uns sehen, als müsse der wissen, daß wir nicht auf, sondern vor der Höhe liegen. Das Heulen nimmt seinen Lauf gerade wieder auf uns zu. Wir drücken uns flach an den Boden an, da saust die Bahn der Geschosse über uns weg, weiter vor, und schlägt in eine Kette von Feinden ein, die sich schon vor dem Einschlag, unter der Wucht des ankommenden Geräuschs geduckt zu bergen suchten. Mitten hinein schlagen beide Granaten, Körper, Fetzen fahren hoch in die Luft, fallen schwer auf den Boden herunter, schon ehe uns der Knall der Geschosse erreicht. Und nun schlagen Granaten auf Granaten in die Reihen der Feinde. Die Eigenen beobachten uns also, weit von dahinten, sie schicken uns ihre Hilfe vor, sie haben unser Häuflein da vorn nicht vergessen. Sie haben das Knallen unserer Gewehre gehört und sie wissen uns im Kampf mit der Übermacht, um unser kurzes bißchen Leben, das uns noch blieb.

 

Den Gegnern gelingt es, die Mulde zwischen unseren Gewehren ausnützend, das Feuer der beiden Nachbargewehre zu unterlaufen und an sie heranzukommen.

Sie sind herein! schreit auf einmal einer auf.

Wir erkennen eben noch die Gefahr. Es nützt nichts, wir können auf unsere Deckung keine Rücksicht mehr nehmen. Dort brechen sie schon herein. Wir fassen, zwei Mann, das ganze Gewehr samt Schlitten, werfen es offen aus der Deckung heraus, reißen es herum, und nun, im letzten Augenblick, jagen wir unsere Geschosse, überkreuzend mit den Nachbarn schießend, in die Mulde hinüber und hinunter. Erde spritzt auf, die Garbe erfaßt die Vordersten, die hineingeschleudert werden von dem überraschenden Feuer, jagt die anderen zurück, verfolgt sie, wirft sie nieder im Ansatz des Sprunges, zerschlägt sie und ihren raschen Angriff zu blutenden Klumpen.

Mit großer Tapferkeit aber gehen jetzt die Feinde, mit dem Mut einer Truppe, die den weichenden Gegner verfolgt und kein Halt mehr kennen will, auf unsere schwache Stellung vor. Hell klingen drüben Hörner auf. Offiziere stehen aufrecht in der Linie, suchen mit dem Glas unsere Stellung.

Sie haben uns erkannt. Mit Granaten decken sie uns ein. Splitter surren über uns, schlagen um uns her in die Erde. Da marschiert in Gruppenkolonne, als wäre es tiefster Friede, ganz rechts da drüben aus einer unversehrten Ferme heraus, eine Kompanie quer zu unserer Stellung in die Mulde herunter. Vorneauf ein Offizier zu Pferd. Wissen die nicht, daß wir seit über vier Jahren Krieg haben?

Herum das Gewehr. Jetzt ist es schon vollends gleich, gesehen haben sie uns ja doch, da wollen wir uns noch so teuer wie möglich verkaufen, ehe sie heran sind und uns ausheben.

Und da fängt dieser Trompeter zu blasen an! Es ist Zeit, sie aufs Korn zu nehmen; in ihre geschlossene Masse prasselt die Garbe. In wenigen Augenblicken rast ihre Menge auseinander, zerstreut und zerschossen von unserem Feuer. Nichts ist von ihnen übrig geblieben.

Es dämmert schon. Nun werden sie uns fassen können. Aber wir haben unser Tagwerk getan. Noch jagen wir unseren Gurt dahinüber, da ist auf einmal Schluß, und kein Kasten hat mehr Munition. Wir sind verschossen.

Und eben stürzt eine neue Kette, ein ganzer Haufen, über unser Gelände. Wir müssen sie herankommen lassen, haben keinen Schuß mehr, keine Patrone. So beginnt jetzt der letzte verzweifelte Nahkampf. Nun ist es so weit, Evelyn. Heraus jetzt aus der Deckung, Handgranaten, – da schiebt mit zitternden Händen ein Kamerad einen Gurt ins Gewehr. Er hat noch einen Kasten entdeckt, ganz unter Lehm und Dreck, einen ganzen Kasten Kugeln! Mit fiebernden Händen lade ich durch, und schon jagt der erste Schuß in die sinkende Dunkelheit hinein. Da ist es wie ein furchtbares Wunder. Wir erschrecken, als unsere Geschoßbahn phosphoreszierend aufglüht: ein Schwarm von feurig leuchtenden Geschossen jagt auf die dunklen Gestalten zu, die unsere Stellung schon fast erreicht haben. Fliegermunition!

Mit lautem Schreien stürzen die Gegner zurück.

Da aber rennt aus dem Gebüsch der Feldwebel, und schreit wie ein Irrer: Sie sind in unserer Stellung, sie sind herein, drüben beim andern Gewehr, Handgranaten, Handgranaten!

Wir reißen das leergeschossene Gewehr aus dem Schlitten, um wenigstens das zu retten, stürzen hinüber zu den Kameraden, wo Geschrei und Handgranatenknallen die Dunkelheit durchgellt.

Unter dem Krachen unserer Granaten weichen sie noch einmal. Nun ziehen wir selbst uns auf die Anhöhe zurück, um nicht umgangen zu werden. Munition haben wir keine mehr, unsere Granaten sind verworfen. Aber ehe wir uns auf die Kiesgrube zurückziehen, gehen wir, ein paar Mann, doch noch einmal vor in die Dunkelheit hinein. Wir wollen ihnen auch den Schlitten nicht als Beute lassen. Wir pirschen uns heran und holen ihn heraus. Dann erst machen wir uns auf den Weg, dem deutschen Vorfeld zu. Unbehelligt erreichten wir die Freunde, die uns jubelnd begrüßten.

Aber ihr Lautsein vermochte nicht einzudringen in die Stille und Trauer, in die ich versunken. Denn keine Siegesfreude, kein Lachen stieg in mir auf, keine klingende Lust am neugewonnenen Leben. Stumm war alles in mir, und abendmüde wie das dämmernde Feld, über das wir geschritten, so stumm fast wie die Vielen, die nun drüben vorm Vorfeld lagen statt meiner, stumm und reglos, die Toten des Tages.

Es ist schwer, töten, so töten zu müssen. Der Herr segne und behüte mich – hatte ich es nicht mit dem ersten Erwachen an diesem Morgen stumm und unbewußt in mich hineingebetet? Wohl, er hat mich behütet, er hat meinen Weg herausgeführt aus diesem Tag der Gefahr. Aber warum, Gott, schütztest du mich, wozu, wenn du mir Evelyn genommen? Ist sie nicht das Leben? Oder weißt du weitere Wege, ein ferneres Ziel? Ich kann und mag es nicht glauben. Und doch ist in allem Verzweifeln, durch alle Dunkelheiten hindurch dies Vertrauen in mir, unverlierbar und unausschöpflich wie die Schale eines Brunnens, dies Vertrauen zu allem Guten, und tief in mir klingt es auf, wie ein Kindergebet: Der Herr segne uns und behüte uns, und dann jene Schlußzeile des sonst vergessenen Verses: er wirds wohl machen ...

Wartete auf mich denn daheim eine Geliebte? Was sollte ich im Ausbildungslager in Deutschland! Ernst sollte gehen, das würde sich schon ändern lassen.

Der Kompanieführer, als ich ihm diese Bitte vortrug, meinte, das habe er sich schon gedacht, daß jeder von uns den andern begünstigen wolle, denn der Freund sei schon dagewesen, um für mich zu bitten. Im übrigen sei es Bataillonsbefehl, ich solle jetzt fahren, und er sei der nächste. Daß keiner von uns mehr zum Kurs kam, war vom Geschick schon bestimmt.

 

Unsere Monturen waren zerrissen, starrten vor Schmutz und Ungeziefer. Die Wäsche hatten wir Wochen nicht vom Leib gebracht. Unsere Kräfte waren zermürbt, unsere Zahl geschmolzen. Wir konnten nicht mehr. So wurden wir herausgezogen, um für ein paar Tage in Ruhe, seit Monaten zum erstenmal wieder ganz außer Gefecht zu kommen.

In einer regnerischen Nacht marschierten wir zurück. Die letzte Oktoberwoche war angebrochen.

Gegen Morgen wurde die Nacht klarer, Sterne kamen durch: der Wagen, die Kassiopeia. Ich marschierte schweigend in der Reihe mit.

Der Lichtkegel einer Lampe beleuchtete das an einen Baum genagelte Schild, das man abzunehmen nicht mehr die Zeit gehabt: Zum Divisionsstab! So weit zurück waren wir schon?

In den alten Bäumen des Parks sang der Nachtwind, bewegte die dunklen Wipfel vor dem fahlen Lichte des Himmels. In der Allee hielten unsere Wagen. Die dampfenden Pferde wurden ausgeschirrt, von den Fahrern versorgt. Wir standen herum und staunten. Vor uns hob sich aus dem nächtlichen Dunkel eine Brücke, ein Wassergraben, und dahinter, aus dem Schatten der Bäume, die Linien eines Schlößchens.

Hier würden wir bleiben, hier hätten wir Ruhe. In einer Scheune legten wir uns zum Schlafen auf den Bretterboden, den Tornister unter dem Kopf. Durch einen Spalt im Dach glänzte ein Stern. Ich faltete die Hände, küßte Evelyns Ring und schlief traumlos und tief.

 

In herbstlichen Farben prangte der Park. Niemals, nie noch war der Himmel von solcher Bläue gewesen. Die Morgensonne beschien die hellen Steine der Wege. Über den gepflegten Rasen spielte der Wind blutrote Blätter vom Ahorn, trieb sie vor sich her in den Graben, der im Geviert das Schlößchen umzog. Zwischen gelblichem Schilf schwammen breite Blätter von Seerosen. Rotes Laub hob sich im Wasser ab vom blauen Spiegel des Himmels.

Während wir die zerkratzten Leiber wuschen und die Wohltat neuer Wäsche spürten, öffneten sich die Flügeltüren des Mittelbaues, und heraus schritten, durch die sonnenbeschienene Allee, in fließenden Gewändern, Frauen, schritten an uns vorbei. Es war so, es war kein Traum, wir hörten sie sprechen und wir hörten sie lachen. War denn schon wahr geworden, was viele besprachen und alle erhofften, war denn schon Frieden? Es war doch noch Krieg, und gab es dies hier, Frauen in langen Gewändern, die über Parkwege, durch eine sonnenhelle Allee schritten? War das nicht Traum, nicht Täuschung unserer ausgehungerten Sinne?

Keiner wußte wie lange, keiner wagte danach zu fragen, aber wir würden hier bleiben, zwei, drei, vielleicht gar fünf oder acht Tage, hier, in diesem paradiesischen Park, hier, in der Nähe dieses Schlößchens, in dem Frauen wohnten, die tags über die Wege gingen, nachts wohl in weichen Betten schliefen.

Wir saßen auf der Mauer des Grabens, sinnend, rauchend. Dann legten wir uns davor in die Sonne, Ernst und ich. Ich legte die Hände unter den Kopf – seit jenem Mittag auf der Alb liebte ich es, so zu liegen – und schloß die Lider, durch deren Vorhang die Sonne purpurn eindrang und mir farbige Bilder vorspielte. Ihre Wärme lag auf dem Leib, drang ein in die Haut, machte alles leicht und schön. Alles war entspannt und gelöst, alles war Frieden, alles war Vergebung und Verstehen, alles war schön.

So schön, wie es niemals mehr werden konnte.

Ich schlief, und ich wußte es. Ich träumte, und ich war mir dessen bewußt, friedevoll und ruhig. Es war die Erfüllung dieser Stufe meines Lebens, es blieb nichts mehr zu wünschen.

Ein Schatten weckte mich. Der Freund stand vor mir:

Wieder vor! sagte er langsam, sie sind durchgebrochen.

Wir standen marschbereit bei unseren angeschirrten Gewehrwagen. Die Pferde stampften vor Unruhe, sie witterten, wußten die Gefahr.

Wir standen nebeneinander. Ernst lehnte mit dem Rücken am Stamm eines der alten Bäume, dessen Krone die Sonne umspielte. Wir besahen seine Blätter, sprachen darüber, was es wohl sei, eine Ulme vielleicht?

Des Freundes Blick ging nach oben in den Wipfel. Sein Gesicht war hell und leuchtend, wie verklärt. Eine feierliche Ruhe lag über ihm, fast eine Fröhlichkeit.

Nicht hadern mit Gott und seinem großen Gesetz. Dies aber, sagte er dann, gleichsam als Schluß einer stummen Zwiesprache, und sein Blick hob sich dabei hinauf über den Wipfel des Baumes, dies aber ist es, daß man sein Schicksal annimmt und glaubt, daß es gut ist.

Als die Signalpfeife erklang, die uns zu unseren Zügen rief, löste er sich groß und schön, in langsamer, ruhiger Bewegung, vom Stamm des Baumes.

Und dann, gleichsam als Weiterführung seiner Gedanken, so, als habe er sein Schicksal schon angenommen und es für gut befunden, fallen in die Unrast des Aufbruchs seine ruhigen Worte: Also lebwohl! Grüß meine Emi von mir, wenn du heimkommst!

Ehe ich ein Wort der Abwehr finden konnte, war er zu seinem Zug gegangen.

Der Befehl hieß uns stillstehen.

Wir rückten ab.

 

Dann, noch einmal, ehe ihn die grüne Welle des Abhangs verdeckte, sah ich ihn. Aufrecht, groß, führte er seine Gewehre zum Gegenstoß, mit dem schweren, guten Schritt, der ihn über das eigene Schicksal hinaustrug.

– – – – Mit drei frischen Regimentern, die der Feind auf unserem Abschnitt zusammengezogen hatte, und denen wir nur unsere gelichteten zusammengeschossenen Reihen entgegenstellen konnten, war ihm der Durchbruch gelungen. Hinter uns war die Leere, nichts, keine Aufnahmestellung mehr, keine Reserve.

Wir fingen die Reste der zurückgehenden eigenen Infanterie auf und nahmen sie wieder mit vor zum Gegenstoß, über den Bachgrund hinweg, gegen das Dorf, vor dessen Rand uns wütendes Feuer empfing.

Wir warfen den Feind zurück; als wir keine Munition mehr hatten, mit Bajonett und Spaten, schlossen die Lücke der Front, aber wir hatten schwere Verluste.

Ich lag mit unseren Gewehren an einem Hang, bereit zu weiterem Einsatz. Der Melder, der den Befehl zum Vorgehen brachte, rief es mir zu:

Dein Freund ist gefallen, Kopfschuß überm MG. Er war gleich tot.

 

Graue Dämmerung deckte das Land. Der Schmerz war zu groß, ich konnte ihn nicht fassen. Ich faltete die Hände um die zerrissenen Knie.

Nun bist auch du tot, Ernst, du, der mir der Freund war in allen Schlachten, der mir der Kamerad war in aller Not, der das Leben meisterte und es liebte.

Erne war tot!

In die wolkenverhangene Nacht hinein gehen wir vor. Dort, wo der Freund gefallen ist, wo er, noch weiter vorn am Feinde, liegen muß, dort gehen unsere Gewehre in Stellung. Ich werde ihn holen, heute nacht noch, ich werde ihn bergen, begraben, den Ring zurückbringen seiner Liebsten, wie wir besprochen.

 

In die Dunkelheit hinein krieche ich vor, bis ich dicht vor der feindlichen Stellung bin, presse mich flach an die Erde, hebe den Kopf, schaue mich um. Ich suche umsonst, ich finde ihn nicht, so viele liegen hier, ich muß zurück zu meinem Gewehr. Aber mit Tagesgrauen, bei erster Morgensicht, werde ich noch einmal vorgehen, ihn holen.

Starkes Feuer deckt uns zu, Granaten von vorn und MG-Feuer von der Flanke. Dicht über meinem Helm schlagen die Kugeln in die Erde. Wir ducken uns zusammen, halten aus, gehen nicht zurück, hören auf Abschuß und Einschlag der nahen Batterie, die sich auf uns einschießt, wir sind bereit, den Feind mit unserem Feuer zu empfangen.

Vor und hinter uns auf der Deckung, dicht um uns her schlagen die Granaten ein. Es wird nicht lange mehr dauern, so haben sie uns. Aber wir bleiben.

Mit hartem Knall flammt das blaue Licht der berstenden Granate auf. Gleichzeitig reißt mir ein heftiger Schmerz in den Arm. Das Blut schießt aus dem Ärmel, die Brust wird klebrig und heiß.

Es gelingt uns nicht, die Blutung zu stillen. Da muß ich zurück. Und vorne, dort vor mir im Dunkeln, liegt mein toter Freund.

Durch schweres Feuer fanden wir mit Mühe den Eingang in das Kellergewölbe. Der schwache Schein einer Karbidlampe durchdrang kaum die rauchige stickige Luft. Während über uns die schweren Granaten die Gebäude der Raperie zusammenwarfen, versorgten und verbanden zwei Ärzte die Verwundeten. Auf langem rohem Tisch lag ein nackter Körper, aus dem die Instrumente in der Hand des älteren Arztes Splitter um Splitter zogen. Der stöhnende, halbtote Mensch ward verbunden, von den Händen der Sanitäter mit weichen Bewegungen im Gewölbe gebettet. Und nun war ich dran, mein Arm wurde versorgt, ich durfte mich legen, und in tiefem Erschöpfungsschlaf sank ich auf dem nassen Stroh des Kellers zusammen.

 


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