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Deutsche Hiebe.

Als Herr Körner die Wagen erreicht hatte, sah er mit dem größten Unwillen, daß die Leute noch keineswegs zur Abfahrt bereit waren. Bei der hastigen Fahrt mit den schweren Wagen von Marienhof bis hierher waren die Tiere so angestrengt worden, daß Elias geglaubt hatte, sie ausspannen zu müssen, damit sie sich etwas erholen könnten. Den Ochsen war die Rast denn auch sehr willkommen. Sie lagerten zwischen den Grasbüscheln, die den Abhang des Hügels bedeckten, und ließen sich jetzt nur schwer bewegen, ihre Ruhe so schnell wieder aufzugeben.

Elias hatte sich zwar, als er die Zurufe hörte, alle Mühe gegeben, sie aufzuscheuchen und nach den Wagen zu treiben, und Philipp, den Herr Körner vorausschickte, um die Fuhrwerke zu holen, hatte ihm wacker dabei geholfen. Aber bei der Schwerfälligkeit und Widersetzlichkeit der Tiere und der Dunkelheit der Nacht verging doch eine geraume Zeit, bis man sie so weit brachte, daß sie sich wieder anschirren ließen, besonders da die anderen Leute genug damit beschäftigt waren, die anderen Tiere wieder auf die Beine zu bringen. Denn auch diese hatten die günstige Gelegenheit dazu benutzt, ein wenig zu grasen oder sich niederzulegen.

Unausgesetzt trieb Herr Körner zur Eile an. »Vorwärts!« rief er, überall selbst mit Hand anlegend. »Die Nacht ist bald vorüber! Was soll denn daraus werden? Helft vorn bei den Wagen, Peter, Johannes! Die Tiere werden schon von selbst mitlaufen, wenn wir erst im Gange sind. So haltet doch die Stange höher, Jungen! Vorwärts! Vorwärts!«

Mit Kaspars Hilfe waren endlich die beiden Wagen angeschirrt. Aber es waren doch an zehn Minuten darüber vergangen, und Herrn Körner dünkte diese Zeit eine Ewigkeit.

Bei dem Lärm wachte Frau Lerse auf.

»Was ist denn? Um Gottes willen! Was ist denn?« rief sie aufschreckend. Sie hatte in schwerem Traum gesehen, wie ihr Hof in Flammen stand und wie von allen Seiten die Herero in das zusammenstürzende Haus drangen, und starrte nun mit angstverzerrtem Gesicht in das Dunkel, unfähig, die Schreckgebilde des Traumes von der Wirklichkeit zu unterscheiden.

Aber die Männer hatten keine Zeit, sich um sie zu bekümmern, und Röschen war neben ihr so fest eingeschlafen, daß sie auch jetzt nicht erwachte. So saß die unglückliche Frau eine ganze Weile allein in der fürchterlichen Ungewißheit, bis Kaspar sie im Vorübereilen bemerkte und zu ihr trat, um sie zu beruhigen.

»So schlaf doch nur weiter, Mütterchen,« sagte er, ihr zärtlich die Hand streichelnd. »Es ist ja alles in Ordnung.«

»Aber was ist denn geschehen? Wo sind wir denn?« rief sie, ängstlich seine Hand umklammernd.

»Auf dem Wege nach Groß-Barmen sind wir,« antwortete Kaspar. »Wir haben nur ein bißchen Rast gemacht und ziehen jetzt weiter. Du kannst wirklich ganz beruhigt sein.«

Damit entzog er ihr seine Hand, streichelte die ihre noch einmal und lief dann weiter zu den Pferden, die über dem Rufen der Ochsentreiber und dein Geschrei der Weiber unruhig wurden und auszubrechen drohten.

Endlich war alles bereit. »Huiho!« schrieen die Treiber, mit ihren Stöcken und Spießen auf die Tiere einschlagend. Plötzlich zogen die Ochsen mit gewaltigem Ruck an, und fort ging es, aus der Niederung hinaus und die sanft ansteigende Höhe hinauf in südwestlicher Richtung den Bergen zu. Die kurze Rast hatte den Tieren doch wohlgetan, und da Herr Körner selbst sie unausgesetzt antrieb, kamen sie tüchtig vorwärts.

Nachdem der Zug im Gange war, hielt er sein Pferd an, ließ die Wagen und Herden an sich vorüber, wartete bis Kaspar herankam, der wieder mit Hiob die Nachhut bildete, und sagte, dicht an ihn heranreitend: »Ich denke, daß wir jetzt in einer halben Stunde die Kluft werden erreichen können und daß wir dort vorläufig sicher sind. Es scheint ja, daß Kamarinebo noch nicht auf uns aufmerksam geworden ist, obwohl es mir sehr bedenklich vorkommt, daß er noch nicht aus dem Hohlwege heraus ist. Jedenfalls müssen wir vorsichtig sein und dürfen ihn nicht aus dem Auge verlieren. Hast du hier hinten etwas Verdächtiges bemerkt?«

»Nein,« antwortete Kaspar. »Aber ich bin überzeugt, daß die Herero, die ich vorhin hinter dem Hügel sah, noch immer hier irgendwo herumschleichen.«

»Nun, die werden uns weiter nicht stören. Wenn du noch ein paar von meinen Leuten hier hinten reiten läßt, werden sie sich jetzt ebensowenig heranwagen, wie bisher. Ich möchte jedenfalls nach dem Hohlwege reiten, um die Bande Kamarinebos zu beobachten. Willst du inzwischen hier die Führung übernehmen?«

»Gewiß will ich das!« rief Kaspar freudig.

»Schön! Ich werde also einen Mann von meinen Leuten mitnehmen. Die anderen vier lasse ich dir hier. Aber sei vorsichtig. Die Herero sind schlau. Es ist immerhin möglich, daß sie uns auch hier schon ausgekundschaftet haben.«

»Dann werde ich auch mit ihnen fertig werden,« entgegnete Kaspar fest. »Seien Sie nur ganz beruhigt, Herr Körner; ich werde mich schon vorsehen.«

»Ich bin auch beruhigt, sonst würde ich dich nicht allein lassen; außerdem glaube ich sicher, daß sie nicht hier über das Gebirge, sondern durch den Hohlweg vorrücken werden. Also ich reite sogleich los; sobald ich es für nötig halte, schicke ich dir den Philipp, oder komme selbst zurück. Verfehlen können wir uns nicht, aber für alle Fälle magst du einen Mann von deinen Leuten am Eingang zur Kluft aufstellen. Verstehen wir uns in allen Punkten?«

»Jawohl!«

»Dann also: Gott befohlen! … Philipp!« rief er, indem er nach der Spitze zurückritt.

Sogleich kam der Gerufene heran. Er gab ihm schnell die nötigen Weisungen. Wenige Minuten später ritt er mit ihm nach dem Hohlwege davon, während Kaspar mit den Wagen und Herden so schnell als möglich die schützende Kluft zu erreichen suchte.

Aber sie hatten noch nicht viel über die Hälfte des Weges hinter sich, als Philipp in wildem Galopp zurückgesprengt kam.

»Herr Lerse! Herr Lerse!« rief er schon von weitem. »Sie kommen! Sie sind dicht hinter mir! Die ganze Bande! Herrn Körner haben sie abgeschnitten!«

Entsetzt hielten die Hütejungen die Ochsen an. Aber Kaspar trieb sie weiter.

»Vorwärts doch! Vorwärts! Kehrt euch nicht daran! Ich lasse jeden niederschießen, der Miene macht, davonzulaufen! Sucht so schnell als möglich nach der Schlucht zu kommen. Dort ist sie. Vorwärts! Vorwärts! – – Kommt hierher, Elias, Peter, Johannes! Steigt ab! Laßt eure Pferde im Zuge laufen! Holt die anderen! Alles, was Flinten hat, absteigen und hierher! – Alle hinter die Steine! Die Wagen fahren weiter! … Keiner schießt, bis ich's befehle!«

Im Nu waren die Befehle ausgeführt. In wilder Angst schlugen die Hütejungen auf die Ochsen ein. Einer machte Miene davonzulaufen. Aber sofort packte ihn Elias, der eben dabei war, von seinem Ochsen zu steigen, beim Genick.

»Willst du fortlaufen, du Feigling? Warte, das will ich dir eintränken!« schrie er und bearbeitete ihn so gründlich mit dem Gewehrkolben, daß ihm und allen anderen ein für allemal die Lust verging, sich aus dem Staube zu machen.

Ohne Aufenthalt, und noch schneller als zuvor, fuhren die Wagen weiter. Von dem Geschrei der Weiber geängstigt, trabten die Herden hinterdrein. Joel, der Bravste von den Hütejungen, dem Kaspar die Büchse des gefallenen Traugott anvertraut hatte, wurde bei dem Zuge belassen, mit der Weisung, daß er sofort schießen solle, sobald sie angegriffen würden.

Die anderen Schützen, es waren ihrer neun – Herrn Körners fünf Leute, Kaspar, Elias, Hiob und Gottlieb –, lagen im Halbkreis nebeneinander hinter großen Steinen, die sie gefunden oder in der Eile herangerollt hatten. Niemand hätte in der Dunkelheit etwas von ihnen sehen können. Schweigend, das Gewehr schußbereit an der Backe, lagen sie hinter der Deckung und erwarteten pochenden Herzens das Zeichen ihres Führers.

Aber einige Zeit verging, ohne daß sich etwas merken ließ. Wahrscheinlich hatte die Horde den Zug noch hinter dem Hügel vermutet und war zunächst dorthin geritten. Doch die Spuren der Wagen waren trotz der Dunkelheit unverkennbar. Sie mußten sie bald genug auffinden. Aber immerhin war etwas Zeit gewonnen.

»Wir müssen unsere Front verändern! Wahrscheinlich kommen sie jetzt von Osten und würden uns dann in den Rücken fallen,« flüsterte Kaspar. »Rückt schnell herum!«

Rasch wurden nun andere Deckungen gesucht, und bald lagen die Schützen in der neuen Stellung bereit. Aber wieder verging einige Zeit.

Plötzlich ließ sich – wirklich von Osten her – Pferdegetrappel vernehmen, aber nur ganz leise, kaum hörbar, nur dem in der Wildnis geschärften Ohr erkennbar; denn die Herero hatten, um sich nicht so bald zu verraten, die Hufe ihrer Pferde mit Grasbüscheln umwickelt und ritten auch nur langsam, um nicht allzusehr die Fühlung mit den hinter ihnen herlaufenden unberittenen Leuten zu verlieren.

»Achtung!« rief Kaspar leise.

Aber noch immer war nichts zu sehen. Dann tauchten, kaum fünfzig Schritt entfernt, hinter einer Erdwelle die ersten Reiter auf.

»Ruhe!« flüsterte Kaspar. »Keiner schießt, bis ich's befehle und bis er sein Ziel sicher vor dem Korn hat!«

Er wollte sie erst alle heraufkommen lassen, und da sie langsam ritten, war keine Gefahr, daß einer zu nahe herankommen und sie bemerken würde.

Mehr und mehr Gestalten tauchtet: aus der Tiefe auf, man hörte schon das Schnauben der Pferde, und endlich zeigten sich auch unberittene Krieger. In atemloser Spannung lagen die Schützen da. Hatte der junge Herr vergessen, das Zeichen zu geben? Hatten sie es überhört?

Plötzlich schienen die Herero die abziehenden Herden zu bemerken. Ein leiser Pfiff, und die ganze Horde fetzte sich in Trab.

Jetzt hielt Kaspar die Zeit für gekommen.

»Feuer!« rief er, und im nächsten Augenblick sausten die neun Kugeln mitten in die dichtgedrängte, nahe Reiterschar hinein, die ahnungslos mit der vollen Front gerade auf die Schützen zukam.

Die Wirkung war, wie Kaspar sich gedacht hatte, eine augenblickliche. Mit entsetztem Geschrei prallten die überraschten Reiter zurück. Mehrere fielen aus dem Sattel. Mit wildem Gewieher jagten verwundete Pferde davon. Die anderen sprengten, ihre unberittenen Gefährten über den Haufen rennend und mit sich fortreißend, heulend und schimpfend in toller Jagd nach allen Himmelsrichtungen auseinander.

»Schießen!« rief Kaspar wieder, und noch einmal feuerten alle Schützen, die Hinterlader trugen und Zeit gefunden hatten, zu laden, hinter den Fliehenden her.

Gleich darauf waren diese alle verschwunden, bis auf die Verwundeten, die stöhnend und jammernd ganz nahebei am Boden lagen.

»Auf!« rief Kaspar. »Sie werden sicher wiederkommen. Wir müssen uns immer dicht hinter den Wagen halten! … Also abgeschnitten haben sie Herrn Körner?« fragte er Philipp, während sie dem Zuge nachliefen, der schon längst in der Dunkelheit verschwunden war.

»Ja. Als wir herankamen, war nichts zu sehen. Herr Körner ritt voraus, um die andere Seite von dem Hohlweg zu untersuchen. Da kamen sie plötzlich heraus. Ich stand hier und Herr Körner drüben.«

»Also haben sie ihn gefangen genommen?«

»Das kann ich nicht sagen. Vielleicht ist er auch in die Berge entkommen. Ich bin dann gleich losgeritten, um Ihnen Nachricht zu bringen.«

»Eine dumme Geschichte! Wenn man ihm nur helfen könnte!« brummte Kaspar im Weiterlaufen vor sich hin. Er dachte an seine Schwester: was würde Röschen sagen, wenn sie das erfuhr!

Aber er fand nicht lange Zeit, hierüber zu grübeln; denn plötzlich hörten sie vom Zuge her einen Schuß fallen.

»Joel schießt!« rief Kaspar. »Gewiß hat sich der Beestezwinger herangemacht. Schnell jetzt! Vorwärts!«

Sie liefen, was sie laufen konnten. Endlich hörten sie an dem Geblöke der Tiere und dem Geschrei der Weiber, daß sie nicht mehr weit von den Herden sein könnten. Gleich darauf sahen sie diese auch, und mitten zwischen ihnen die Herero, die eben im Begriff standen, ihre leicht gewonnene Beute davonzutreiben.

»Schreit, was ihr könnt!« rief Kaspar. »Wir müssen Munition sparen. Ich habe nur noch sechs Patronen. Vielleicht gelingt es uns, sie so zu vertreiben.«

»Heu! heu! heiho!« schrieen nun alle neun aus Leibeskräften, und wirklich wurden die Herero stutzig. Sie hatten wohl bemerkt, wie die Schützen sich vorhin vom Zuge entfernten und wie dann drüben die Schießerei losging, und waren jetzt sehr erstaunt, sie so schnell zurückkehren zu sehen.

»Ein Teufel, dieser Buschläufer!« brummte der Beestezwinger. »Aber warte nur: einmal kriegen wir dich doch! Kommt, ehe sie schießen. Ich habe keine Lust, mir noch mehr Blei in die Knochen jagen zu lassen!« rief er seinen Leuten zu und war gleich darauf mit seiner ganzen Gesellschaft in der Dunkelheit verschwunden.

»Unheimliche Bande!« rief Kaspar ihnen nach. »Wenn man sie doch endlich einmal unschädlich machen könnte!«

Aber jetzt war keine Zeit, sich mit ihnen aufzuhalten. Wie lange konnte es dauern, dann kamen die anderen wieder, und ein zweites Mal würden sie sich nicht überraschen lassen. Mindestens mußten die Wagen in Sicherheit sein, ehe jene eintrafen.

Durch den Überfall des Beestezwingers waren die Herden wieder vollständig in Unordnung geraten; denn die Weiber und Hütejungen waren schleunigst davon gelaufen, und nur Joel hatte bei den Ochsen und Pferden ausgehalten. Mit seiner Hilfe wurden die Weiber jetzt wieder herangeholt. Hinter den Wagen, zwischen den Ochsen hatten sie sich verkrochen und kehrten nur zögernd auf ihren Posten zurück.

Endlich aber war die Ordnung soweit wieder hergestellt, daß die Herden weitergetrieben und wieder an die Wagen herangeführt werden konnten, die inzwischen den Eingang zu der Kluft erreicht hatten.

»Bleibt hier und deckt uns den Rücken!« rief Kaspar den Schützen zu. »Ich werde nach der Schlucht reiten und sehen, wo wir am besten unterkommen können.«

Der Eingang zu der Schlucht war ziemlich breit. Aber bald verengte sie sich mehr und mehr und bildete schließlich nur noch eine wenige Meter breite, etwa zehn Minuten lange Felsspalte, die, von scharfen, an fünfzig Meter hohen Wänden eingefaßt, in der Tat einen trefflichen Schlupfwinkel bot. Höchstens konnte man von oben her hineinschießen. Aber an der einen Seite waren die Felsen eine ziemliche Strecke weit so tief ausgewaschen, daß sie eine förmliche Höhle bildeten.

Hier war Platz genug für die beiden Wagen und die Herden, und nach dieser Stelle leitete Kaspar also den Zug, so schnell der mit Geröll bedeckte, enge Talgrund es gestatten wollte; denn er war stellenweise so abschüssig, daß die Wagen mehrmals Gefahr liefen, umzustürzen.

Von den heftigen Stößen des Wagens erwachte Frau Lerse wieder aus ihrem unruhigen Halbschlummer. Wo waren sie denn hier? Das war doch nicht der Weg nach Groß-Barmen! Ängstlich rief sie nach Kaspar und atmete erst auf, als sie seine Stimme neben sich hörte.

»Wo fahren wir hin? Ist der Vater noch nicht gekommen? Wo ist denn Körner?« fragte sie leise, um Röschen nicht zu wecken.

Kaspar suchte sie zu beruhigen, aber bei dem Namen ihres Verlobten wachte Röschen doch auf und fragte nun nach ihm. Da verließ sie Kaspar eilig. Er wollte nicht lügen, mochte ihr aber auch die Wahrheit nicht sagen. Wenn Herrn Körner etwas zugestoßen war, mußte sie es noch zeitig genug erfahren; er hoffte aber, daß der Schwager sich doch noch durchgeschlagen hätte und bald wieder zu ihnen stoßen würde. Wozu sollte er die Schwester unnötigerweise beunruhigen?

Er rief ihnen also zu, daß er keine Zeit habe und daß sie nur ruhig weiterschlafen sollten, übergab Joel die Aufsicht über die Wagen und die Herden und eilte nach dem Eingang der Schlucht zurück, um seine Leute für den zu erwartenden Angriff aufzustellen.

Schnell ließ er die breite Niederung so weit als irgend möglich mit großen Steinen verbarrikadieren und verteilte die Schützen dahinter. Um aber zu verhindern, daß die Feinde sich von der Seite heranschlichen oder ihnen gar in den Rücken fielen, ließ er die beiden anderen Damara und zwei von den Hütejungen, die jetzt hinten bei den Herden doch nicht viel nützen konnten, herbeiholen und versteckte sie hinter den Gebüschen, die rechts und links die Abhänge bedeckten.

So erwartete er den Feind und den Morgen, der sich am östlichen Himmel schon anzukündigen begann. Langsam schwand die Nacht, die sie bisher so gut beschützt hatte. Schärfer und schärfer hoben sich die schwarzen Wolkenfetzen, die das abziehende Gewitter zurückgelassen hatte, von der zunehmenden Helligkeit ab. Röter und röter wurden die freien Stellen, bis der ganze Horizont in purpurner Glut flammte, in die das zerrissene Gewölk wie die Fangarme eines gigantischen schwarzen Polypen hineinzugreifen schien: ein herrliches, wunderbares Schauspiel für den, der frei von Sorge den Morgen erwarten kann!

Aber vor Kaspars Augen verwandelte sich die purpurne Lohe in Blut, und die schwarzen Wolkenarme wurden zu feindlichen Ungeheuern, die drohend nach dem kostbaren Gute griffen, dessen Schirm und Schutz in seine Hand gegeben war. Die Nacht hatte sie verborgen, aber der Morgen würde sie verraten. Kampf bis zum letzten Atemzuge war jetzt die Losung.

Er selbst fürchtete ihn nicht; wenn er nur für sich selbst verantwortlich gewesen wäre, würde er sich auf ihn gefreut haben. Aber wenn er an Mutter und Schwester dachte, schlich doch ein banges Gefühl in sein Herz, und dieses Gefühl wurde umso stärker, je länger die Stunde der Entscheidung auf sich warten ließ …

Die Leute Kamarinebos hatten von dem unsanften Empfang, den Kaspar ihnen bereitet hatte, für eine Weile genug. In kopfloser Flucht waren sie nach allen Himmelsrichtungen auseinander gelaufen und fanden sich erst nach langer Zeit allmählich in der Nähe des Hohlweges wieder zusammen. Aber zwei von den Großleuten und drei Krieger fehlten und außerdem waren sechs Pferde verloren. Was würde Kamarinebo dazu sagen!

Ihre ganze Wut entlud sich nun zunächst auf Ismael, der sie zu dem verunglückten Unternehmen verleitet und sie dabei geführt hatte.

Wo ist der Spion, der elende Verräter!« schrieen sie. »Schlagt ihn tot! Er hat ganz gut gewußt, daß die Weißen dort versteckt lagen. Er hat uns mitten hineingeführt. Fangt ihn! Schlagt ihn tot! Schlagt ihn tot!«

Aber Ismael hatte sich schon gedacht, daß so etwas kommen würde. Er hielt sich, zum Davonjagen bereit, ein gutes Stück abseits und schimpfte nur von weitem: Sie wären feige Schakale, und wenn sie nicht gleich davongelaufen wären, hätten sie die Weißen leicht überwinden können. Er werde es ihrem Kapitän schon stecken, was für erbärmliche Wichte sie seien.

Mit wilden Drohungen stürzten die wütenden Großleute auf ihn los. Aber da sie abgestiegen waren, wurde es ihm leicht, auf seinem schnellen Pferde in der Dunkelheit zu entkommen. Bald gaben die Großleute die Verfolgung auf und kehrten zu den anderen zurück, um zu beraten, was nun zu tun sei.

»Laßt uns noch einmal angreifen. Der Schleicher hat trotz alledem recht. Wir hätten nicht gleich umkehren sollen. Das zweite Mal werden wir es klüger anfangen, und wenn wir dem Kapitän die Beute bringen, wird er uns nicht schelten,« meinte einer.

Aber er wurde überstimmt. Sie waren durch die unumschränkte Gewaltherrschaft, die Kamarinebo über sie ausübte, so sehr des eigenen Handelns entwöhnt, daß sie ohne ihn nichts mehr unternehmen wollten. So wurde denn beschlossen, den Häuptling zu wecken und ihn unter Verschweigen des verunglückten Angriffs und der Verluste zu veranlassen, den Deutschen nachzusetzen, die mit ihren Wagen und Herden noch nicht weit gekommen sein konnten und sich wahrscheinlich irgendwo in den Bergen versteckt hatten.

Aber während sie noch darüber verhandelten, wer den unbequemen Auftrag ausführen solle, kam Kamarinebo mit dem Rest seiner Leute schon den Hohlweg herabgeritten. Einer der Späher hatte ihm bereits die Kunde überbracht. Er wußte alles und fuhr zornig auf die Großleute los.

»Ich will euch lehren, Kamarinebo zu gehorchen!« brüllte er. »Wo habt ihr meine Pferde? Wo habt ihr meine Krieger? Schafft sie mir wieder, oder ich lasse euch die Ohren abschneiden, mit denen ihr nicht auf das gehört habt, was ich befahl!«

Dabei schlug er mit der dicken Rindslederpeitsche, die er immer am Sattelknauf mit sich führte, nach rechts und links auf die Großleute ein, die wie verprügelte Hunde die Strafe über sich ergehen ließen und sich in lautem Durcheinanderschreien damit zu entschuldigen suchten, der falsche Ismael habe sie dazu verleitet; sie hätten nur den Kapitän nicht wecken und ihn mit der schönen Beute überraschen wollen.

»Hehe! Ihr!« schrie Kamarinebo, unausgesetzt weiter prügelnd. »Seht ihr nun, was ihr ohne mich seid? Seht ihr nun, daß ich euer Kopf bin und euer Arm und daß ihr auf den Knieen vor mir liegen und danken müßt, wenn ich euch nicht alle aufhänge?«

»Ja, ja, wir sehen es, großer Kapitän!« heulten die Gemaßregelten. »An allem ist ja nur der Verräter schuld, der dich um die Beute betrügen wollte!«

Kamarinebos Wut richtete sich nun gegen Ismael. Er schwur, daß er ihn eigenhändig aufknüpfen werde, und befahl, ihn augenblicklich herbei zu schaffen. Doch wenn die Großleute diesen Befehl hätten ausführen wollen, hätten sie weit laufen müssen; denn Ismael bezeigte zunächst keine Lust, mit dem ungeschlachten Riesen wieder zusammen zu kommen.

Als er einsah, daß sein schöner Plan so elend ins Wasser gefallen war und daß er selbst jedenfalls leer ausgehen würde, selbst wenn es noch gelingen sollte, den Buschläufer zu fangen, war sein erster Gedanke, nach dem verlassenen Marienhof zu reiten, wo er nun nach Herzenslust würde plündern können. Dann aber überlegte er, daß sich wahrscheinlich dort jetzt nicht mehr viel holen ließe, und daß es vielleicht zweckmäßiger wäre, hier zu bleiben und wenn möglich im Trüben zu fischen. Vielleicht fand sich doch noch eine Gelegenheit, etwas zu erwischen und vor allem Kamarinebo um die Beute zu bringen, die er ihm nie gegönnt hatte und die er ihm jetzt erst recht mißgönnte.

Er wandte also sein Pferd wieder und ritt in der Richtung, in der er vorhin die Herden hatte fortziehen sehen, nach dem Gebirge zurück. Schon war er ein ziemliches Stück über die Stelle hinweg, auf der kurz zuvor der Kampf stattgefunden hatte, als er plötzlich eine riesige Gestalt vor sich aus dem Dunkel auftauchen sah. Mit Entsetzen erkannte er den Beestezwinger und wollte rasch sein Pferd herumreißen, um sich aus dem Staube zu machen. Aber schon hatte der flinke Mensch das Tier beim Zügel gepackt, daß es sich wiehernd hoch aufbäumte.

»Aus dem Wege!« schrie Ismael, »oder ich reite dich nieder!«

»Du mich niederreiten?« brüllte höhnisch der Beestezwinger. »Das werde ich dir eintränken! Hab' ich dich endlich, du falscher Gauch? Warte! Jetzt wollen wir Abrechnung halten! Wo ist der Branntwein, den du uns versprochen hast? Und der Tabak und die Beeste? Hast du andere herbeigeholt, damit sie uns die Beute fortnehmen? Jetzt halte dein Wort, oder du sollst uns kein zweites Mal an der Nase herumführen!«

»Holt euch die Beute selber! Warum seid ihr so dumm und so feige?« versetzte Ismael, ängstlich bemüht, sein Pferd freizubekommen.

Doch im nächsten Augenblick hatte der Beestezwinger ihn beim Bein gepackt und aus dem Sattel geschleudert. »Sind wir schon dumm und feige – mit dir werden wir wohl noch fertig!« knirschte er und stürzte sich, seine Keule schwingend, auf ihn.

Aber Ismael hatte Zeit gefunden, sich aufzuraffen. Er schlüpfte unter dem Keulenschlage durch und verschwand gleich daraus in der Dunkelheit. Mit wütendem Geschrei die Gefährten herbeirufend, stürmte der Viehhüter hinter ihm her.

Bald holten sie den Kapitänssohn ein, und nun machte der Beestezwinger wahr, womit er so oft gedroht hatte. Mit gewaltigem Schwünge ließ er seine Keule auf den Kopf des am Boden Liegenden niedersausen. Lautlos sank Ismael zurück, während der Beestezwinger mit seinen Leuten nach seiner Werft zurücklief …

Inzwischen hatte Kamarinebo sich ausgetobt und war in der Richtung, die ihm die Großleute bezeichneten, hart am Fuße des Gebirges hin nach Süden davon gezogen. In seinem durch die Kriecherei seiner Leute bis zur fixen Idee gesteigerten Selbstbewußtsein war er überzeugt, daß er die Deutschen jetzt bereits durch die niederschmetternde Tatsache seiner Anwesenheit im Handumdrehen würde vernichten können.

siehe bildunterschrift

Im nächsten Augenblick wurde Ismael vom Beestezwinger aus dem Sattel geschleudert.

»Wo sind die Weißen?« rief er mit einer Miene wie der Riese Goliath, als er dem kleinen David gegenüberstand. »Zeigt mir, wo sie sind. Mit meinen Fäusten werde ich sie zu Brei schlagen!«

Ohne Vorsichtsmaßregeln ritt er am Gebirge hin, bis einer der Großleute sich ein Herz faßte und es wagte, ihm auf mancherlei Umwegen beizubringen, daß die Deutschen sie vorhin auf diese Weise überrascht hätten, daß sie auch jetzt wieder irgendwo hinter den Steinen liegen und unverhofft losschießen könnten und daß es deshalb doch wohl besser wäre, sie stiegen von den Pferden, schickten Späher voraus und gingen etwas vorsichtiger auf ihr Ziel los.

Kamarinebo war anfangs empört über diese Zumutung. Er, und vom Pferde steigen! Er, und den Feind beschleichen, einen solchen Feind! Feige Schakale wären sie und hätten keine Ahnung, wie ein tapferer Ovaherero dem Gegner gegenübertreten müsse. Sie verdienten gar nicht, daß er sie mit sich gehen und teilnehmen lasse an seinem Siege. – Nach einiger Zeit aber begannen die Steine, die überall Herumlagen, auch ihm immer verdächtiger zu erscheinen, und als dann gar sein Pferd vor dem Leichnam eines der vorhin Gefallenen scheute und seine Leute ihm an Ort und Stelle mit vieler Übertreibung schilderten, wie groß die Zahl der Deutschen sei und wie schrecklich oft und sicher sie aus dem Versteck geschossen hätten, fing auch sein großes Herz an, unter der breiten, blutroten Schärpe etwas verzagter zu klopfen.

Er ließ halt machen, stieg ab, hieß die Pferde zurückführen, schickte eine große Anzahl Späher voraus und hielt es nicht mehr unter seiner Würde, sich sehr langsam und sehr vorsichtig von Deckung zu Deckung am Fuße des Gebirges vorwärts zu schleichen. Ja, nachdem es etwa zehn Minuten so fortgegangen war, ohne daß sich irgend etwas von den Deutschen sehen oder hören ließ, hielt er es sogar für angemessen, den Vormarsch überhaupt zu unterbrechen und abzuwarten, bis die Späher zurückkämen.

Aber die ausgesandten Leute kamen und kamen nicht wieder, so viel er auch zankte und schimpfte, und als endlich einer erschien, wußte er nur zu melden, daß sie bis jetzt von den Wagen und Herden nichts hatten entdecken können. Es war das auch kein Wunder; denn nach den Erfahrungen von vorhin hatte sie eine solche Angst erfaßt, daß sie sich gerade nur soweit vorwagten, als durchaus nötig schien, um sich ihrem Kapitän nicht zu verraten. Bis zu dem Eingang der Schlucht war keiner vorgedrungen. Erst als die Dämmerung anbrach, entdeckte einer die Schützen, die vor der Schlucht hinter ihren Steinen bereit lagen, und lief eilig zurück, um es Kamarinebo zu melden.

»Seht ihr wohl!« rief der Häuptling, sich mit selbstgefälligem Lächeln in die Brust werfend. »Ich wußte ja, daß sich die Feiglinge irgendwo in den Bergen verkriechen würden. Aber jetzt wollen wir sie hervorholen … Habt ihr gesehen, wie viele es sind?« fragte er aber dann in weiser Vorsicht.

»Oh! Wohl an die dreißig!« antworteten die Späher mit sehr bedenklichen Gesichtern. »Das ganze Tal ist voll von ihnen, und alle haben sie Flinten!«

»An die dreißig, ihr Narren?« brüllte Kamarinebo sie an. »Seid ihr betrunken, daß ihr alles doppelt und dreifach seht? – – Aber wenn es ihrer auch hundert wären!« fügte er dann prahlerisch hinzu. »Wir werden über sie herfallen, daß ihnen die Lust vergehen soll, zu schießen. Heiho! Vorwärts!«

Mit drohender Miene seine Büchse schwingend, zog er voran, überlegte es sich aber doch bald anders und bog in das Gebirge ab, um zu versuchen, von hinten her, wo nicht dreißig Büchsen zu seinem Empfange bereit waren, in die Schlucht zu gelangen. Doch soviel sie auch zwischen den wildzerklüfteten Felsen herumkrochen, den ersehnten Pfad fanden sie nicht. Es war nicht einmal etwas zu sehen, und als sie endlich doch mit vieler Mühe in eines der vielen Täler hinabgeklettert waren, fanden sie es leer und ohne jede Spur von Wagen oder Herden.

So entschloß sich Kamarinebo denn wohl oder übel, endlich die Sucherei aufzugeben, nach dem Fuß des Gebirges zurückzukehren und sich von vorn her mit möglichster Vorsicht an die Deutschen heranzuschleichen …

Mehr und mehr hellte es sich auf. Bleich und bleicher wurde im Osten der Himmel. Die lodernde Glut verblaßte, die schwarzen Wolkenarme begannen sich mehr und mehr vor der nahenden Sonne zurückzuziehen. Der Tag brach an. – Was wird er uns bringen? dachte Kaspar. In banger Ungewißheit kniete er nieder, um zu beten. Alle folgten seinem Beispiel. Leise trug der weiche Morgenwind ihre heißen Wünsche empor zu dem, der auch in dieser Not über ihnen wachte.

»Amen!« sagte Kaspar fest und sprang auf. Es war, als habe das Gebet alle Sorge und Bangigkeit von ihm genommen. Ja, komme, was da wolle, Gott würde sie nicht verlassen! Gern hätte er sich einmal nach Mutter und Schwester umgesehen. Sie waren es ja doch nur gewesen, für die er sich sorgte und bangte. Aber eine Ahnung sagte ihm, daß er jetzt seinen Platz nicht verlassen dürfe. Zu unheimlich dünkte ihn die Stille rings umher. Es lag etwas in der Luft wie nahende Gefahr. In der Wildnis schärfen sich die Instinkte, und der seinige hatte ihn nicht getäuscht.

Plötzlich raschelte es links oben am Abhang in den Gebüschen. Im ersten Augenblick dachte er, daß es Herr Körner sei. Aber der Wunsch war der Vater dieses Gedankens.

»Werda?« rief er.

Keine Antwort.

»Werda?« rief er wieder. »Antwort, oder ich lasse schießen!«

Wieder blieb alles still, nur hörte man wieder das Rascheln der Büsche, und zwar jetzt an verschiedenen Stellen.

»Auf! Alles dorthin, dicht unter die Felswand!« befahl er.

In diesem Augenblick krachten von oben her die Schüsse, aber Kaspars Leute hatten gerade noch Zeit gefunden, sich in Sicherheit zu bringen. Nur der eine von den Damara, der dort lag, um aufzupassen und eine Umgehung zu verhindern, aber schon vor längerer Zeit eingeschlafen war, wurde getroffen und rollte den Abhang hinunter, während der andere Damara und die Hütejungen schleunigst in die Berge entliefen.

Grimmig stand Kamarinebo oben am Rande des Felsens, der so steil abfiel, daß es unmöglich war, an ihm hinabzukommen. Mit großer Vorsicht hatte er alle seine Gewehre herangezogen und sich soviel auf diese Kriegslist eingebildet. Und nun dieser Erfolg! Aber er hatte dabei doch erkannt, daß seine Späher die Zahl der Deutschen bei weitem übertrieben hatten. Dreißig Männer? Keine zehn waren es. Und mit denen hatte er so viele Umstände gemacht?

Wütend und auf die Späher schimpfend, kletterte er den Abhang hinunter, versammelte unten alle seine Leute und brach gleich darauf mit wildem Geschrei los, am Abhang scharf um die Ecke biegend und den ganzen Taleingang mit seiner Horde überflutend.

Aber schon hatte Kaspar sich vorgesehen und seine Leute weiter hinten in der Schlucht in einer neuen Stellung untergebracht.

»Feuer!« rief er jetzt, und wieder taten die neun Kugeln ihre Schuldigkeit. Ja, Kamarinebo schien selbst verwundet zu sein; denn er hielt plötzlich im wildesten Vorwärtsstürmen inne, taumelte, sich nach der linken Schulter fassend, zurück und verkroch sich gleich darauf hinter einem Stein.

Auch die anderen Herero suchten sich inzwischen Deckungen, und ärgerlich bemerkte Kaspar, wie ihnen jetzt die Steine zu statten kamen, die er vorhin zum Schutz für seine Leute hatte über den Weg rollen lassen.

Ein paar Augenblicke waren die Angreifer ruhig. Um die Munition zu schonen, hatte Kaspar nicht noch einmal schießen lassen. Jede Kugel mußte jetzt sitzen; denn sie hatten nicht allzuviele mehr zu versenden, und wenn die Munition ausging, was sollte dann werden? Er hatte deshalb befohlen, bis auf weiteres nur zu schießen, wenn er sie es heißen würde.

Die Herero andererseits brauchten einige Zeit, um sich von der unangenehmen Überraschung zu erholen; dann aber fingen sie umso toller zu knallen an, ohne jedoch weiteren Schaden damit anzurichten, als daß die Tiere hinten in der Schlucht bei dem in der engen Felskluft unheimlich widerhallenden Geknatter unruhig wurden.

Eine Weile ging das so fort, bis Kamarinebo, der wirklich einen Streifschuß an der linken Schulter erhalten hatte und in seinen Schmerzen von doppelter Wut gegen die Weißen erfüllt war, die Geduld verlor.

»He!« rief er dem neben ihm in Deckung liegenden Großmanne zu. »Nimm zehn Mann mit Flinten mit dir und versuche noch einmal, von oben her an sie heranzukommen. Sobald ihr sie treffen könnt, schießt; ich werde mich dann mit den anderen von hier aus auf sie werfen und sie zu Brei stampfen.«

Vorsichtig kroch nun der Großmann mit zehn Kriegern, die in seiner Nähe lagen, hinter den Steinen ein gutes Stück zurück und schlich sich dann, so weit vom Rande entfernt, daß man sie von unten nicht sehen und auch das Rascheln der Büsche nicht hören konnte, den Abhang hinan, bis zu einer Stelle, von wo aus er glaubte, den unten liegenden Deutschen in den Rücken feuern zu können.

Plötzlich ging das Geschieße von oben her los. Eine Kugel fuhr Elias, der am weitesten rechts lag, durch die Hutkrempe, eine andere schlug dicht neben Philipp ein und hätte ihn unfehlbar getroffen, wenn er sich nicht gerade zu seinem Nachbar gebogen hätte, um ihm ein paar von seinen Patronen abzugeben. Aber glücklicherweise lief nur der äußerste rechte Flügel Gefahr, während die übrigen durch die Felswand gedeckt waren.

»Schnell mehr nach links!« rief Kaspar, der die Lage sofort erkannte. Ehe die oben noch wieder laden konnten, war die bedrohte Stelle geräumt.

Aber schon stürmte von vorn her Kamarinebo mit seiner Hauptmacht heran.

»Schießt!« rief Kaspar. »So schnell ihr könnt! Jetzt gilt's das Leben!«

Die Schützen zielten in dieser bedenklichen Lage nicht mehr so sicher als bisher, aber immerhin fielen zwei von den Feinden, während die übrigen schleunigst umkehrten und sich wieder hinter den Steinen verkrochen. Nur Kamarinebo stürmte noch vorwärts. Als er aber sah, daß er allein blieb, zog auch er es vor, sich in Sicherheit zu bringen. Schimpfend lief er zurück, während die Kugeln, die Kaspars Leute hinter ihm her sandten, um ihn herum pfiffen.

So war denn auch dieser Angriff glücklich abgeschlagen. Aber immer knapper wurde die Munition, immer größer die Gefahr, daß die tapferen Verteidiger ihr Heil in einem Handgemenge würden suchen müssen, und dessen Ausgang konnte bei der großen Übermacht der Feinde nicht zweifelhaft sein.

»Herr! Elias nicht mehr schießen. Patronen alle,« flüsterte der wackere Mann Kaspar zu, auch Gottlieb und Hiob meldeten sich mit der gleichen Klage.

»Ich habe selbst nur mehr zwei. Noch ein solcher Angriff, und ich bin ebenfalls zu Ende.«

Glücklicherweise hatten sich Körners Leute noch nicht ganz verschossen. Die Patronen wurden nun verteilt, aber es kamen doch nur drei auf jeden.

Inzwischen hatten die oben liegenden Herero munter weiter geknallt und auch von vorn her wurde unausgesetzt geschossen, da kamen plötzlich drei wild gewordene Stiere schnaubend und brüllend, die Hörner zum Stoß gesenkt, aus der hinteren Kluft hervorgestürmt, gerade auf die hinter den Steinen liegenden Schützen los. Trotz des heftigen Feuers mußten diese aufspringen, um nicht niedergestampft und aufgespießt zu werden. Im letzten Augenblick gelang es ihnen, sich in Sicherheit zu bringen. Aber von einer Hererokugel in den linken Arm getroffen, sank Johannes, einer von den Leuten Körners, ohnmächtig zusammen. Auch einer von den Stieren wurde von den Herero, die die Gelegenheit benutzten, getroffen. Mit furchtbarem Gebrüll brach er dicht vor den Steinen nieder, während die beiden anderen weiter stürmten, Kamarinebos Leute auseinanderjagten und draußen in der Ebene verschwanden.

Wutentbrannt sprang Kamarinebo auf.

»Vorwärts!« schrie er. »Schlagt sie tot! Ich schieße jeden nieder, der zurückbleibt!«

Die Herero zögerten, durch den unverhofften Angriff der Ochsen noch mehr eingeschüchtert.

»Jetzt gilt's!« rief Kaspar. »Schießt! Sie dürfen uns nicht auf den Leib rücken!«

Ohne erst wieder in Deckung zu gehen, drückten die Deutschen ab. Johannes, der sich inzwischen wieder erholt hatte, raffte sich trotz des Schmerzes auf und begann, gegen den Felsen gelehnt und das Gewehr mit der rechten Hand allein haltend, zu feuern; und so sicher war die Wirkung, daß die verwirrten Herero nicht wußten, ob sie ihrem Kapitän folgen oder davonlaufen sollten.

Aber schwächer und schwächer wurde das Feuer der Deutschen. Mit stillem Entsetzen bemerkte Kaspar, wie einer der Seinen nach dem anderen sich verschoß.

Und immer aufs neue trieb Kamarinebo seine Leute an. Um sich zu verstärken, hatte er auch die oben feuernden Krieger wieder herunterholen lassen. In dichten Haufen drängten sie sich jetzt zögernd heran.

»Die Messer heraus!« schrie Kaspar, warf die Flinte zu Boden und nahm den Revolver zur Hand. »Keiner weicht zurück!«

In ingrimmiger Wut gehorchten die Leute. Entschlossen bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, standen sie bereit, während Kamarinebo schon mit den ersten Kriegern heranstürmte. Die Keulen und Spieße schwingend, stürzte sich die wilde Horde unter ohrenbetäubendem Geheul auf das kleine Häuflein, das, den sicheren Tod im Auge, in verzweifelter Entschlossenheit den letzten Kampf erwartete.

In diesem schrecklichen Augenblick kam von draußen her mit stürmischem »Hurra!« eine Reiterschar angesprengt.

»Der Vater! Vorwärts! Hurra!« rief Kaspar in befreiendem Jubel und eilte mit den Seinen dem Feinde entgegen …

Nachdem er Marienhof verlassen, war Herr Lerse mit feinen zehn Reitern so schnell geritten, als die Pferde nur laufen wollten. Aber der Morgen kam doch heran, bis er den Hohlweg erreichte. Eben wollte er in diesen einreiten, als er von Süden her Schüsse zu hören meinte.

Er ließ halt machen und lauschte. Kein Zweifel: dort drüben wurde geschossen. Aber wer konnte hier in dem verlassenen Gebirge schießen, wo weit und breit kein Gehöft, keine Werft lag? Sollten das die Seinen sein, die unterwegs von den Herero überrascht, in eine der Schluchten geflüchtet waren? Aber wenn sie es nun nicht waren, wenn sie vielleicht wo anders in Not nach Hilfe bangten? Ließ sich der Aufenthalt rechtfertigen?

Einen Augenblick überlegte er, aber dann kommandierte er entschlossen: »Links schwenkt, marsch! Trab!«

Plötzlich sahen sie, am Fuße des Gebirges hinreitend, einen Reiter in großer Hast von den Bergen herabkommen; er winkte schon von weitem und rief: »Herr Lerse! Herr Lerse!«

siehe bildunterschrift

Jubelnd stürzte Kaspar auf den Vater zu.

Sogleich erkannte ihn Herr Lerse. Herr Körner war es, der, vorhin glücklich entkommen, auf großem Umweg um das Lager Kamarinebos herumgeritten und jetzt im Begriff war, die Wagen aufzusuchen.

Schnell unterrichtete er Herrn Lerse, und in gestrecktem Galopp brausten sie nun südwärts der Schlucht zu. Unterwegs trafen sie die Krieger, die Kamarinebo mit ihren Pferden zurückgelassen hatte. Sie wurden über den Haufen gerannt. Wenige Minuten noch, dann sahen sie die Herero vor sich, die eben daran gingen, in die Schlucht hineinzustürmen.

Schnell schwenkte Herr Lerse etwas nach links ein, um unmittelbar hinter die Feinde zu kommen, die in ihrer Erregung gar nicht bemerkten, was sich hinter ihnen abspielte. Dann ließ er einen Augenblick halt machen, um seine Leute zu sammeln, zog den Säbel aus der Scheide und rief: »Zur Attacke! Marsch, marsch! Hurra!«

»Hurra!« klang es aus elf Kehlen wieder; was die Pferde laufen wollten, stoben die Reiter auf die Feinde ein, alles niederwerfend, was sie erreichen konnten.

Ein wildes Handgemenge folgte.

Die überraschten Herero, von zwei Seiten bedrängt, waren anfangs so verblüfft, daß sie wie eine aufgescheuchte Hammelherde durcheinander liefen und sich kaum zur Wehr setzten. Dann suchten die meisten zu entkommen. Nur wenige machten von ihren Spießen und Keulen Gebrauch, bis auch sie überwunden waren.

Wenige Minuten später war kein kampffähiger Herero mehr in der Schlucht. Wer irgendwie noch konnte, hatte versucht, in die Berge zu entkommen, darunter Kamarinebo.

Von den Reitern war keiner ernstlich verwundet, nur drei hatten leichtere Verletzungen davongetragen, und auch Kaspar trug von einem Spieß eine blutige, aber ungefährliche Schramme an der Stirn.

Jubelnd stürzte er auf den Vater zu, der sich vom Pferde zu ihm niederbeugte und ihn mit Tränen in den Augen auf die verwundete Stirn küßte.

Aber jetzt war keine Zeit, um Wiedersehen zu feiern.

Weiter hieß es, ehe die Feinde sich wieder sammeln und ihnen etwa den Hohlweg verlegen konnten. Und bis Mittag mußten sie in Groß-Barmen sein, so lautete Herrn Lerses Auftrag und das hatte er in Windhuk dem Hauptmann versprochen.

Schnell wurden die Gefallenen beiseite geschafft und hinter die Büsche getragen, damit die Frauen durch ihren Anblick nicht erschreckt würden. Dann wurde auch der Weg von den Steinen gesäubert, und während vorn Johannes, Kaspar und die anderen Verwundeten verbunden wurden, eilte Herr Körner mit der Freudenbotschaft, daß Herr Lerse da und alle Gefahr vorüber sei, in die Kluft, um die Wagen und Herden herauszuholen.

Kurze Zeit später verließ der ganze Zug die Schlucht, in der noch eben der Todesengel mit drohender Gewißheit über ihnen allen geschwebt hatte.

Frau Lerse hatte bei der Freudenbotschaft die Besinnung verloren, ihr von den vielen Sorgen und Aufregungen der letzten Tage zerrütteter Körper besaß nicht mehr Kraft genug, um dieses Glück zu ertragen. Aber als Herr Lerse jetzt zu ihr ritt, sich zärtlich über sie niederbeugte und rief: »Marie! Marie!«, da erwachte sie wieder, und ein stummer Händedruck sprach alles aus, was in diesem Augenblicke in den Herzen der beiden Gatten vorging.

Ohne weiteren Aufenthalt erreichten sie noch vor der Mittagsstunde Groß-Barmen. Nun ließ Herr Lerse die Seinen in Körners Obhut zurück und ritt mit seinen Reitern zur Station. Aber als er vom Pferde steigen wollte, um dem befehlhabenden Offizier die Meldung zu machen, brach er ohnmächtig zusammen. Als der Arzt ihn im Lazarett untersuchte, fand er die Wunde weit aufgerissen und das ganze Bein dick angeschwollen, so daß man den Stiefel vom Fuße schneiden mußte.

»Mann! Wie konnten Sie das nur tun!« rief ihm der Arzt zu, als er endlich wieder zur Besinnung kam.

»Wie ich das tun konnte?« antwortete Herr Lerse mit befriedigtem Lächeln. »Herr Stabsarzt, ich habe damit im letzter: Augenblick die Meinen retten können und als Soldat meine Schuldigkeit getan!«


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