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Endlich, nach zehnmonatlicher Pause, hatte es in dem kleinen Seitentale des Swakopflusses, halbwegs zwischen Otyikango (Groß-Barmen) und der Bahnstation Okahandja, wieder einmal ordentlich geregnet. Plötzlich war es losgegangen, nachdem es tagelang von Westen her vergeblich gedroht hatte, und zwar gleich so tüchtig, daß nach kurzer Zeit sogar der Fluß »abgekommen« war. Schnell hatte sich eine gelbliche Flut das Flußbett hinabgewälzt, das sonst wie eine trostlose Sandwüste dalag und erst mehrere Meter unter der Erde so viel verborgenes Naß mit sich führte, daß an einzelnen Stellen Wasserlöcher zum Tränken der Rinder gegraben werden konnten. Stärker und stärker war die Flut dahergekommen, bis schließlich ein richtiger wilder Gebirgsstrom das Flußbett ausgefüllt hatte.
Heute war nun allerdings von diesem rauschenden Flusse nichts mehr zu sehen. Über Nacht war er in der sandigen Tiefe verschwunden, und nur einzelne Tümpel waren an den tieferen Stellen von ihm übrig geblieben.
An einem von diesen saß im dürftigen Schatten eines Akazienbaumes Kaspar Lerse, der fünfzehnjährige Sohn des Besitzers der nahen Ansiedlung Marienhof, spielte mit den nackten Beinen in der jetzt ganz klaren Wasserflut und freute sich, wenn er sein frisches, tiefgebräuntes Gesicht mit dem hellblonden Haar und den großen, lustigen, braunen Augen im Gewässer sich spiegeln sah. Dabei pfiff er munter vor sich hin »Der Mai ist gekommen« und blickte zuweilen auch wohl nach den stattlichen Namaochsen hinüber, die es sich weiter oben im Flußbett in den vom Fluß zurückgelassenen Lachen wohl sein ließen. Sie gehörten zu der Herde seines Vaters, und das Herz lachte dem Jungen im Leibe, wenn er daran dachte, wie prächtig sie nun gedeihen würden, wenn ringsumher das neue Gras aus der erfrischten Erde aufsprießen würde.
»Ja, das wird euch schmecken,« sagte er lachend vor sich hin, »besser als die trockenen Futterbüsche, mit denen ihr euch seit Monaten habt zufrieden geben müssen!«
Plötzlich ließen sich Stimmen vernehmen – oben vom Rande des Tales her, wo der dichte Buschwald begann, dessen dorniges Labyrinth meilenweit die Hochfläche bedeckte.
Schnell sprang Kaspar in die Höhe, ergriff seine Jagdbüchse, die er neben sich an den Stamm der Akazie gelehnt hatte, kletterte mit ihr, behend wie eine Katze, auf den Baum und versteckte sie in dem dichten Gewirr der Äste.
Als oben die schwarzbraunen Gestalten am Rande des Abhanges sichtbar wurden, war er schon wieder unten und begrüßte die Zurufe der Hereroknaben mit fröhlichen Juchzern »Juhu! Juhu! Hat euch der Regen nicht fortgespült, ihr schwarzen Schlingel? Na, kommt nur herunter. Euch wird ein frisches Bad auch mal nichts schaden.«
Es waren seine Gespielen von der Hererowerft, die nicht weit von Marienhof am Rande des Buschwaldes lag, und mit der Lerses immer leidlich freundschaftliche Beziehungen unterhalten hatten.
Ihr Oberhaupt, der Unterkapitän Isaak, ein für Hereroverhältnisse sehr gebildeter Mann, der in Kapstadt die Missionsschule besucht hatte und nicht nur das landesübliche Holländisch, sondern auch einige Brocken Deutsch verstand, kam häufig zu den Andachten, die Vater Lerse des Sonntag morgens in seiner Scheune abhielt. Freilich war es ihm hierbei wohl weniger um die Erbauung, als um den guten Kornbranntwein zu tun, den Vater Lerse seinen Gästen nachher beim Frühstück vorzusetzen pflegte. Die ärmeren Mitglieder der Werft aber hatten sich trotz ihres Hererostolzes zuweilen sogar schon bereit finden lassen, gegen sehr hohes Geld und sehr gute Worte als Viehhüter und Gartenarbeiter bei dem deutschen Nachbar Dienste zu nehmen, während sich die Ansiedler sonst meist mit den weit weniger intelligenten Namaleuten begnügen mußten.
Ismael, der Sohn des Unterkapitäns, war es denn auch, der Kaspar zuerst begrüßte, indem er ihm, ganz nach Art der Deutschen, die dunkelbraune Rechte entgegenstreckte und dabei in sehr drolliger Weise sagte: »Chuten Morchen!«
Es war ein stattlicher Bursche, fast so groß als Kaspar, der freilich mit seinem kraftvollen, schlanken Wuchs alle eingeborenen Altersgenossen überragte. Sonst war Ismael häßlich. Die Lippen waren bei ihm fast noch mehr aufgeworfen und die niedrige Stirne trat hinter der aufgestülpten Nase fast noch weiter zurück, als sonst bei seinen, dem großen Bantustamme angehörenden Volksgenossen. Nur seine Augen waren bis auf den lauernden, listigen Ausdruck hübsch, schwarz, leuchtend und gesund, während sie bei den meisten anderen Hereroknaben schon durch die schrecklichen Entzündungen entstellt waren, die infolge des blendenden Sonnenlichtes, des Staubes und der Unsauberkeit bei fast allen afrikanischen Völkerschaften aufzutreten pflegen und so oft zur Erblindung führen.
Auch sonst unterschied sich Ismael auffallend von seinen Gefährten. Während diese bis auf einen um die Hüften geschlungenen, schmalen Lederriemen mit handtellergroßem Vorderschurz nur halbbekleidet umherliefen, trug er einen aus ganz dickem, dunklem Wollstoff gefertigten Anzug nach europäischem Schnitt, der einst wohl seinen Papa geziert haben mochte. Er war ihm viel zu groß und stand ihm seltsam genug zu Gesichte, besonders, da er ihn ohne Wäsche über den bloßen Leib gezogen hatte. Er selbst aber kam sich ungeheuer schön und vornehm darin vor.
Kaspar erwiderte den Gruß des Häuptlingssohnes und nickte auch den anderen Knaben freundlich zu. Sie waren in seiner Gegenwart anfangs immer etwas befangen und standen heute mit ganz besonders dummen Gesichtern da, der Dinge harrend, die da kommen sollten.
Denn, wie wir später sehen werden, hatten sie Kaspar nicht ohne eine bestimmte heimtückische Absicht aufgesucht und waren nun neugierig, wie der Sohn ihres Unterkapitäns es wohl anfangen würde, diese Absicht zu erreichen.
Aber Ismael war viel zu verschlagen, um sich zunächst etwas anmerken zu lassen, und ging sogar ohne weiteres auf Kaspars Vorschlag ein, ein gemeinsames Bad zu nehmen.
»Ei, ei! Baten! Baten! – Sehr fein – baten!« schrie er, obwohl ihm der Gedanke an das ungewohnte Naß sehr unangenehm war.
Willig folgte er Kaspars Beispiel, entledigte sich seines Anzuges und sprang in den Tümpel hinein, in dem Kaspar bereits munter umherplätscherte.
Der erste Erfolg dieses ungewohnten Badeversuches war freilich, daß er ein furchtbares Gebrüll von sich gab und mit entsetztem Gesicht nach dem Ufer zurückpatschte.
Als er aber sah, wie Kaspar ihn auslachte, nahm er all seinen Heldenmut zusammen und kehrte mit süßsaurer Miene in das Wasser zurück, das ihm kaum bis zum Gürtel reichte.
Nun faßten die anderen Hereroknaben sich ebenfalls ein Herz. Nachdem sie sich, um auch in dieser Beziehung nicht hinter ihrem Anführer zurückzubleiben, gleichfalls ihrer Bekleidung entledigt hatten, gingen auch sie in das Wasser hinein, aber so behutsam, als gelte es zwischen Eiern oder glühenden Kohlen herumzutanzen.
Lachend sah Kaspar ihnen zu und rief: »Vorwärts! Vorwärts! Habt ihr Furcht, daß das Wasser beißt? Eurem schwarzen Fell kann es doch wahrhaftig nicht schaden, wenn es mal mit was Nassem in Berührung kommt!«
Dabei packte er den Nächststehenden beim Kragen und tauchte ihn unter. Zappelnd und prustend wehrte sich der Junge.
»Zu Hilfe! Zu Hilfe! Brrrr! Zu Hilfe!«
Aber wen Kaspar in der Faust hatte, den ließ er nicht so leicht los. Trotz des schauerlichen Geheuls wiederholte er die Tauchübung, bis der widerwillige Schwimmer sich an den ungewohnten Genuß gewöhnt hatte, und setzte diese kulturellen Bestrebungen dann auch bei den anderen, die er erhaschen konnte, mit oft gar nicht allzu sanftem Zwange fort.
Ismael, der froh war, durch seine Autorität vor dieser gewaltsamen Beglückung geschützt zu sein, half ihm hierbei mit schadenfrohem Grinsen, und nun begann ein wildes Tollen und Jagen, bis das aufgewühlte Wasser des kleinen Tümpels so schmutzig geworden war, daß Kaspar selbst es vorzog, auf die Fortsetzung des seltenen Vergnügens zu verzichten.
Sie setzten sich in den Sand unter den Akazienbaum und begannen sich anzukleiden, nachdem die wohltuende Feuchtigkeit, die sie aus dem Bade mitgebracht hatten, im Nu in der heißen, trockenen Luft verdampft war.
Plötzlich klopfte Ismael dem Deutschen auf die Schulter und sagte: »Weißt schon, daß Tiger da ist?«
»Was? Ein Leopard?« entgegnete Kaspar mit blitzenden Augen.
»Ja, Tiger!« fuhr der Häuptlingssohn fort, während die anderen Hereroknaben wie auf ein verabredetes Zeichen mit großem Geschrei diese Nachricht bestätigten. »Heute nacht an Kraal gewesen. O, so ein Ungeheuer! Wie Beeste!«
»Gewiß hat er sich ein Füllen geholt?« fragte Kaspar lebhaft.
»Nein, nicht Füllen. Gar nichts geholt. Nicht mal Schaf oder Ziege. Aber da ist Tiger. Hüter ihn gesehen. Das ist gewiß!«
»Dann war er also satt, und dann ist ganz bestimmt auch Wild in der Nähe!« rief Kaspar aufspringend.
»Ja, Hüter auch sagen. Wollen wir Jagd machen? Du uns anführen. Bist doch Buschläufer! Alle Spuren findest du. Kennst alle Fährten. Komm, Buschläufer, führe uns!«
Wieder stimmten die anderen schreiend ein: »Buschläufer! Buschläufer! Komm jagen! Führe uns, Buschläufer!«
»Natürlich wollen wir Jagd machen! Vielleicht finden wir sogar den Leoparden. Das wäre ein Hauptspaß!« rief Kaspar in aufflammendem Jagdeifer, und schon war er im Begriff, zu der Akazie zu laufen und seine Büchse zu holen, als er plötzlich stehen blieb.
»Die Büchse?« dachte er, »nein, die wollen wir doch lieber in ihrem sicheren Versteck lassen,« denn seit einiger Zeit hatten die Hererojungen eine so große Bewunderung für sie an den Tag gelegt, daß er einmal nur mit Mühe hatte verhindern können, daß sie ihm fortgenommen wurde. Er überzeugte sich also durch einen raschen Blick, daß sie noch an ihrem Platze war und in dem dichten Geäst von keinem unberufenen Auge gesehen werden konnte, und fuhr dann etwas vorsichtiger fort: »Ja, führen will ich euch gern. Aber habt ihr denn auch Büchsen?«
»Nein, wir keine Büchsen, aber du,« antwortete Ismael mit verschmitztem Lächeln.
»Ich? Ich habe auch keine. Meine Büchse gehört meinem Vater, und der wird sie mir gewiß nicht geben, wenn er hört, daß ich den Leoparden jagen will.«
»Dann mußt du ihm fortnehmen. Wirst schon finden, du!«
»Fortnehmen? Pfui! Schämst du dich nicht, mir so etwas zuzumuten?«
»Und schöne Tiger? Wird fortlaufen – nie wiederkommen!«
Noch manches wußte Ismael mit Unterstützung seiner Gefährten vorzubringen, um den Deutschen bei seiner Jagdleidenschaft zu packen und ihn so zu einer Dummheit zu verleiten. Aber Kaspar blieb fest und erklärte rund heraus, daß er dann lieber auf die Jagd verzichten wolle, so daß der Herero schließlich mit dem Geständnis herausrückte, daß sie selbst nicht nur Keulen und Spieße, sondern auch eine Büchse mitgebracht hätten, und daß alles oben im Buschwald versteckt läge.
»Warum habt ihr denn das nicht gleich gesagt?« rief Kaspar und freute sich im stillen, daß er auf ihre List nicht hineingefallen war; denn nun war es ihm klar, daß sie es auch diesmal wieder nur auf seine gute Büchse abgesehen hatten.
»Meinetwegen also vorwärts!« fuhr er dann fort. »Laßt einmal sehen, was ihr für Waffen mitgebracht habt. Wird wohl auch eine Knallbüchse sein, deine Flinte, mit der man kaum einen Affen herunterputzen kann, geschweige denn einen ausgewachsenen Leoparden.«
»Oho!« entgegnete Ismael, der sich durch die Herabsetzung seiner Büchse in seinem Häuptlingsstolz gekränkt fühlte und deshalb einen Augenblick aus der Rolle fiel. »Gewehr von Ismael guter als deine! Ovaherero jetzt alle gute Gewehre. Viel guter als Deutsche!«
»Was?« sagte Kaspar, ihn verwundert ansehend. »Seit wann habt ihr denn überhaupt Gewehre? Bisher hatte doch nur dein Vater eins, und das war ein alter Vorderlader, wie man sie bei uns zu Hause nicht mal mehr zum Spatzenschießen gebraucht.«
Er kannte ja die Neigung der Hereros zum Prahlen, und bei Isaak, dem Unterkapitän, und bei Ismael, seinem Sohn, war sie ganz besonders stark ausgebildet. Aber die mit so großer Bestimmtheit ausgesprochene und von den anderen bestätigte Behauptung machte ihn doch stutzig; hatte der Vater in letzter Zeit doch häufig die Bemerkung fallen lassen, die Herero schienen ihm gar nicht mehr recht geheuer und es müsse irgend etwas Besonderes bei ihnen vorgehen.
Ismael entging der Eindruck nicht, den seine unvorsichtigen Worte gemacht hatten, und geschmeidig suchte er ihn sofort abzuschwächen und wenn möglich zu verwischen.
»Nein, nein! Ovaherero keine Büchsen,« sagte er, sich in scheinbarer Verlegenheit hinter dem Ohre kratzend. »Weißt doch, daß Ismael bloß Spaß … Kriecht so über Zunge – wie Schlange aus Busch … Husch! … ist da! … Nein, Ovaherero keine Büchsen … Ovaherero arm … Händler alles fortnehmen … Bloß Vater Büchse. Aber gute! … Sollst sehen, wie Ismael schießen!«
»Du?« entgegnete Kaspar, ihn von oben bis unten ansehend. »Nein, mein Sohn! … Wenn ich euch führen soll, muß ich die Büchse haben!«
Davon jedoch wollte der Häuptlingssohn nichts wissen.
»Nicht Deutscher Büchse von Ismael!« schrie er. »Die Ismael selbst! Nimm doch eigene. Ist doch so gut – deutsche Büchse! … Hole doch Büchse!«
»Ja – holen Büchse, Buschläufer!« riefen die anderen.
»Ja, das möchtet ihr wohl?« entgegnete Kaspar lachend. »Aber den Gefallen werde ich euch nun mal nicht tun! Ich gehe einfach ohne Gewehr; denn mir scheint, die Geschichte mit eurem Tiger ist genau so faul, wie die mit euren Büchsen. Aber nach dem starken Regen von gestern kann es ja wohl möglich sein, daß Wild in der Nähe ist. Und da wird's ein Spieß auch tun. Also: kommt!«
Er durchschaute jetzt klar das abgekartete Spiel. Um seine Büchse hatten sie ihn bringen wollen! Er war aber an die hinterlistige Art der Herero schon zu sehr gewöhnt und auch zu sehr davon überzeugt, daß er doch auf alle Fälle mit ihnen fertig werden würde, um nun den Spielverderber zu machen. Überdies reizte ihn das stets mit Leidenschaft ergriffene Vergnügen einer kleinen Birsch durch den Buschwald, bei der schließlich doch irgend etwas herauskommen würde, und sei es auch nur ein vorwitziger Affe oder ein Perlhuhn.
Im Nu hatten sie den kleinen Abhang erstiegen und den Buschwald erreicht. Und richtig! Gleich im vordersten Randgebüsch lagen – wohlversteckt – die Waffen; darunter auch die ausgediente Unterkapitänsflinte, die Ismael mit ebensoviel Ungeschick als Stolz sogleich mit Pulver und Rehposten zu laden begann.
Er hatte aber kaum den Ladestock herausgezogen und den alten Kuhfuß ausgenommen, um ihn, in derselben Art, wie er es bei Kaspar gesehen hatte, vor sich herzutragen, als – bums! – der Schuß losging. Ungewohnt, mit einer Büchse umzugehen, war er an den Abzug gekommen, und nun war das Unglück da.
Ismael selbst flog mit einem Gebrüll, als hätten ihm die Rehposten mindestens beide Beine fortgerissen, in großem Bogen nach hinten bis an den Rand des Buschwaldes, so daß er beinahe den Abhang hinuntergekugelt wäre.
Die anderen braunen Helden aber stoben mit entsetzlichem Geschrei und solcher Hast auseinander, daß der eine immer über den anderen herstolperte, und daß die meisten in die Dornbüsche und in sehr unangenehme Berührung mit deren zolllangen Stacheln gerieten.
»Menschenkind! Was machst du denn für Witze!« rief Kaspar. Er glaubte zunächst wirklich, daß irgend ein Unglück geschehen sei, und sprang opfermutig hinter Ismael her, um ihm Hilfe zu bringen.
Als er aber sah, daß der Häuptlingssohn ganz unversehrt am Boden lag und daß alle mit dem bloßen Schreck davongekommen waren, fing er furchtbar an zu lachen und die braune Gesellschaft zu verspotten.
»Siehst du wohl! Spiele nicht mit Schießgewehr! Dein Vater hätte auch etwas Besseres tun können, als dir die Flinte in die Hand zu geben. Wenn ihr alle so geschickt und so tapfer seid, brauchst du wahrhaftig nicht damit zu prahlen, daß die Herero viel bessere Gewehre hätten, als die Deutschen.«
Dann nahm er die Büchse auf, die Ismael in seiner Angst weit von sich geworfen hatte, und schickte sich an, sie aufs neue zu laden.
Willig reichte ihm Ismael, der sich endlich einigermaßen wieder von dem Schreck erholt hatte, die Munition, machte aber gar keine Anstalten, sich das Gewehr, auf das er erst so stolz gewesen war, von Kaspar zurückgeben zu lassen. Mit scheuen Blicken hielt er sich vorsichtig in angemessener Entfernung und bewunderte die Sicherheit, mit welcher der Deutsche die Waffe handhabte.
Mittlerweile hatten sich auch die anderen wieder zusammengefunden. Einige von ihnen waren von den Dornen tüchtig mitgenommen worden und standen, sich die zerschundenen Glieder reibend, mit wehmütigen Gesichtern da.
Lachend sah Kaspar ihnen zu und sagte: »Na? Euch ist die Jagdlust nun wohl vergangen? Mir soll's recht sein. Ich werde auch ohne euch fertig werden. Ihr würdet ja doch davonlaufen, wenn der Tiger sich blicken ließe.«
Damit hing er die Büchse über den Rücken und ging, sich geschickt zwischen den immer dichter werdenden Dornbüschen hindurchwindend, tiefer in den Buschwald hinein.
Nun wurde es aber auch den Hereroknaben zur Ehrensache. Das wollten sie sich von dem Deutschen doch nicht nachsagen lassen. Der Tiger schlief ja auch während des Tages, und wer wußte denn, ob er überhaupt in der Nähe war?
Ismael war zwar sehr betrübt, daß es mit dem schönen Plan, Kaspar um seine Büchse zu bringen, diesmal nichts geworden war. Aber es würde sich dazu schon bald eine andere Gelegenheit finden.
Sie nahmen also ihre Spieße und Keulen und trotteten hinter Kaspar her, den sie in dem Labyrinth der mannshohen Dornbüsche schwerlich so bald wiedergefunden hätten, wenn er nicht aus einen der vielen Termitenhügel geklettert wäre, um zunächst einmal Umschau zu halten.
»Seid ihr also doch da?« rief er ihnen zu. »Dann komme mal einer herauf. Zacharias, du! Du bist der Größte und Stärkste. Hier stelle dich mal her. Ich werde dir auf die Schultern klettern. Die Dornbüsche sind hier ja leider so hoch, daß man nicht über sie hinwegsehen kann.«
Grinsend gehorchte der Angeredete, ein langer, plumper Bursche, der zuweilen vom Vater Lerse aushilfsweise als Hüter im Kälberkraal benutzt wurde.
Rasch kletterte Kaspar an ihm hinauf, kniete ihm, sich mit den Händen an dem dicken, dichtbehaarten Schädel festhaltend, auf die Schultern, rief den anderen zu, daß sie sich still verhalten sollten, und schaute eine Weile mit gespannter Aufmerksamkeit über den Buschwald hinweg nach einer weiter flußaufwärts liegenden Lichtung hinüber, auf der zuweilen das Wild nach den im Flußbett befindlichen Wasserstellen zu wechseln pflegte.
»Ich sehe nichts,« sagte er endlich, sich an Zacharias' Rücken geschmeidig wieder hinablassend. »Aber es sollte mich doch wundern, wenn nach dem Regen von gestern nicht irgend etwas nach dem Flusse gezogen sein sollte. – Kommt! – Wir wollen uns langsam am Rande entlang nach der Lichtung schleichen. – Ich müßte mich sehr täuschen, wenn wir nicht doch noch zu Schuß kommen sollten.«
Sie kehrten nun in die Nähe des Flusses zurück und birschten sich vorsichtig, oft auf allen vieren kriechend, zwischen den Randgebüschen vorwärts.
Einmal flog dicht vor ihnen ein Frankolinhahn auf, ein stattliches Tier mit schönem, buntschillerndem Gefieder, wie ein Fasan. Aber Kaspar ließ ihn ruhig fliegen; einen so leckeren Braten der große Vogel auch geliefert haben würde.
Sein Sinn stand auf einen feisten Springbock, eine jener flinken Antilopen, die früher Südwestafrika in wandernden Herden von Zehntausenden bevölkerten, und auch jetzt noch trotz der Verwüstungen, die eine unsinnige, rücksichtslose Jagdwut unter ihnen angerichtet hat, in unserem Schutzgebiete oft in so großem Bestand auftreten, daß sie zuweilen ganze Weidefelder vernichten und den Ansiedlern viel Schaden zufügen. – In der Gegend von Marienhof waren lange keine gesehen worden. Sie pflegen sich überhaupt nicht an einem Ort aufzuhalten, sondern machen es wie die treckenden Eingeborenen oder Boeren: sie ziehen dem Regen nach und fallen wie die Heuschrecken über ein Weideland her, das sich eben mit frischem Grün bedeckt hat.
Es war also wohl möglich, daß der starke Regenfall gestern nachmittag sie angelockt hatte, und wenn wirklich der »Tiger« da war, wie die Hereroknaben behaupteten, so war es beinahe sicher, daß sich Springböcke in der Nähe aufhielten; denn der Leopard oder »Tiger«, wie die Ansässigen ihn nennen, folgte meist der Spur des Wildes, dessen große Zahl ihm stets sichere und gute Beute verhieß.
Auf der Lichtung hoffte Kaspar sie zu finden, weil dort gewiß schon über Nacht frisches Gras gesprossen war. Aber die Springböcke waren klug und scheu. Es war nicht so leicht, sich unbemerkt auf gute Schußweite an sie heranzubirschen, und wenn er also jetzt den Frankolin heruntergeknallt hätte, wäre es mit ihnen sicher nichts gewesen.
Ismael freilich konnte diese Zurückhaltung nicht begreifen. Ihm stach das schöne Gefieder in die Augen, mit dem er gern, als mit selbst erlegter Beute, auf der Werft geprahlt hätte, und aufgeregt schrie er: »Schießen doch! … Schießen doch! … Hast doch Büchse von Ismael! Schöne Vogel fortfliegen!«
Aber Kaspar ließ sich dadurch keineswegs irremachen.
»Pst! Willst du dich wohl still verhalten!« verwies er ihn. »Du wirst mir die ganze Jagd verderben mit deinem Geschrei. Dein Vater wird doch wohl auch nicht böse sein, wenn du ihm einen strammen Bock heimbringst. Aber wenn ihr euch nicht ruhig verhaltet, dann laufen uns natürlich die Tiere davon, noch ehe wir sie zu Gesicht bekommen haben. Entweder ihr seid jetzt muckemäuschenstill, oder ich danke für das Vergnügen, mit euch hier im Buschwald herumzukriechen.«
Die Aussicht, daheim sich mit einem wirklichen Bock aufspielen zu können, wirkte. Ismael schwieg, und auch die anderen bemühten sich, von nun an so leise als möglich vorwärts zu kommen.
So mochten sie etwa eine Viertelstunde weitergeschlichen sein, als Kaspar plötzlich stehen blieb. Es war ihm, als hätte er etwas Weißes zwischen den Dornbüschen sich bewegen sehen. Das konnte wohl von den breiten weißen Streifen herrühren, welche die Springböcke auf ihrem zimtfarbenen Fell auf dem Rücken tragen.
»Halt!« flüsterte er den Herero zu. »Ich glaube, da sind sie. Legt euch hier nieder und gebt keinen Laut von euch. Ich will erst einmal allein vorgehen und nachsehen.«
Gleich darauf war er zwischen den Dornbüschen verschwunden, während sich die anderen gehorsam zu Boden duckten und in ängstlicher Spannung lauschten, was sich nun wohl ereignen würde. Aber Minuten vergingen, und nichts war zu hören, als in der Ferne ein leises Pfeifen, das wohl von einem doch aufmerksam gewordenen Bock herrühren mochte.
Plötzlich stand Kaspar, wie aus der Erde gestampft, wieder vor ihnen.
»Nun?« fragte Ismael neugierig. »Warum wieder nicht schießen?«
Unwillig winkte Kaspar ihm, daß er still sein sollte, schlich sich dann auf den Zehenspitzen ganz dicht zu ihnen heran und sagte leise: »Keine fünfzig Schritt von hier, am Rande der Lichtung, liegen sie, eine ganze Herde. Aber es ist unmöglich, hier sicher zu schießen. Man kann sie nur durch die Büsche sehen, und wenn ich mich hier näher heranbirsche, laufen sie davon, ehe ich zu Schuß komme. – Wir müssen ihnen den Rückzug verlegen. – Schleicht euch nach rechts herum bis dicht an die Lichtung heran. Ich werde nach dem Flusse gehen und versuchen, von dort aus an sie heranzukommen. Einen hoffe ich ja sicher zu haben. Aber bis ich die alte Knarre da wieder geladen habe, werden sie wohl über alle Berge sein. Deshalb müßt ihr, sobald ich geschossen habe, hervorkommen und sie zurückscheuchen. Sie wissen dann nicht, wohin sie laufen sollen, und vielleicht finde ich dann noch Zeit, ein zweites Mal zu schießen. Habt ihr verstanden?«
Die Herero, die mit klopfendem Herzen zugehört hatten, nickten zustimmend und machten sich unter Ismaels Führung sogleich daran, ihren Auftrag auszuführen, während Kaspar sich dicht am Rande des Flußbettes zwischen den Dornbüschen nach der Lichtung heranschlich.
Endlich hatte er diese erreicht und sah nun, hinter dem letzten Busche kauernd, etwa dreihundert Schritt vor sich, die Tiere liegen, die es sich in dem dürftigen Schatten des Waldrandes bequem gemacht hatten.
Schnell hob er die Büchse, von Jagdlust entflammt. Aber im letzten Augenblick ließ er sie wieder sinken. – Dreihundert Schritt mit diesem alten Vorderlader? Das war gänzlich aussichtslos. Er mußte versuchen, noch näher heranzukommen.
Vorsichtig zog er sich wieder in den Buschwald zurück und kroch im Schutze der Gebüsche weiter, alle Augenblicke anhaltend und durch die Zweige lugend, um sein Ziel nicht aus dem Auge zu verlieren.
So mochte er etwa fünfzig Schritt vorwärts gelangt sein, als die Tiere plötzlich unruhig wurden. Ob sie trotz all seiner Vorsicht ihn bemerkt hatten, oder ob die Herero ungeschickt gewesen waren und sie stutzig gemacht hatten; genug, im Nu war die ganze Herde auf den Beinen, um in mächtigen Sätzen über die Lichtung davonzujagen.
Nun gab es kein Zögern mehr. Im Nu hatte Kaspar das Gewehr an die Backe gerissen und auf den letzten Bock angelegt. Ein paar Sekunden ruhigen Zielens, dann drückte er ab, fest überzeugt, sicher gerade auf das Blatt abgekommen zu sein.
»Den hätten wir!« dachte er freudig und schickte sich an, so schnell als möglich aufs neue zu laden.
Da sah er zu seiner größten Enttäuschung, wie der schöne Bock, mit dem auf dem Rücken er sich im Geiste schon hatte daheim ankommen sehen, munter mit den anderen davonsprang. Als jetzt die Herero, der Verabredung gemäß, mit großem Geschrei aus dem Buschwald hervorgestürmt kamen, machte der Bock sogar einen besonders kühnen Satz, als wolle er dem verblüfften Schützen zeigen, wie wenig er sich aus den paar matten Bleistückchen mache, die vielleicht sein Fell gekitzelt hatten.
»So eine erbärmliche Knarre!« rief Kaspar, die alte Flinte ärgerlich in den nächsten Dornbusch schleudernd. »Da kommt man endlich mal auf etwas Vernünftiges zu Schuß, und nun muß man so 'n Ding an der Backe haben!«
Er machte sich nun die bittersten Vorwürfe, daß er nicht die eigene Büchse mitgenommen hatte. Was hätte denn weiter geschehen können? Mit den Herero wäre er schließlich doch wohl fertig geworden und zwei bis drei Böcke hätte er dann ganz sicher zur Strecke gebracht.
Inzwischen waren die braunen Treiber herangekommen. Sie hatten wohl bemerkt, daß Kaspar fehlgeschossen hatte, fühlten sich jetzt daher sehr obenauf und fingen an, den Deutschen zu hänseln.
»Oh! Gut schießen, Deutsche!« rief Ismael höhnisch. »So nah! Springbock! Mit Stein totwerfen, ich!«
»Das wäre wahrscheinlich auch sicherer gewesen, als mit deiner elenden Donnerbüchse!« entgegnete Kaspar, ihm mit verächtlicher Gebärde die Flinte vor die Füße werfend.
»Hoho! Hoho! Jetzt Büchse schuld haben! Wenn Ismael nur gehabt hätte! Eins – zwei – puff! Drei schöne Böcke auf einmal! – Oh! Gut schießen, Deutsche! – Schöne Büchsen … aber immer vorbei!« höhnte Ismael wieder.
»So? Das will ich euch zeigen!« rief Kaspar, den der Spott nur noch mehr aufgeregt hatte. »Jetzt werde ich meine eigene Büchse holen, und dann sollt ihr mal sehen!«
In Ismaels Augen blitzte es auf.
Aber in seinem Eifer bemerkte Kaspar es nicht und fuhr fort: »Wartet hier und gebt acht, wo die Springböcke hinlaufen. Wenn ihr euch ruhig verhaltet, werden sie sicher nach dem Flusse zurückkommen. In einer halben Stunde höchstens bin ich wieder hier.«
Damit eilte er über die Lichtung nach dem Flußufer zu und lief, so schnell er konnte, am Rande des Buschwaldes hin stromabwärts nach der Akazie, in deren Geäst er seine Büchse verborgen hatte.
Aber von dem schnellen Laufen in der großen trockenen Hitze bekam er bald solchen Durst, daß er auf halbem Wege innehalten und sich nach einer Gelegenheit zum Trinken umschauen mußte. Eine Wasserstelle war in dem noch feuchten Sande des Flußbettes bald gefunden. Rasch trank er sich ordentlich satt, kühlte sich das Gesicht mit dem noch immer ziemlich frischen Wasser und lief dann weiter.
Endlich hatte er die Akazie erreicht, unter der sich jetzt eine große Schar Schafe gelagert hatte, die das Wasser von dem nahen Weideplan nach dem Flußbett hinabgelockt hatte. Nach der Sitte des Landes weideten sie des Tages über ohne Hirten; denn die Arbeitskräfte sind teuer in dem dünnbevölkerten Lande, und da die Tiere in der Nähe doch keinen besseren Weidegrund finden, als ihr Herr ihnen angewiesen hat, haben sie keine Veranlassung zu entlaufen.
Es war also auch jetzt kein Unberufener in der Nähe, der Kaspar hätte beobachten können, wenn er seine Büchse aus ihrem Versteck hervorholte. Nachdem er sich hiervon überzeugt hatte, kletterte er auf den Baum und wollte eben, die Büchse in der Hand, sich am Stamm wieder niederlassen, als oben von dem hier nur etwa fünfzig Schritt entfernten Buschwalde her ein Schuß fiel.
Überrascht sprang Kaspar zur Erde nieder.
Was hatte denn das zu bedeuten? Wer mochte sich denn da das Vergnügen, gemacht haben, auf ihn zu schießen? Denn, daß die Ladung ihm zugedacht gewesen war, konnte keinem Zweifel unterliegen, hatte er doch dicht neben sich die Schrotkörner in den Baum einschlagen hören.
Sollte das etwa der biedere Ismael gewesen sein, der diese Gelegenheit hatte benutzen wollen, um sich in den Besitz einer besseren Büchse zu setzen? Zuzutrauen war es ihm schon; denn bei aller Freundschaft war den Herero niemals zu trauen, namentlich wenn ihre Habgier nach irgend etwas aufgestachelt war.
Die Burschen konnten ihm auch ganz gut oben im Buschwald gefolgt sein und die Zeit, die er unten an der Wasserstelle beim Trinken versäumt hatte, benutzt haben, um ihn einzuholen und seine Bewegungen zu beobachten.
Mit diesen Gedanken beschäftigt, war Kaspar schon über die Schafe hinweggeklettert, die, von dem Knall aufgeschreckt, jetzt in wilder Angst durcheinanderliefen. Die Büchse schußbereit vor sich haltend, stürmte er dann den Abhang hinauf in der Richtung, aus welcher der Schuß gefallen war.
»Na wartet!« dachte er dabei. »Wenn das wirklich Ismael getan hat, und wer sollte es sonst gewesen sein? – dann will ich ihm aber einen Schreck einjagen, daß ihm für alle Zukunft die Lust zu solchen Scherzen vergehen soll!« So dicht sollte ihm die Kugel an den Ohren vorbeipfeifen, daß ihm ein für allemal die Lust nach dieser musikalischen Unterhaltung vergehen würde.
Als er aber den Rand des Buschwaldes erreicht hatte, war von den Hereroknaben nichts zu sehen und zu hören.
Er suchte geraume Weile in den benachbarten Gebüschen. Es waren zwar die Spuren der Hererojungen da. Aber das konnte ebensogut noch von vorhin gewesen sein, wo sie ja ebenfalls in dieser Gegend gewesen waren. Sonst ließ sich nicht der geringste Anhalt entdecken, wer der Angreifer gewesen und wo er geblieben sein mochte.
Unwillkürlich kam ihm Ismaels Prahlerei wieder in den Sinn, daß die Herero jetzt alle gute Büchsen hätten. Wenn doch etwas Wahres daran wäre? Wenn doch ein anderer auf ihn geschossen hätte?
Um hierüber Klarheit zu erhalten, beschloß er, zunächst nach der Lichtung zurückzukehren und nachzusehen, ob die Herero dort noch lagerten und auf ihn warteten.
Um aber nicht noch einmal einem meuchlerischen Angriff ausgesetzt zu sein, ging er diesmal nicht unten in dem freien Flußbett, wo ihn jeden Augenblick ein Schuß von oben her hätte erreichen können, sondern oben am Rande des Buschwaldes. Was verschlug es, daß er so eine Viertelstunde länger brauchte? Wenn die Herero überhaupt noch da waren, würden sie auch noch ein bißchen länger warten, und hier war er doch wenigstens gedeckt. Aber je weiter er kam, umsomehr befestigte sich in ihm die Überzeugung, daß er sie nicht mehr an der Lichtung finden würde, und daß Ismael doch der Attentäter gewesen war.
Und richtig: als er die Stelle erreicht hatte, an der sie vorhin auseinandergegangen waren, waren die Herero verschwunden.
Er rief und pfiff. Aber niemand antwortete.
Dann suchte er ihre Spuren zu verfolgen. Sie führten ganz unverkennbar dicht am Rande des Flußbettes im Buschwald stromabwärts. Dort waren sie vorher nicht gewesen, und nun konnte es kaum noch einen Zweifel geben, daß Ismael oder einer der Seinen den hinterlistigen Schuß abgegeben hatte.
»Gott sei Dank!« dachte Kaspar, »denn wenn die Herero wirklich mehr Gewehre hätten, würde den Vater das schrecklich aufregen.«
Im übrigen nahm er das Geschehnis nicht so schwer, wie es in ähnlichem Falle bei uns genommen werden würde. Schließlich war man hier ja doch noch immer mehr oder weniger auf dem Kriegsfuß, und trotz des bißchens äußerlicher Kultur waren die Herero doch eben Naturkinder, denen man es im Grunde nicht einmal verdenken konnte, wenn sie nicht besonders gut auf den Weißen zu sprechen waren, der ihnen ihr Land fortnahm und sie zu unterjochen suchte. Von diesem Standpunkte aus hatte sich Vater Lerse oft genug über die Verhältnisse ausgesprochen. Und so dachte auch Kaspar.
Dennoch hatte ihm das Ereignis die Jagdfreude verdorben, und da auch von den Antilopen nichts mehr zu sehen war, beschloß er, nach Hause zurückzukehren.
Er war noch nicht weit gekommen, als sein Fuß auf etwas Weiches, Lebendiges stieß.
Unwillkürlich trat er zurück und schlich hinter den nächsten der gegenüberliegenden Dornbüsche, um zu sehen, was das wohl hier mitten in der Wildnis gewesen sein mochte; vielleicht ein kranker Vogel oder eine schlafende Elfenratte, die im Damaraland nicht nur Geröll und Gebüsch, sondern sogar das dichte Gezweig der Akazien zu beleben pflegen.
Aber so sehr er auch das Auge anstrengte, er vermochte in der vor Hitze flimmernden Luft nichts zu erkennen, als den orangegelben Erdboden mit den Schattenflecken des dünnbelaubten Dornbusches.
Schon wollte er noch einmal herantreten, um die Stelle in der Nähe zu betrachten, als er etwas am Boden sich bewegen sah, gerade dort, wo er vorhin die auffallende Berührung gefühlt hatte.
Was war das? … Wahrhaftig! Der Schwanz eines Leoparden war es, der, offenbar schlafend, unter dem Dornbusch lag.
Im ersten Augenblick stockte ihm doch der Atem. Er ganz allein in unmittelbarer Nähe dieses furchtbaren Raubtieres im Buschwald, wo niemand ihm zu Hilfe eilen konnte?
Nichts war Kaspar fremder als Furcht. Aber jetzt rieselte es ihm doch über den Rücken, und sein erster Gedanke war, sich so rasch als möglich durch die Büsche davonzuschleichen und das Weite zu suchen, bevor das Untier erwachte.
Dann aber kamen doch die Abenteuerlust und der Jagdeifer über ihn. Eine so günstige Gelegenheit, einen Leoparden zu erlegen, würde ihm vielleicht nie im Leben wieder geboten werden. Und was für Gesichter wohl die Herero machen würden, wenn er den Burschen da nach Hause brächte! Sie würden solchen Respekt vor ihm bekommen, daß er für alle Zeiten mit ihnen machen konnte, was er wollte.
Vorsichtig schlich er sich um den gegenüberliegenden Dornbusch herum, um eine Stelle zu suchen, von wo aus er sicher auf das Auge oder das Herz des Tieres würde zielen können.
Es war nicht so leicht, denn der Leopard lag mit dem Vorderteil seines massigen Körpers so weit unter dem Gebüsch, daß Kopf und Brust fast gänzlich von den Zweigen gedeckt waren.
Endlich aber hatte er einen Platz gefunden, von dem aus er deutlich den Ansatz der Rippen des schlanken Tieres erkennen konnte. Von dort aus mochte wohl die Kugel einen sicheren Weg in das Herz finden können.
Die Büchse lag ihm schwer in der Hand. Jetzt nur ruhig gezielt, und der Bursche würde kein Unheil mehr anrichten können.
Aber noch einmal überlegte Kaspar. War es nicht doch eine Tollkühnheit? – – Für gewöhnlich nahm zwar der Leopard, wie es hieß, den Menschen nicht an. Wenn er aber gereizt oder gar angeschossen wurde, stürzte er sich wie rasend auf seinen Gegner; das hatten alle Jäger bestätigt.
Niemand pflegte deshalb den Leoparden hier zu Lande anders zu jagen, als mit scharfen Hunden und in Gesellschaft, und auch dann gebrauchten die Jäger stets die Vorsicht, sich mit einem tüchtigen Dolchmesser zu versehen und sich den linken Arm dick mit Fellen zu umwickeln, um im Falle eines Angriffs dem Raubtier diesen entgegenhalten und ihm mit dem anderen das Messer in das Herz stoßen zu können.
Er aber hatte weder Hunde noch Dolchmesser. Sein Arm war unbeschützt, und wenn das verwundete Tier sich auf ihn stürzen würde, war niemand da, der ihm würde beispringen können. Entweder also mußte er das Tier so treffen, daß es sofort verendete, oder er war rettungslos verloren.
Noch einmal dachte er daran, dem gefährlichen Abenteuer doch lieber aus dem Wege zu gehen und sich beizeiten in Sicherheit zu bringen. Aber auch diesmal siegte der Jagdeifer und fesselte seinen Fuß.
Plötzlich fing der Leopard an, sich zu bewegen. Er fuhr sich mit den Pranken ins Gesicht, als wolle er sich den Schlaf aus den Augen reiben, und richtete sich auf.
Er hatte Kaspar bemerkt und im nächsten Augenblick stand er mit gefletschten Zähnen und furchtbarem Ausdruck in den großen, funkelnden goldgrünen Augen zum Sprunge bereit vor ihm.
Nun gab es kein Überlegen mehr.
Kaspar hatte bereits die Büchse im Anschlag. Ruhig zielte er. Dann, sobald er das funkelnde Auge hinter dem Korn aufleuchten sah, drückte er ab.
Aber seine Aufregung dabei war so groß, daß er während der nächsten Minuten nicht wußte, was mit ihm und um ihn her vorging. Ihm war, als drehe der ganze Buschwald sich vor seinen Augen, und von allen Seiten sprängen wütende Leoparden auf ihn los. Dann sah er überhaupt nichts mehr, und er fühlte nur, wie der Boden unter ihm schwankte.
Endlich kam er wieder zu sich, mußte sich aber geraume Weile darauf besinnen, wo er sich befand und was mit ihm vorgegangen war. Seine rechte Hand hielt krampfhaft die Büchse umklammert, und nun fiel ihm ein, daß er ja eben auf einen Leoparden geschossen habe.
Das brachte ihn vollends wieder zur Besinnung. Er blickte nach dem Dornbusch hinüber, wo der Leopard vorhin gestanden hatte, und nun sah er, daß das Tier in den letzten Zuckungen vor ihm lag.
Rasch lud er seine Büchse wieder, um auf alle Fälle noch einen Schuß bereit zu haben. Aber gleich darauf fing das Raubtier an, seine Glieder von sich zu strecken und mit einem schauerlichen dumpfen Röcheln in sich zusammenzusinken.
Es konnte kein Zweifel mehr sein: das Ungeheuer war tot. Die Kugel war, genau wie sie gezielt worden war, durch das rechte Auge in das Gehirn gedrungen und hatte den Räuber sofort kampfunfähig gemacht.
Mit jubelndem »Juhu!« sprang nun Kaspar heran, stellte den rechten Fuß auf die Brust des gefallenen Leoparden, stand so, in der einen Hand die Büchse, in der anderen die Mütze schwenkend, geraume Weile da und schrie nur immer »Juhu! Juhu!«
Nachdem er so endlich seinem überseligen Jägerherzen einigermaßen Luft gemacht hatte, band er dem erlegten Räuber die Hinterbeine zusammen und schleppte die köstliche Jagdbeute aus dem Buschwald heraus und über den weichen Sand des Flußbettes fort nach Hause.