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Auf der Militärstation.

Als Herr Lerse, um seinen Verfolgern zu entgehen, den furchtbaren Sprung in die Tiefe gewagt hatte, waren ihm bei der Wucht des Falles die Sinne geschwunden. Sekundenlang wußte er nicht, was mit ihm vorging. Er fühlte nichts davon, wie der Körper des von der Hererokugel zu Tode verwundeten Pferdes auf den Boden aufschlug, der von den letzten Regengüssen mehrere Fuß breit mit Wasser bedeckt war. Er fühlte auch nicht, wie er selbst von dem ungeheuren Prall zurückgeschleudert wurde. Tiefe Nacht umfing seine Sinne, und nur einmal kam ihm ein Gefühl zum Bewußtsein, als fliege er wie ein Vogel hoch oben durch die Lüfte.

Gleich darauf aber erholte er sich wieder und sah sich nun im Grunde der Kluft im Wasser liegen, dessen kühlende Flut ihn vor einer Ohnmacht bewahrt hatte. Kopf und Beine schmerzten ihn, aber bald wurde er mit Freuden inne, daß er sich keinerlei ernstlichen Schaden getan hatte.

Das treue Pferd dagegen lag mit zerschmetterten Gliedern tot daneben. Noch im Sterben hatte es seine Pflicht getan und seinem Herrn zur Rettung verholfen.

»Braves Tier!« sagte Herr Lerse leise vor sich hin, ihm den blutigen Hals streichelnd. »Ohne dich läge ich jetzt wahrscheinlich hier so wie du. Ich hatte gehofft, dich für deine treuen Dienste einmal besser zu belohnen. Aber deine Landsleute wußten es zu verhindern. Ich danke dir!«

Dann richtete er sich, so schnell die zerschundenen Glieder es erlauben wollten, auf, und nun kam ihm erst zum Bewußtsein, daß er noch immer in der größten Gefahr schwebte. In der Betäubung hatte er gar nicht beachtet, daß die Herero, die schimpfend und schreiend oben am Rande der Kluft standen, wie toll nach ihm schossen, und daß nur die fortschreitende Dämmerung, die den Talgrund schon in tiefes Dunkel hüllte, und der ihn deckende Pferdeleib ihn davor bewahrt hatten, getroffen zu werden.

»Auf! Vorwärts!« rief es in ihm, und das Bewußtsein der Gefahr gab ihm sofort die volle Herrschaft über seine Glieder zurück.

Schnell sprang er zur Seite, dicht an den Rand der Kluft, so daß er gegen die Schüsse durch die überhängenden Felsen gedeckt war, entfernte, so gut es gehen wollte, das Wasser aus den Stiefeln und prüfte seine Büchse. Gott sei Dank! Sie war bei dem Fall glücklicherweise auf den Körper des Pferdes zu liegen gekommen und infolgedessen unversehrt geblieben. Auch der Revolver war trotz der eingedrungenen Nässe noch gebrauchsfähig.

Wie zum Hohn schickte Herr Lerse noch eine Kugel nach seinen Verfolgern hinauf und eilte dann die Schlucht hinab, von der er hoffte, daß sie ihn nach der Eisenbahnstrecke führen würde.

Aber trotz der Dunkelheit und der Deckung schienen die Herero seine Bewegungen doch immer noch verfolgen zu können; denn sie begleiteten ihn noch eine ziemliche Strecke weit und schossen, was sie konnten, so daß er sich gezwungen sah, sich, des sehr unbequemen Weges ungeachtet, immer dicht an der Felswand zu halten. Endlich ließ das Geschieße jedoch nach. Offenbar hatten sie die Spur des Flüchtlings verloren, den sie schon so sicher zu haben gemeint hatten und an dem sie, als an dem ersten Opfer, ihre Mordlust mit besonderer Grausamkeit befriedigt haben würden.

Inzwischen war es in der Schlucht so dunkel geworden, daß Herr Lerse sich förmlich weitertasten mußte. Er brauchte jetzt zwar nicht mehr am Rande zwischen den Steinen herumzuklettern. Aber auch in der Mitte war der Weg schlecht genug. Überall stand hier das Wasser und verdeckte die Bodenlöcher, so daß Herr Lerse wiederholt bis an die Hüften einsank und Mühe hatte, sich wieder herauszuarbeiten. Dabei herrschte in der engen Schlucht eine Gluthitze und eine Fieberluft, die sich wie eine bleierne Last auf die Glieder legte und die Sinne betäubte.

Mit unbeugsamer Tatkraft kämpfte Herr Lerse gegen diesen neuen Feind, gegen die Müdigkeit. Nach den ungeheuren Anstrengungen des Tages und den Erschütterungen des furchtbaren Sturzes war sie schon vorher über ihn gekommen, aber durch das Bewußtsein der augenblicklichen Lebensgefahr zeitweilig überwunden worden. Jetzt fühlte er, wie sie stärker und stärker wiederkam. Die Glieder waren ihm schwer, als hätten böse Geister ihm statt des Markes Quecksilber in die Knochen gegossen, und im Kopfe wühlte ein dumpfer Schmerz, als hätte ein gewaltiger Keulenschlag ihn getroffen.

Kaum vermochte er noch, sich weiterzuschleppen.

Aber hier liegen bleiben? – Vielleicht kurz vor dem Ziel? – In dieser Fieberhölle, wo die Luft allein schon den Tod brachte, wenn man auch von den wilden Tieren oder Schlangen verschont blieb. – Und doch wäre es so schön gewesen, sich jetzt niederzulegen und zu schlafen. Zu schlafen und zu träumen – –

siehe bildunterschrift

Herr Lerse erkannte zu seinem Schrecken eine Hyäne.

Es war doch überhaupt alles nur ein Traum gewesen, alles das, was er heute erlebt zu haben glaubte, so wirbelte es ihm durch das Gehirn. Die Herero waren ja gar nicht auf dem Kriegsfuß. – Ach, Marie, mein gutes Weib, was ist es doch für ein Glück, daß ich das alles nur geträumt habe! Daß ich in Wirklichkeit bei dir bin – bei dir und den Kindern! … Es war so schrecklich, und wenn ich einmal Zeit habe, so will ich es euch erzählen … Aber jetzt … habe ich keine Zeit … Ich muß ja schlafen … Ach ja … schlafen! …

Mit jähem Schreck fuhr Herr Lerse in die Höhe.

Ihm war, als habe etwas eisig Kaltes ihn berührt … Er streckte die Hände aus und fühlte ganz deutlich ein rauhes Fell … Eine Hyäne! … Ohne Zweifel eine Hyäne! … Sie mochte ihn für tot gehalten haben, und nun sie merkte, daß er noch lebte, zog sie sich mit wütendem Knurren scheu zurück.

Jetzt sah Herr Lerse deutlich ihre grünlich funkelnden Augen, und nun kam ihm erst zum vollen Bewußtsein, daß er wirklich geschlafen und geträumt hatte.

Entsetzt sprang er auf. »Um Himmels willen! Was wäre geworden, wenn jetzt das Tier nicht gekommen wäre?« Das häßliche Geschöpf hatte also noch Gutes bewirkt!

Die kurze Rast hatte Herrn Lerse aber doch erfrischt. Leichter waren die Glieder und freier der Kopf. Rüstiger schritt er vorwärts und erreichte nun bald eine Stelle, wo die Schlucht durch einen von Menschenhand aufgeworfenen Erdwall unterbrochen war.

»Die Bahn! … Die Bahn!« jubelte es in Herrn Lerse. Und richtig: gleich darauf stand er oben zwischen den Schienen.

Nun war das Schlimmste überstanden. Nun war er wenigstens auf sicheren Wegen. Bald machte sich auch der Westwind auf und vertrieb das Gewölk. Freier und freier wurde der Himmel, die Sterne kamen zum Vorschein und endlich ging auch hinter den Kaiser Wilhelms-Bergen der Mond auf.

Die frische Nachtluft wehte Herrn Lerse um das Gesicht und kühlte seine Stirn. Aber sein Herz war trotz alledem schwer. Mit der eigenen Lebenskraft waren auch die Sorgen wieder gekommen, die bangen Gedanken um das Geschick der Seinen.

»Kaspar, mein Sohn, halte dich wacker!« rief er wiederholt leise vor sich hin, und immer, wenn seine Gedanken bei diesem Punkte angelangt waren, fing er an zu laufen, bis ihm der Atem ausging und ihn zwang, wieder im Schritt zu gehen.

Und der Weg wollte kein Ende nehmen. Bei der wilden Flucht querfeldein war er doch weiter nach Norden abgekommen, als er gedacht hatte. Einförmig zog sich die Strecke zwischen den ausgesprengten Felswänden hin, und wieder fühlte er die Kräfte nachlassen.

Da endlich machte die Bahnlinie eine Biegung, und nun sah er in der Ferne den Turm einer Kirche in den hellen Nachthimmel aufragen.

»Endlich! Gott sei gedankt!« stöhnte der müde Mann.

Mit Aufbietung der letzten Willenskraft schritt er noch einmal rüstig aus. Aber es war doch schon Mitternacht vorüber, als der Posten vor dem großen, langgestreckten Steinbau des Distriktskommandos ihn anrief: »Halt! Werda? … Zurückbleiben, oder ich schieße! … Niemand darf die Plattform betreten!«

»Ich bin der Ansiedler Lerse von Marienhof und muß den Kommandeur sprechen!« antwortete Herr Lerse, kaum noch im stande, sich aufrecht zu halten.

»Dann heben Sie die Hände hoch und kommen Sie näher!«

Herr Lerse gehorchte.

Eine Weile betrachtete ihn der Posten, dann sagte er: »Ja; es hat seine Richtigkeit. Kommen Sie; ich werde Sie zur Wache führen.« – – – – – – –


»Mann! Wie sehen Sie denn aus? Sie müssen ja Entsetzliches durchgemacht haben!«

Mit diesen Worten empfing gleich darauf der Distriktschef Herrn Lerse, der mit vor Aufregung und Übermüdung glühendem Gesicht und brennenden Augen wie ein vom wildesten Fieber Heimgesuchter vor ihm stand.

»Entsetzliches durchgemacht – und noch Entsetzlicheres zu erwarten!« stieß Herr Lerse hervor und berichtete nun in hastigen, kurzen Sätzen das Wichtigste von dem, was er während der letzten Tage erlebt, gesehen und gehört hatte; er schloß mit der dringenden Bitte, ihm sofort eine Abteilung Reiter mitzugeben, um Marienhof und die Seinen zu erretten.

Das lehnte der Distriktschef jedoch rundweg ab.

»Was, Herr Lerse?« rief er. »Sind Sie von Sinnen? In diesem Zustand wollen Sie wieder in die Nacht hinausreiten? Sehen Sie lieber zu, daß Sie so bald als möglich zur Ruhe kommen. Sie sind ja gar nicht imstande, jetzt ein Pferd zu besteigen. Sie gehen ja drauf, wenn Sie ihrem Körper Unmögliches zumuten. Schlafen Sie erst mal ordentlich aus. Morgen früh wollen wir weiter darüber reden. – Im übrigen wäre ich gar nicht in der Lage, Ihnen gegenwärtig auch nur einen Mann mitzugeben. Wir warten selbst sehnsüchtig auf Verstärkung, denn … Aber das werden Sie morgen früh noch zeitig genug erfahren. Jetzt sollen Sie schlafen. Ich befehle es Ihnen als Ihr kriegsmäßiger Vorgesetzter – und ich bitte Sie darum als Mensch und als Ihr Kamerad.«

Mit diesen Worten winkte er einem Sergeanten, befahl diesem, sich des Herrn Lerse anzunehmen, und verließ das Zimmer.

»Der Herr Distriktschef hat janz recht,« meinte der Sergeant Schauseil, ein waschechter Berliner, indem er Herrn Lerse, der sich sichtlich nur noch mit Mühe aufrecht erhalten konnte, unter den Arm faßte. »Nu kommen Sie man, Herr Lerse. Jetzt werde ich Ihnen ein Bett zurecht machen lassen, das Ihnen jefallen soll. Schlafen sollen se wie …«

Aber aufgeregt riß Herr Lerse sich los und rief: »Ich habe keine Zeit zum Schlafen! … Ich muß nach Hause! … Mein armes Weib! … Meine armen Kinder! … Lassen Sie mich!«

Plötzlich brach er ohnmächtig zusammen.

»Na ja! Ich sage es ja!« rief der Sergeant, indem er ihn zu einer Bank schleppte und dann zu der benachbarten Wachstube lief, um Hilfe herbeizuholen. »Jetzt hat er die Lampe so lange jebrannt, bis der letzte Droppen Öl alle jeworden is … Lehmann! Laufen Sie mal schnell rüber zum Herrn Assistenzarzt! … Und Sie, Neumann und Osterle, Sie können mir mal anfassen helfen, damit wir'n man erst in die Klappe kriejen. Wenn morgen die Hereros bei uns Visite machen kommen, dann können wir doch keene Kranken hier jebrauchen! – Vorwärts! – Hupp!«

Sie trugen den Ohnmächtigen nun in eine Mannschaftsstube, zogen ihm die in Fetzen vom Leibe hängenden, gänzlich durchnäßten Kleider aus und legten ihn zu Bett. Bald darauf kam der Assistenzarzt und brachte ihn durch Äther und belebende Mittel bald wieder zu sich. Dann mußte Herr Lerse etwas essen und trinken. Ohne zu vollem Bewußtsein dessen zu kommen, was mit ihm vorging, gehorchte er, ließ dann aber gleich wieder den Kopf auf die Kissen sinken und war im nächsten Augenblick fest eingeschlafen.

»Jetzt sorgen Sie dafür, daß der Mann tüchtig ausschlafen kann, Sergeant Schauseil, dann, hoffe ich, wird er morgen wieder auf den Beinen sein,« sagte der Assistenzarzt beim Fortgehen.


Und diese Prophezeiung traf ein. Als Pionier der Kultur an ungewöhnliche körperliche Anstrengungen und auch an seelische Aufregungen gewöhnt, hatte er mit seiner von Hause aus urkräftigen Natur auch die schweren Anforderungen des gestrigen Tages geleistet, ohne Schaden zu nehmen. Als er am Morgen in der siebenten Stunde erwachte, fühlte er sich, körperlich wenigstens, vollständig frisch. Nur der Kopf war ihm benommen, so daß er sich erst darauf besinnen mußte, wo er sich befand und wie er hierher gekommen sei.

Sein erster Gedanke galt den Lieben daheim, und nun fiel ihm auch wieder ein, daß der Distriktschef gestern abend gesagt hatte, er könne ihm keine Reiter mitgeben. – Warum nicht? Hatte er ihm nicht auseinandergesetzt, daß Marienhof in der größten Gefahr schwebte und daß die Seinen vielleicht schon im Laufe dieses Tags in die Hände der Herero fallen mußten, wenn es nicht gelang, ihnen rechtzeitig Hilfe zu bringen? – Er sah die Dinge zwar heute etwas ruhiger an. Noch war der Aufstand ja offenbar nicht ausgebrochen, und auf Kaspar konnte man sich verlassen. Aber wenn nicht bald etwas geschah, wenn er keine Reiter mitbekam, was sollte dann werden?

Während er sich anschickte aufzustehen, fragte er die beiden Leute, die ihn gestern abend aufgehoben und dann während der Nacht die Stube mit ihm geteilt hatten, warum der Distriktschef das gesagt habe und warum man ihm keine Reiter mitgeben könne.

»Reiter mitgebe? … Hat sich was, und Reiter mitgebe!« antwortete Osterle, ein biederer Schwabe. »Was moinet denn Ihr, was der Samuel für a gewaltiges Tier ischt? Hättet nur sehe solle, die Parade geschtern! … Noi? Mir brauchet unsere Reiter jetzt selber, sell ischt g'wiß.«

»Nu äben!« bestätigte Neumann, ein Sachse. »'s Hemde sitzt mer näher wie der Rock. Alleweil müssen mer doch erscht zusähn, daß mer selber aus der Patsche nauskommen, weeß Knebbchen!«

In diesem Augenblick trat der Sergeant in die Stube, um nach seinem Schützling zu sehen. Er trug eine Anzahl Uniformstücke über dem Arm, legte sie auf eines der Betten und sagte, Herrn Lerse die Hand reichend: »Morjen, Herr Kamerad! … Wie ich höre, werden Sie nu ja jleich bei uns bleiben. Freut mir riesig!«

»Bei Ihnen bleiben?« fragte Herr Lerse verwundert. »Wie meinen Sie das?«

»Na, da Sie doch Unteroffizier der Landwehr jewesen sind, so versteht sich das, wenn Sie nu auch schon zum Landsturm jehören, doch von selber. Sie sind ooch nich der einzige; wir haben schon sechse einjezogen hier aus'm Ort. Es muß nu eben alles ran, was Kommißbrot verdragen kann.«

»Aber ich muß doch auf meinen Hof, zu meiner Frau, zu meinen Kindern!« rief Herr Lerse.

»Können Sie ja ooch!« entgegnete der Sergeant ruhig, ihm die Uniformen zur Auswahl reichend. »Ob Sie die Hereros nu als Zivilist davonjagen oder als kaiserlich deutscher Schutztruppenunteroffizier, das wird wohl auf dasselbe rauskommen. Im Jegenteil: mit die bunte Jacke am Leibe wird sich das wahrscheinlich noch ville feiner machen. – Ihre Lumpen da können Sie doch auch so wie so nich wieder anziehen. – Also bitt' schön: langen Sie zu … Die, denk' ich, wird Ihnen passen. Höchstens der Bauch wird ein bißchen reichlich sein – von das jute Leben. Aber der Speck wird schon weggehen, wenn es erst mit die Hereros losjeht.«

»Also sind Sie hier auch schon über die Gefahr unterrichtet und auf das Schlimmste vorbereitet?« fragte Herr Lerse, der nun wohl oder übel sich daran machte, die Uniform anzuprobieren, die der Sergeant ihm gereicht hatte.

»Vorbereitet? Na, das kann man nu jrade nich behaupten!« antwortete der Berliner, ihm eine Halsbinde reichend. »Aber unterrichtet? – Na ob! – Schon seit zwei Tagen sieht es hier brenzlich aus. Es ist hier nämlich 'ne jroße Volksversammlung. – So'n Mumpitz! – Was sich die Kaffern ooch zu versammeln brauchen! – Mindestens dreihundert Mann sind zur Stelle, fast alle mit Gewehre, und die Patronenjürtel bis oben hin volljestoppt … Sie sagen, daß der Samuel – was der Oberhäuptling is – der habe sie kommen lassen von wejen ein paar Kapitänsstellen, die wieder besetzt werden müßten. – So'n Schwindel! – Was sie dazu wohl die Gewehre brauchten, die meistens nich mal jestempelt sind, und wovon kein Mensch weiß, wo sie sie herjekriegt haben! … Wir haben denn auch jleich nach Windhuk von wejen Verstärkung telejrafiert, und jestern sind denn ooch siebzehn Männekens anjekommen. – Aber die sind doch man wie'n Droppen auf'm heißen Stein! Mit unsere Reserven sind wir nu jlücklich vierzig Mann jejen dreihundert! … Na, heute soll nu noch 'ne jrößere Abteilung mit der Eisenbahn ankommen, und ein Maschinenjewehr sollen sie ooch mitbringen. Dann wird sich die Sache schon eher machen, und dann wird ja wohl auch für Sie 'ne Patrouille abfallen.«

»Glauben Sie wirklich?« rief Herr Lerse, der der Erzählung des Sergeanten mit atemloser Spannung zugehört und dabei sogar vergessen hatte, sich weiter anzukleiden.

»Na, jewiß doch!« entgegnete der Sergeant. »Wenijstens hat der Herr Distriktschef mir vorhin so wat jesagt.«

»Und wann glauben Sie, daß die Verstärkung hier sein wird?« fragte Herr Lerse in großer Ungeduld weiter.

»Na, bis Uhrer Neune doch jewiß,« antwortete der Sergeant. »Aber nu beeilen Sie sich man ein bißchen, damit Sie sich erst mal dem Herrn Distriktschef vorstellen können. – Bürsten Sie mal den Herrn Unteroffizier ab, Osterle! Und Sie, Neumann, können ihm mal die Stiebeln 'n bisken putzen … Sooo! …«

Zehn Minuten später stand Herr Lerse wieder vor dem Distriktschef, aber diesmal in militärischer Haltung, um sich in vorschriftsmäßiger Weise bei seinem Vorgesetzten zu melden: »Unteroffizier Lerse zur Stelle!«

»Ich danke Ihnen!« sagte der Offizier, ihm freundlich die Hand reichend. »Ich habe zwar eigentlich kein Recht, der Einberufungsordre des Herrn Gouverneurs vorzugreifen und Sie so ohne weiteres zum Waffendienst heranzuziehen. Aber ich habe es in Ihrem Interesse getan und hoffe, daß Sie damit einverstanden sein werden … Aber rühren Sie sich doch, bitte.«

Herr Lerse gehorchte, sagte aber nichts.

Das schien der Bezirkschef dann auch gar nicht erwartet zu haben; denn ohne Herrn Lerse anzusehen, fuhr er fort: »Ich habe mir Ihre Sache inzwischen gründlich überlegt. Ich glaube kaum, daß Ihrem Hofe und Ihren Angehörigen unmittelbare Gefahr droht; denn ich bin überzeugt, daß die Unterkapitäne nicht eher etwas Ernstliches unternehmen werden, als sie von Samuel Maharero den Befehl dazu erhalten haben. Der aber sitzt vorläufig noch ganz friedlich hier auf seiner Werft, und wenn es auch zweifellos ein bedenkliches Zeichen ist, daß er eine so große Zahl von Kriegern um sich versammelt, so liegen doch bis zu dieser Stunde noch keinerlei Feindseligkeiten vor – bis auf die, von denen Sie mir berichtet haben. – Ich selbst bin heute morgen bereits auf der Werft gewesen, habe aber alles ruhig gefunden. – Wer weiß also, ob die ganze Geschichte nicht bloß eine Demonstration sein soll, durch die der schlaue Samuel irgend einen Vorteil von der Regierung zu erlangen hofft. – Es erscheint jedenfalls nicht ausgeschlossen, daß die ganze Sache sich auf dem Wege friedlicher Verhandlungen wird erledigen lassen. – Dennoch verkenne ich nicht, daß Ihr Gehöft und Ihre Angehörigen auf alle Fälle geschützt werden müssen, und deshalb habe ich mich entschlossen, nach dem Eintreffen der Verstärkung, die ich in den nächsten Stunden aus Windhuk erwarte, Ihnen so viel Leute mitzugeben, als ich irgend entbehren kann. – Sind Sie damit zufrieden?«

»Zu Befehl, Herr Oberleutnant!« entgegnete Herr Lerse aus freudigem Herzen.

»Na, sehen Sie wohl!« fuhr der Offizier fort, ihm auf die Schulter klopfend. »Und nun werden Sie auch einsehen, weshalb ich Ihnen die Uniform geschickt habe, was?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant!« antwortete Lerse. »Der Herr Oberleutnant meinten, wenn ich als Zivilist die Leute führte, das ginge nicht so recht.«

»Allerdings, Herr Lerse! – Wenn irgendwo die Disziplin wichtig ist, so ist sie es hier, wo die Leute schon an und für sich durch das freiere Leben und die bevorzugte Stellung, die sie den Eingeborenen gegenüber haben, so leicht verführt werden, über die Stränge zu schlagen und Dummheiten zu machen, für die nachher die ganze Schutztruppe und vielleicht sogar die ganze Kolonie büßen muß. Nein! Hier muß man den Mann erst recht stramm halten, und ich hoffe, daß Sie in dieser Beziehung nichts durchgehen lassen werden.«

»Gewiß nicht, Herr Oberleutnant!«

»Nun, schön; ich verlasse mich da vollkommen auf Sie. Außerdem haben Sie ja auch die Würde der Jahre für sich. – Dennoch möchte ich Ihnen raten, sich ein bißchen in die Verhältnisse wieder hineinzuleben. Es ist doch manches anders geworden seit Ihrer Zeit und hier in der Kolonie ganz besonders. Auf gute Kameradschaft also! Sobald die Verstärkung da ist, reden wir weiter.«

Damit entließ er Herrn Lerse, der stramm kehrt machte und sich aus dem Zimmer zurückzog, die frohe Hoffnung im Herzen, daß er nun bald die Seinen wiedersehen und ihnen ausreichenden Schutz bringen würde.

Als er auf den Hof trat, sah er, daß dort flott exerziert wurde. Sergeant Schauseil war gerade dabei, die sechs Reservisten, die im Laufe des gestrigen Tags eingezogen worden waren, »wieder in Schick zu bringen«, wie er sagte, Parademarsch wurde dabei freilich nicht geübt und auch mit dem »Griffe kloppen« konnte man sich nicht lange aufhalten; denn jetzt kam es vor allem darauf an, eine Truppe zu haben, auf die man sich im Gefecht verlassen konnte. Tüchtige, ruhige Schützen brauchte man und flotte Reiter, und in dieser Beziehung waren die Leute hier niemals aus der Übung gekommen.

Aber »Haltung muß trotzdem sind!« meinte der Sergeant, und damit hatte er nicht so unrecht; denn gerade in dem Kleinkriege, wie die Verhältnisse in den Kolonien ihn mit sich bringen, ist es von der höchsten Bedeutung, daß der Führer seine Truppe trotz der zerstreuten Fechtart immer in der Hand behält. Das wußten auch die Leute, und deshalb ließen sie sich's gerne gefallen, daß der Sergeant sie nicht immer mit Glacéhandschuhen anfaßte und manchmal loswetterte.

»Na,« schrie er sie an, »habt ihr denn in Kuckucks Namen reeneweg alles verlernt? … Rechtsum! habe ich kommandiert, Zittelmann! Soll ich Ihnen vielleicht een Heubündel anbinden? … Wo laufen Sie denn hin, Müller? – Ich glaube wahrhaftig, Sie wollen jleich bis Berlin marschieren! – – Nehmen Sie doch den Kolben ran, Könneke! – Das sieht ja aus, als ob Sie 'ne Heujabel auf de Schulter hätten! … Bauch rein, Häberle! – Mensch, was müssen Sie für Knödel im Leibe haben! … Janzes Bataillon … kehrt! … Na ja, ich sage es ja! Jetzt fällt der Sabitzki beinah um – wie 'n Triesel, dem die Puste ausjejangen ist … Da möchte man ja lieber Kaffern oder Hottentotten abrichten!«

Plötzlich dröhnte der Ruf des Postens über den Hof: »Rrraus!«

»Halt! Rührt euch!« rief der Sergeant, die Übung unterbrechend und nach dem Tore laufend, um nachzusehen, was es gäbe.

Gleich darauf kam er in großer Erregung zurück und rief: »Marsch! Alles vor dem Hauptportal antreten! Es jeht los!«

Die Patrouille, die zur Beobachtung der Werft ausgesandt worden war, hatte soeben die Nachricht gebracht, die Herero schienen zu Feindseligkeiten übergehen zu wollen. Ihr Kirchenältester Johannes selbst hätte einigen Herren, die auf dem Wege nach der Werft gewesen seien, zugerufen, sie möchten sich schleunigst zurückziehen, und ein Trupp Herero sei auch schon nach dem Orte unterwegs.

Auf diese Meldung hin hatte der Distriktschef sofort Lärm schlagen lassen, um auf alle Fälle vorbereitet zu sein. Aber kaum war die kleine Abteilung vor dem Hauptportal zusammengetreten, als im hinteren Teil des Orts schon die ersten Schüsse fielen, und gleichzeitig kamen von allen Seiten die weißen Bewohner angelaufen, um in der Feste Schutz zu suchen.

Nur die heißersehnte Verstärkung kam nicht, obwohl die Stunde, in der sie eintreffen sollte, längst vorüber war.

»Rössing! Ist der Draht noch in Ordnung?« rief der Distriktschef dem Telegraphisten zu, der ebenfalls zur Büchse gegriffen hatte und mit angetreten war.

»Zu Befehl, Herr Oberleutnant!« antwortete der Telegraphist. »Vor fünf Minuten wenigstens habe ich noch ein Telegramm aus Windhuk aufgenommen, daß die Abteilung abgefahren sei und pünktlich eintreffen werde.«

»Aber sie ist doch nicht da!« rief der Offizier ungeduldig. »Telegraphieren Sie sofort noch einmal und melden Sie dem Gouvernement, was hier vorgefallen ist!«

Eilig trat der Telegraphist aus dem Gliede und lief nach seiner Dienststube, um den Befehl auszuführen, kam aber gleich darauf mit der Meldung zurückgelaufen, die Verbindung sei jetzt abgeschnitten; es müsse etwas an der Leitung nicht in Ordnung sein.

»Ich dachte es mir schon!« rief der Distriktschef. »Diese Schurken! Sie haben bereits den Telegraphen zerstört und wahrscheinlich auch die Eisenbahn. Unsere Leute können nicht heran, weil die Strecke unterbrochen ist. Jetzt sitzen wir in der Mausefalle! – Aber ich hoffe,« wandte er sich weiter an die Mannschaften, »ihr werdet alle eure Pflicht tun. In wenigen Stunden muß die Verstärkung heran sein. Aber wenn sie auch nicht kommt, wenn auch schwere Tage uns bevorstehen – ich bin überzeugt, daß jeder seine Schuldigkeit tun wird – komme, was wolle – bis zum letzten Atemzuge. Wollt ihr mir das geloben, Kameraden?«

»Jawohl, Herr Oberleutnant! Bis in den Tod!« hallte es voller Begeisterung zurück.

Nur einer hatte nicht mit eingestimmt – Herr Lerse. Ihm hatte die Nachricht von dem Ausbruch des Aufstandes und von dem Mißgeschick der Verstärkungstruppe die letzte Hoffnung geraubt, den Seinen Hilfe bringen zu können. In dumpfem Vorsichhinbrüten stand er da. Mechanisch befolgte er die Befehle, aber seine Gedanken waren drüben in Marienhof, und die schrecklichsten Vorstellungen wechselten mit den bittersten Vorwürfen ab, daß er die Seinen verlassen hatte.

Dem Distriktschef entging das nicht, aber er konnte sich wohl denken, was jetzt in dem Herzen dieses Mannes vorging.

Ohne Groll trat er vor Herrn Lerse hin, reichte ihm die Hand und sagte: »Sie werden einsehen, daß es mir in der jetzigen Lage ganz unmöglich ist, Ihren Wunsch zu erfüllen, Herr Lerse. Ich würde einen Verrat begehen, wenn ich jetzt die kleine Besatzung noch schwächen wollte, die berufen ist, einen der wichtigsten Stützpunkte des Landes gegen eine vielleicht zehnfache Übermacht zu verteidigen. – Aber Sie selbst will ich nicht halten, Herr Lerse. Glauben Sie, daß Sie den Ihrigen noch nützen können, so lassen Sie sich ein Pferd geben und reiten Sie. Aber dann reiten Sie bald; denn wer weiß, wie lange es überhaupt noch möglich sein wird, durchzukommen. Also entscheiden Sie sich: wollen Sie reiten, oder wollen Sie bleiben?«

»Ich werde bleiben, Herr Oberleutnant!« antwortete nach kurzem Überlegen Herr Lerse, und seine Stimme klang jetzt wieder fest und entschlossen. »Den Meinen kann ich jetzt doch nichts mehr nützen. Denen wird Gott helfen!«

»Bravo! Das war ein wackeres Wort!« rief der Offizier, Herrn Lerse die Hand schüttelnd. »Und Gott wird ihnen helfen! Wer so auf ihn vertraut, den verläßt er nicht! – Sagten Sie nicht, daß Sie zu Hause einen Sohn hätten?«

»Jawohl, den Kaspar, Herr Oberleutnant.«

»Nun, ich hoffe doch, wer einen so braven Vater hat, der wird nicht aus der Art geschlagen sein – der wird wissen, was seine Schuldigkeit ist.«

»Jawohl, Herr Oberleutnant, das weiß der Kaspar.«

»Dann machen Sie sich also weiter keine Gedanken, Herr Lerse. Vielleicht werden wir mit den braunen Schlingeln eher fertig, als wir denken. Und das verspreche ich Ihnen: Sobald wir hier einigermaßen Luft haben, sollen Sie Ihr Kommando bekommen. – Kameraden!« wandte er sich dann, den Säbel ziehend, wieder an die Abteilung. »Wir haben diesen Krieg nicht angefangen. Auf seiten des Feindes sind die ersten Schüsse gefallen, und wir wissen nicht einmal, welche Veranlassung sie haben, sich zu empören. Aber unsere Pflicht ist es jetzt, auf alle Fälle unserem Kaiser dieses Land zu erhalten … Tue jeder, was in seinen Kräften steht. – Sergeant Schauseil! Sie besetzen mit zehn Mann die Ostbastion! Sie, Unteroffizier Lerse, übernehmen mit zehn Mann die Westbastion! Die übrigen Mannschaften werde ich selbst verteilen. – Achtung! Präsentiert das Gewehr! … Mit Gott für König und Vaterland! Es lebe Seine Majestät unser Kaiser! Hurra! Hurra! Hurra!«

Dröhnend brausten die Hurrarufe weit über den Ort hinweg, in dem die Schießerei jetzt wieder aufgehört hatte.

Dann rückten die Truppen in ihre Stellungen ein, um das Herankommen des Gegners zu erwarten.


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