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Der Heimritt.

In dem großen Krankenzimmer des Lazaretts zu Windhuk saß Herr Lerse in einem Krankenstuhl am Fenster und schaute der Sonne nach, die eben im Begriff war, hinter den westlichen Bergen zu verschwinden. Hinter den westlichen Bergen – ja, da lag Marienhof, da waren die Seinen und schauten vielleicht ebenso sehnsüchtig nach ihm aus, wie er nach ihnen. Der dritte Tag ging nun schon zur Neige, der dritte Tag, den er sie vergeblich auf seine Heimkehr warten ließ. Was mochten sie inzwischen erduldet haben. Wie mochte es ihnen ergehen? Lebten sie noch, oder …? Er mochte diesen Gedanken nicht ausdenken. Immer wenn er sich ihm aufdrängen wollte, schloß er die Augen und zwang sich los von den quälenden Bildern, die sich dann vor seiner Seele aufzurollen begannen.

Nein! Er wollte das Furchtbarste nicht glauben. Er wollte noch hoffen können. Er wollte nicht annehmen, daß es den Seinen ebenso ergangen sei, wie so vielen Ansiedlern, von deren schrecklichem Ende die Kunde selbst in die Stille der Krankenstube gedrungen war. Die Männer im Kampfe gefallen, die Frauen und Kinder erschlagen, die Gehöfte angezündet. Greuel über Greuel, wohin die entfesselte Bestie kam. – Und Marienhof allein sollte verschont geblieben sein? Marienhof, das so nahe bei der Werft lag?

Wieder rang Herr Lerse mit den entsetzlichen Gedanken. Und sie wurden stärker und stärker. Wie lange würde er ihnen noch widerstehen können? Nein, er ertrug es nicht länger! Wenn der Stabsarzt ihm heute abend nicht erlauben würde, zu reiten, dann … Ja, was dann? … Desertieren? …

Seufzend sank Herr Lerse in den Stuhl zurück. Seit drei Tagen diese Qual, und keine Aussicht auf Erlösung! …

Plötzlich fühlte er sich leise am Arm berührt. Er sah sich um und bemerkte mit freudiger Überraschung, daß der Schwerverwundete, der das Bett neben ihm einnahm und die ganze Zeit über ohne Bewußtsein gewesen war, die Augen aufgeschlagen hatte und ihn mit verwunderten Blicken anschaute.

»Könnecke!« rief er leise. »Sind Sie endlich wieder da? Gott sei dank! Was ich mich auch um Sie gesorgt habe!«

Er streckte dem Kranken die Hand hinüber, der sie mit schwachem Druck berührte und mit matter Stimme sagte: »Sind Sie's, Herr Unteroffizier? Wo bin ich denn hier?«

»Na, in Windhuk sind Sie, im Lazarett, wo sie uns alle vier hinbrachten nach der bösen Geschichte da im Bachbette. Erinnern Sie sich nicht mehr? … Wir waren doch schon dicht heran an die Windhuker, als die Feinde von allen Seiten über uns herfielen und uns niederschossen. Kein Haar fehlte, und wir wären alle vier den braunen Henkern in die Hände gefallen. Aber da machten die braven Windhuker einen Vorstoß. Marsch – marsch – hurra! Hinunter in den Bach und den Herero mit dem Bajonett auf den Leib gerückt. So retteten Sie uns. – Dem armen Lehmann war freilich nicht mehr zu helfen. Gestern haben sie ihn begraben, zugleich mit dem wackeren Leutnant, der die Windhuker führte. – Aber Neumann lebt. Er liegt da drüben. Schlecht geht's ihm ja. Aber wer weiß – mit Gottes Hilfe. – Und Sie werden auch bald wieder auf die Strümpfe kommen. Ja, ja, Könnecke, es war kein Kinderspiel. – Aber unseren Auftrag haben wir doch ausgeführt, und das ist die Hauptsache.«

»Also – der Berliner ist tot?« fragte der Kranke leise nach einer Weile. »Und der Sachse … und ich … Wie wunderbar das ist. – Nichts weiß ich von alledem, nichts … Es ist wohl schon lange her?«

»Drei Tage.«

»Drei Tage … und nichts davon wissen!«

»Danken Sie Gott, Könnecke!« antwortete Herr Lerse dumpf. »Ihnen war wohl … aber ich!«

»Sind Sie auch verwundet, Herr Unteroffizier?« fragte der Kranke, der sich mehr und mehr zu erregen begann.

»Ach, nicht der Rede wert. Ein Streifschuß am linken Bein. Wenn es nach mir ginge, wäre ich längst auf und davon. Hinüber nach Marienhof – zu den Meinen. Ich habe keine Nachricht von ihnen. Ich gehe zu Grunde, wenn ich hier noch lange herumsitzen muß!«

»Ruhe! Ruhe!« erklang jetzt eine Frauenstimme von der Tür her. Die wachhabende Schwester war eingetreten. Sie bemerkte sofort, daß Könnecke aufgewacht war und trat zu ihm, um ihn mit freundlichen Worten zu begrüßen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

»Nun? Ausgeschlafen?« sagte sie, ihm heiter zunickend. »Das ist recht. Das wird dem Herrn Stabsarzt Freude machen. Aber jetzt hübsch still verhalten, nicht wahr? Und nicht bewegen, damit der Verband sich nicht verschiebt. Es ist alles in schönster Ordnung. Ein paar Tage noch, dann sind wir wieder lustig. Aber bis dahin Geduld. Nicht wahr, Sie tun es mir zu Gefallen?«

Und der weiche Klang ihrer Stimme schien den Kranken, den die Unterhaltung doch etwas aufgeregt hatte, wirklich zu beruhigen. Er nickte nur leicht mit dem Kopfe, schloß die Augen und war gleich darauf wieder fest eingeschlummert. Mit zufriedenem Lächeln rückte die Schwester ihm die Decke zurecht und wandte sich dann an Herrn Lerse, der ihr mit stiller Bewunderung zugeschaut hatte; ihre milde Ruhe übte einen wohltuenden Einfluß auf den von Sorgen gequälten Mann.

»Daß Sie mir ihn schlafen lassen, Herr Unteroffizier!« sagte sie, Herrn Lerse leise mit den Fingern drohend. »Die Operation ist zwar glücklich verlaufen. Die Kugel ist heraus. Aber, die kleinste Aufregung kann das Fieber hervorrufen. – Warum lassen Sie sich nicht lieber hinaus in den Garten fahren? Es ist so schön kühl draußen, und Gesellschaft finden Sie auch. Ich sehe es Ihnen doch an, daß Sie sich schon wieder Gedanken machten.«

»Schwester, ich ertrage es nicht länger!« antwortete Herr Lerse, ihre Hand ergreifend und sie mit flehenden Blicken anschauend. »Sorgen Sie dafür, daß ich entlassen werde, oder ich gehe zu Grunde. Ich fühle, daß ich krank werde, wenn man mich noch länger zurückhält. Ich muß zu den Meinen. Ich halte es nicht länger aus! Erbarmen Sie sich meiner!«

»Oh! Oh! Was sind Sie für ein ungeduldiger Mensch!« entgegnete die Schwester, ihn freundlich anschauend. »Aber ich begreife Sie und fühle mit Ihnen. Nur bis morgen müssen Sie noch warten.«

»Das sagen Sie immer. Damit vertrösten Sie mich schon seit drei Tagen. Aber ich kann nicht mehr warten. Ich weiß, daß alles verloren ist, wenn ich nicht diese Nacht noch fort darf. Ich weiß es – ich weiß es!«

Er war in seiner Erregtheit so laut geworden, daß die Schwester ihm ängstlich die Hand vor den Mund hielt und sich nach den anderen Kranken umschaute. Aber es lag alles in tiefstem Frieden, nur hinten in der Ecke stöhnte im Halbschlummer ein Unglücklicher, der am Morgen eine schwere Operation erduldet hatte. Auf den Fußspitzen ging die Schwester zu ihm, kehrte aber gleich darauf zurück, winkte einem Damara, der als Diener im Lazarett beschäftigt wurde, und befahl ihm leise, Herrn Lerse in seinem Krankenstuhl aus dem Zimmer zu fahren.

Vorsichtig befolgte der Schwarze den Befehl. Die Schwester ging nebenher, sorgsam darauf achtend, daß jedes Geräusch vermieden wurde. Endlich waren sie draußen auf der Veranda. In einer Ecke, wo immergrüne Büsche den Raum begrenzten, ließ sie den Diener halt machen und sagte: »So, Herr Unteroffizier. Ich sehe, es geht mit Ihnen nicht länger. Ich werde den Herrn Stabsarzt holen lassen. Versuchen Sie, was Sie bei ihm ausrichten können.«

Herr Lerse wollte ihr danken, aber da war sie schon verschwunden. Bald darauf kam der Stabsarzt, der von der Schwester schon vorbereitet war.

»Hören Sie mal, lieber Freund,« redete er Herrn Lerse an. »Wenn Sie mir hier Rebellion machen, dann wird mir in der Tat nichts übrig bleiben, als Sie Ihrem Schicksal zu überlassen. In zwei, drei Tagen würde ich Sie so wie so entlassen haben, aber wenn Sie die Verantwortung tragen wollen …? Zeigen Sie mal her die Geschichte.«

Herr Lerse hatte in freudiger Erwartung mit Hilfe des Dieners den Verband schon selbst gelockert.

Sorgfältig untersuchte der Arzt die Wunde, erneuerte den Verband und sagte: »Es ist natürlich, wie ich mir dachte. Wenn Sie mit dem Dings da rumlaufen, oder gar aufs Pferd klettern und wer weiß was für wilde Sachen machen, riskieren Sie, daß Sie die Sache verschlimmern. – Aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Bei der ewigen Grübelei kommt schließlich auch nichts heraus. Meinetwegen versuchen Sie, wie weit Sie kommen. Aber hören Sie auf mich. Schonen Sie sich.«

»Also bin ich entlassen?« rief Herr Lerse, in seiner Freude aus dem Krankenstuhl springend. Aber im nächsten Augenblick knickte er, von Schmerzen übermannt, zusammen und wäre zur Erde gefallen, wenn der Damara ihn nicht rechtzeitig aufgefangen und zu einem Stuhl geführt hätte.

»Sehen Sie wohl!« rief der Stabsarzt. »So hurtig, wie Sie denken, geht das nun doch nicht. Jetzt werden Sie gewiß die Wunde wieder aufgerissen haben.«

In banger Verzweiflung mußte Herr Lerse zusehen, wie der Verband noch einmal abgenommen wurde. Aber glücklicherweise war nichts geschehen. Es war nur die heftige erste Bewegung gewesen, die den Schmerz verursacht hatte.

»Nun nehmen Sie sich's aber zur Lehre,« sagte der Stabsarzt, den Verband wieder schließend. »Immer langsam voran. Bei Ihrer guten Natur wird sich die Sache schließlich schon machen. Aber Vorsicht ist die Mutter der Weisheit. Getanzt wird mir fürs erste nicht; verstanden? So, jetzt werde ich Ihnen den Rapport schreiben. Dann lassen Sie sich zum Gouvernement fahren und melden sich – aus dem Lazarett entlassen. Was Sie weiter tun wollen, ist nicht meine Sache. Aber als Mensch und Kamerad rate ich Ihnen nochmals: Machen Sie keine Gewaltsachen!«

Damit drückte er Herrn Lerse die Hand zum Abschied und ging. Herr Lerse konnte kaum die Zeit erwarten, bis er hinter den Büschen verschwunden war. Dann versuchte er wieder aufzustehen. Die Wunde schmerzte auch diesmal bei jeder leisesten Bewegung, und eine Müdigkeit überkam ihn, daß er sich am liebsten gleich wieder hätte niederlegen mögen. Aber mit aller Kraft nahm er sich zusammen. Es mußte gehen, und es ging auch.

Er ließ sich von dem Damara in das Haus zurückführen, um die Uniform anzulegen. Kopfschüttelnd half ihm der Schwarze; er konnte es nicht begreifen, wie man so eilig aus dem Lazarett hinaus verlangen konnte, wo man doch nichts zu tun brauchte und so gut zu essen bekam.

Dann erschien die Schwester wieder. Herr Lerse dankte ihr auf das innigste für all die Liebe und Sorgfalt, die sie ihm angetan, und ging. Aber in der Tür blieb er noch einmal stehen und sagte: »Schwester – Sie haben mir so viel Gutes und Liebes erwiesen – Sie werden mir auch eine letzte Bitte nicht abschlagen.«

»Nun?« fragte die Schwester, ihn mit ihrer heiteren Liebenswürdigkeit anschauend. »Was haben Sie denn noch auf dem Herzen?«

»Lassen Sie mich die beiden Kameraden noch einmal sehen.«

»Aber die schlafen ja doch, Herr Unteroffizier, und sie sollen schlafen, damit sie wieder gesund werden.«

»Ich werde sie ja auch ganz gewiß nicht wecken. Ganz leise will ich zu ihnen hintreten. Nur sehen möchte ich sie noch einmal und ihnen im stillen danken; sie sind mir treue Kameraden gewesen!«

siehe bildunterschrift

Mit Tränen in den Augen schaute Herr Lerse die Verwundeten an.

»Nun denn, so gehen Sie,« antwortete die Schwester nach kurzem Bedenken. »Und da sie Ihnen so am Herzen liegen, will ich Ihnen einmal schreiben, wie es weiter mit ihnen geworden ist. Gott gebe, daß Sie dann wieder friedlich mit den Ihrigen auf Ihrem Hof sitzen und meinen Brief auch richtig erhalten.«

Herr Lerse drückte der Schwester schweigend die Hand und ließ sich dann in das Krankenzimmer führen. Neumann und Könnecke schliefen. Bleich und eingefallen lagen ihre Gesichter in den Kissen. Aber ihre Atemzüge waren ruhig, und auf ihren Zügen lag etwas wie Hoffnung auf Genesung. Mit Tränen in den Augen schaute Herr Lerse sie eine Weile an, faltete die Hände und sandte still für sich ein Gebet zu Gott empor: »Lieber Vater im Himmel! Es sind wackere Soldaten. Halte du deine Hand über sie und lasse sie wieder gesund werden.« – –

Eine halbe Stunde später stand Herr Lerse, den Schmerz verbeißend, den ihm das Strammstehen verursachte, vor dem Offizier, der den in dem Aufstandsgebiete weilenden Gouverneur in dem Windhuker Kommando vertrat. Mit fester Stimme erstattete er seine Meldung und trug dann seine Bitte vor, man möge ihm jetzt das Kommando nach Marienhof geben, das ihm schon vor drei Tagen versprochen worden sei. Er sei überzeugt, daß sein Hof und seine Familie schon seit Tagen in der höchsten Gefahr schwebten, und daß sie sicher verloren seien, wenn er ihnen nicht noch in dieser Nacht Hilfe bringen könne.

Der Offizier, der bereits vom Stabsarzt unterrichtet war, hörte ihn ruhig an und sagte dann: »Ich begreife Ihre Sorge und Ihre Ungeduld. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen helfen soll. Im ganzen Hererogebiet geht es den Farmen nicht besser als der Ihrigen. Von allen Seiten kommen die Hilferufe. Wir müßten Regimenter zur Verfügung haben, um allen helfen zu können. Aber so! Bei wem sollen wir anfangen? Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. – Und wir sind nicht einmal im stande, die Militärstationen zu entsetzen. Sie wissen ja selbst, wie es um Okahandja stand. Es ist noch dieselbe Geschichte. Die Feste ist noch immer belagert, und wer weiß, wann wir die Besatzung werden freimachen können. An anderen Orten steht es noch schlimmer. Wir haben nicht einmal so viel Leute, um die Verbindung mit dem Westen und mit der Küste aufrecht erhalten zu können. Telegraph und Bahn sind zerstört. Wenn nicht wenigstens die Landungstruppen der paar Stationsschiffe bald herankommen, weiß ich nicht, was noch werden soll. Sie werden selbst einsehen, daß es unter solchen Umständen ganz unmöglich ist, dem einzelnen zu helfen. Es geht mit bestem Willen nicht.«

»Aber es ist mir doch versprochen worden!« rief Herr Lerse, in seiner Herzensangst kaum fähig, die dienstliche Haltung zu bewahren. »Nur deshalb habe ich mich doch entschlossen, ohne Einberufungsordre bei der Truppe zu bleiben. Ich gehöre längst zum Landsturm. Wenn man mir die Patrouille nicht zugesagt hätte, wäre ich sogleich wieder heimgekehrt. Seit drei Tagen warten die Meinigen auf mich. Seit drei Tagen sind sie ohne jede Nachricht. Seit drei Tagen kämpfen sie vielleicht gegen eine Übermacht, der sie schließlich erliegen müssen. Ich beschwöre Sie, Herr Hauptmann: wenn Sie mir schon keine Reiter mitgeben können, so lassen Sie mich wenigstens allein ziehen. Entbinden Sie mich von dem Dienst, den ich freiwillig auf mich genommen habe. Halten Sie mich nicht zurück, meine Pflicht zu tun. Gestatten Sie mir, zu reiten!«

»Es ist Ihnen versprochen worden?« sagte der Hauptmann, unruhig im Zimmer auf und ab gehend. »Das wußte ich nicht. Das ist allerdings etwas anderes. – Aber was soll ich nur tun? – Ich habe doch keine Leute mehr! Die letzten zehn Mann, die ich entbehren kann, müssen heute nacht nach Groß-Barmen. Die Station hat dringend um Verstärkung gebeten. Und sie muß gehalten werden, wenn uns nicht die Verbindung mit der Küste ganz verloren gehen soll.«

»Nach Groß-Barmen, Herr Hauptmann?« rief Herr Lerse, sobald der Offizier geendet hatte. »Aber dann ist mir ja geholfen! Geben Sie mir die zehn Mann, Herr Hauptmann! Mein Hof liegt auf dem Wege nach Groß-Barmen. Die Zeit, die vielleicht verloren geht, um die Meinen zu retten, bringen sie reichlich dadurch ein, daß ein Wegkundiger sie führt. Vertrauen Sie mir die Führung der Leute doch an. Ich verspreche, daß sie bis morgen mittag bestimmt in Groß-Barmen sein sollen!«

Wieder ging der Hauptmann eine Weile in lebhaftester innerer Bewegung durch das Zimmer, bis er endlich vor Herrn Lerse stehen blieb, ihn bei beiden Schultern faßte, so daß Herr Lerse kaum im stande war, sich auf seinem kranken Bein zu erhalten, und sagte: »Aber Mann! Sie sind vor drei Tagen erst verwundet worden. Sie sind mit Not und Mühe eben aus dem Lazarett gekommen. Sie werden mir unterwegs zusammenbrechen. Sie können das nicht aushalten!«

»Herr Hauptmann, ich arbeite seit einem Jahrzehnt als Ansiedler in diesem Land,« entgegnete Herr Lerse, dem Vorgesetzten fest ins Auge blickend. »Ich habe mir aus nichts einen Hof geschaffen und eine Herde, die sich sehen lassen kann. Vermögen Sie zu beurteilen, was ein Mensch muß aushalten können, bis er das erreicht hat?«

Der Ton, mit dem er diese Worte sagte, ging dem Hauptmann durch und durch. Ohne seine Schultern loszulassen, sah er ihn eine Weile voll Hochachtung und Bewunderung an, nahm dann seine Hand und sagte: »Herr Lerse! Solange solche Männer da sind wie Sie, wird unsere Kolonie nicht zu Grunde gehen. – Ja! Ich will die Verantwortung auf mich nehmen. Sie sollen die zehn Mann bekommen. Schon müssen sie auf dem Hofe bereit stehen. Der Gefreite weiß Bescheid. Lassen Sie sich ein gutes Pferd geben. Ich werde das weitere veranlassen. Reiten Sie mit Gott! Und der Himmel gebe, daß Sie noch rechtzeitig ankommen, um die Ihrigen und Ihren Hof zu retten!«

Unfähig, sich zu beherrschen, wollte Herr Lerse sich niederbeugen, um die Hand des Mannes zu küssen, der ihm endlich – endlich die Erfüllung seines glühenden Wunsches bescherte.

Aber der Hauptmann wehrte ihn ab. »Was tun Sie!« sagte er schlicht. »Wir sind Soldaten! – – Leben Sie wohl und erfüllen Sie mit besten Kräften Ihren Auftrag. Spätestens bis morgen mittag in Groß-Barmen. Das übrige weiß der Gefreite. Damit Gott befohlen!« – –

»Ein Gefreiter und neun Mann zur Stelle,« meldete der Gefreite Wedemeyer, als Herr Lerse, auf einem stattlichen Fuchs beritten, auf die kleine Truppe zukam, um das Kommando zu übernehmen.

Herr Lerse, der in seiner freudigen Erregung die Wunde ganz vergessen hatte und wie ein vollständig Gesunder ohne Hilfe in den Sattel gestiegen war, dankte und musterte die Leute, die in tadelloser Haltung in Reih und Glied auf ihren Pferden saßen, als ob sie mit ihren Tieren in eins verwachsen wären. Kampflust und Begeisterung leuchtete aus ihren Augen. Sie waren stolz, daß Unteroffizier Lerse sie führen sollte, dessen tapferes Verhalten sie selbst mit angesehen hatten; denn sie waren alle dabei gewesen, als es in das Bachbett hinabging, um die wackere Patrouille zu retten.

»Guten Abend, Kameraden!« sagte Herr Lerse.

»Guten Abend, Herr Unteroffizier!« klang es freudig zurück.

»Ihr wißt alle, um was es sich handelt?« fuhr Herr Lerse fort.

»Jawohl, Herr Unteroffizier, wir wissen es!«

»Nun denn – mit Gott! Rechts schwenkt – marsch! Richt't euch! Augen rechts!«

Sie ritten in Parademarsch an dem Hauptmann vorbei, der grüßend und ihnen nachschauend am Fenster stand, und bogen dann, sobald sie den Hof verlassen hatten, nach links ab, um die große Fahrstraße zu gewinnen, die nach dem Swakoptale hinauf führte und bis zur Eröffnung der Bahnstrecke den Hauptverbindungsweg zwischen der Hauptstadt und Swakopmund bildete. Eben hatten sie den nur durch die tiefen Wagenspuren kenntlichen Weg erreicht, als die Nacht hereinbrach. Da schweres Gewölk den Himmel bedeckte und ein Gewitter sich zusammenballte, war es ganz dunkel.

Aber Herr Lerse kannte die Straße; er hatte sie oft genug benutzt, zu Pferd und zu Wagen, als es im Anfang galt, mit dem Gouvernement wegen der Landankäufe zu verhandeln und alles Nötige zu den Bauten heranzuschaffen. Er ritt voran und ließ die Leute in einer Reihe hintereinander folgen. So kamen sie, da sie fast immer Trab reiten konnten, rasch vorwärts und erreichten in wenigen Stunden das Flußtal. Hier bogen sie vom Wege ab. Das Gewitter war inzwischen aufgekommen. Es regnete heftig. Aber der Fluß führte trotzdem nur wenig Wasser, und in dem weichen Sande ritt es sich besser, als oben auf der holperigen Straße.

Plötzlich hörten sie aus der Ferne vor sich Kindergeschrei und das Rufen eines Mannes, der Ochsen anzutreiben schien.

Herr Lerse ließ halt machen und befahl dem Gefreiten mit zwei Mann vorauszureiten, um zu erkunden, was es dort gäbe. Schon nach kurzer Zeit kam Wedemeyer mit der Meldung zurück, daß es flüchtige Ansiedler seien, die sich mit ihrem Wagen im Flusse festgefahren hätten und um Hilfe bäten.

»Eskadron Trrrab!« kommandierte Herr Lerse.

In wenigen Minuten erreichten sie die Unfallstelle, und ein herzzerreißender Anblick bot sich nun ihren Augen dar. Mitten im Wasser stand ein Wagen, ganz bepackt mit allerlei Hausrat. Auf einem Haufen Betten lag, von dem Regen vollständig durchnäßt, eine kranke Frau, ängstlich bemüht, zwei schreiende Kinder festzuhalten, die sich vor dem Gewitter fürchteten und bei jedem Donnerschlage und jedem Blitze zusammenfuhren und Gefahr liefen, von dem ganz schief stehenden Wagen herabzurutschen und in das Wasser zu fallen, während der Mann, ein blutiges Tuch um den offenbar verwundeten Kopf geschlungen, sich vergeblich bemühte, mit den beiden Ochsen den Wagen vorwärts zu bringen.

»Abgesessen!« befahl Herr Lerse, bestimmte zwei Reiter zum Halten der Pferde und eilte mit den anderen auf den Mann zu, in dem er sogleich einen deutschen Ansiedler erkannte, der sich erst vor kurzem in einem weiter östlich liegenden Seitentale des Swakop, kaum fünf Stunden von Marienhof, niedergelassen hatte.

»Herr Weber, Sie?« rief Herr Lerse, ihm die Hand entgegenstreckend. »Sind denn die Herero bei Ihnen auch schon gewesen?«

»Oh! – Herr Lerse!« antwortete der Ansiedler, außer sich vor Freude, in der höchsten Not einen Retter gefunden zu haben. »Sie schickt mir der Himmel! Ohne Sie wären wir alle zu Grunde gegangen. Die Frau sterbenskrank – vor Schreck – vor Angst! – Ich verwundet – die Kinder! Oh, wenn Sie wüßten, was wir durchgemacht haben! Sagen Sie uns um Himmels willen nur: Ist der Weg nach Windhuk frei? Ist Windhuk noch nicht belagert? Werden wir dort unterkommen? Ich beschwöre Sie, sagen Sie es mir. Wir können nicht weiter!«

Jedes Wort fuhr Herrn Lerse wie ein Messer ins Herz. Würde es den Seinen nicht vielleicht ebenso ergehen? – Aber er bezwang sich, suchte den Unglücklichen zu beruhigen, befahl den Reitern, den Wagen aus dem Wasser zu schieben, ergriff selbst die Deichsel und bemühte sich zugleich, aus dem aufgeregten Manne herauszubringen, was sich denn eigentlich zugetragen habe.

»Wir haben Schlimmes erleben müssen!« begann der Ansiedler, dabei bemüht, die Ochsen anzutreiben, während einer von den Reitern die schreienden Kinder auf den Arm nahm und die anderen in das Wasser wateten und in die Speichen griffen, um das schwere Fahrzeug auf diese Weise vorwärts zu bringen. »Wir hatten ja doch gar keine Ahnung. – Hui! Hui! – Es ist so viel zu tun jetzt, wo die Regenzeit anfängt. Wer kann sich da viel drum kümmern, was draußen vorgeht. – Hui! Hui! – Wir hatten noch heute morgen das Stück Land umgegraben, wo der Garten hin soll, und dachten an gar nichts weiter. Da – heute nachmittag – hui! hui!« –

Jetzt endlich begann das festgefahrene Fuhrwerk sich zu regen.

»Hui! Hui!« schrie der Ansiedler immer wieder. »Hupp! Hupp!« riefen die Soldaten. Ein mächtiger Ruck und der Wagen stand glücklich am Rande. Aber jetzt kam es darauf an, ihn durch den tiefen Sand nach der höher gelegenen Straße hinaufzubringen. Das war mit den beiden Ochsen unmöglich.

»Versucht, ein paar von euren Pferden vorzuspannen!« befahl Herr Lerse.

Rasch wurde der Befehl ausgeführt, und während der Ansiedler den Soldaten half, die Pferde mit Stricken vor die Deichsel zu schirren, fuhr er fort: »Ach, Herr Lerse! Wie soll ich Ihnen danken. – Wenn wir nur erst in Windhuk wären! Mein armes Weib! – Wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam es über uns. Wir saßen gerade mit unseren beiden Damara beim Vespern. – Da – ein furchtbares Geschrei. – Im nächsten Augenblick wimmelte der Hof von Herero. – Ich rannte ins Haus nach meiner Flinte. Aber da bekam ich schon eins mit der Wurfkeule auf den Schädel, so daß ich besinnungslos umfiel. – Als ich wieder zu mir kam, – war niemand mehr da. Mein Haus brannte, alles darin war verwüstet, das Vieh fortgetrieben, die Damara weggelaufen. – In meiner Todesangst suche ich nach der Frau und den Kindern. Endlich finde ich sie. Im Keller hatten sie sich versteckt. – Glücklicherweise waren auch die beiden Ochsen noch da, die ich weiter unten in einer Schlucht stehen hatte. Der Wagen stand auch noch in der Scheune. Die Wilden mochten es sehr eilig gehabt haben. Und viel war ja bei mir nicht zu holen. – Schnell raffte ich das Nötigste aus dem brennenden Hause zusammen. Wer weiß, ob sie nicht wieder kommen! – Alles auf den Wagen, und so sind wir hierher gelangt. Ach, Herr Lerse, helfen Sie uns weiter! – Die Kinder – und die arme Frau! Sie wird es nicht überleben! Hui! Hui!«

Wieder trieb er seine Ochsen an; denn inzwischen war man mit dem Anschirren der Pferde fertig geworden. Die Tiere weigerten sich eine Weile, den ungewohnten Dienst zu verrichten. Aber endlich zogen sie doch an, und nun stand der Wagen bald oben auf der Straße.

Mit fieberhafter Anstrengung hatte Herr Lerse selbst mit zugegriffen. Sein Bein begann wieder zu schmerzen, aber er achtete nicht darauf. Nur schnell! Nur schnell! Weiter! Nach Marienhof! – Im Keller Weib und Kind! Das Haus angezündet – alles verwüstet – das Vieh fortgetrieben – und wenn die Plünderer wiederkommen!

»Los die Pferde! – Sie finden den Weg nach Windhuk frei! – Weiter kann ich Ihnen nicht helfen! – Aufgesessen!« rief er, ohne den Dank des Ansiedlers abzuwarten, rief vorwärts ging es, was die Pferde laufen wollten.

Eine kleine Weile noch hörte man das Weinen der Kinder, die wieder auf den Wagen zu der bleichen Mutter gehoben worden waren, dann war alles still, bis auf den Donner des Gewitters, der unheimlich in dem engen Tale widerhallte.

Aber das Gesicht der unglücklichen Frau wollte Herrn Lerse nicht aus dem Sinn. Es folgte ihm durch die Nacht und trieb ihn vorwärts. Wie würde er sein eigenes Weib wiederfinden? …

So jagten sie dahin. Einmal wurde vom anderen Flußufer her geschossen. Vielleicht eine Hererobande, die in der Gegend herumstreifte und nach Beute suchte? Gleichviel! Nur vorwärts! Nur keinen Aufenthalt mehr! Das Flußtal wurde breiter. Es bog nach Westen ein. Jetzt noch zwei Stunden so fort, und man konnte Marienhof von den gegenüberliegenden Höhen aus liegen sehen.

»Rechts schwenkt! Durch den Fluß!« befahl Herr Lerse, nachdem sie etwa eine Stunde unten in flotter Gangart weitergeritten waren.

Ohne Mühe kamen sie durch das seichte Gewässer, das von dem Regen, der jetzt nachgelassen hatte, hier noch stehen geblieben war. Nun ging es am anderen Ufer bergan. Nach einer Weile machte Herr Lerse auf einer Anhöhe halt. Dort unten rechts lag Isaaks Werft. Nichts war in der dunklen Nacht von ihr zu erkennen. War sie verlassen? Aber nein, dort drüben war ein Feuerschein – und dort noch einer.

Von neuer Besorgnis getrieben, sprengte Herr Lerse weiter, so schnell, daß die mit den schlechten Felsstegen nicht vertrauten Reiter kaum zu folgen vermochten. Er sah schon im Geiste die Flammen, die von Marienhof in die dunkle Nacht aufstiegen. Aber als er die Höhe erreicht hatte, von der aus man nach dem Gehöfte hinübersehen konnte, atmete er auf. Kein Feuerschein war zu erkennen. Alles lag ruhig, wie sonst.

Die letzte Strecke wurde nun rasch zurückgelegt. Schon sah Herr Lerse in dunklen Umrissen die Mauer seines Hofes vor sich aufragen. Gleich darauf hielt er vor dem Tore. Es war verschlossen. Er nahm die Büchse vom Rücken und pochte mit dem Kolben. Niemand antwortete. Schliefen sie so fest? Und warum schlugen denn die Hunde nicht an?

Er klopfte wieder, immer stärker und stärker. – Aber auch diesmal kein Lebenszeichen. Jetzt bemerkte er die Brandstellen am Tore. Eine furchtbare Ahnung packte ihn.

Aber dann sagte er sich, daß doch sicher nicht das Tor von innen verriegelt sein würde, wenn die Herero auf dem Hofe gewesen wären.

Er begann aufs neue zu pochen und zu rufen; mit demselben Erfolge. Nun führte er das Pferd dicht an die Mauer, richtete sich in den Steigbügeln auf und versuchte so auf die Mauer zu gelangen. Aber gleich darauf sank er in den Sattel zurück. Bei der ersten Bewegung fing das Bein wieder an so entsetzlich zu schmerzen, daß er gar nicht daran denken konnte, den Sprung über die Mauer zu wagen.

Inzwischen waren die Reiter herangekommen.

»Gefreiter!« rief er. »Hier ist mein Hof. Aber niemand öffnet. Wollen Sie versuchen, über die Mauer zu kommen und das Tor von innen zu öffnen? Doch nehmen Sie sich in acht. Es sind Glasscherben auf der Mauer.«

»Sehe schon, Herr Unteroffizier!« antwortete Wedemeyer, der mit Hilfe zweier Reiter bereits am Mauerrande stand und mit dem Säbelknauf die Glasscherben zu entfernen suchte. »So – jetzt wird es schon gehen.«

Er sprang in den Hof, und gleich darauf öffnete sich das Tor.

Sie ritten in den Hof. Die Reiter stiegen ab und halfen Herrn Lerse aus dem Sattel. Vor Schmerz vermochte er sich kaum auf den Beinen zu erhalten. Aber die Augst trieb ihn vorwärts.

»Untersuchen Sie den Hof!« rief er den Reitern zu und trat selbst in das Haus.

Die Tür war eingeschlagen. In der Diele bemerkte er trotz der Dunkelheit die Verwüstungen, die der wilde Stier angerichtet hatte. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Er machte Licht und stürmte, so schnell die Wunde es erlauben wollte, hinein. Die Betten waren ausgeräumt, die Schränke leer. Er eilte weiter in das Wohnzimmer. Die Möbel standen, wie er sie verlassen hatte. Aber auch hier ließ sich deutlich erkennen, daß die leichter beweglichen Habseligkeiten in der Eile zusammengerafft und fortgeschafft waren.

Es konnte also kein Zweifel sein: sie waren entflohen. Aber wohin – unter welchen Umständen?

Erschöpft sank er auf einen Stuhl.

Die Reiter kamen zurück. Der Gefreite trat, dem Lichtschein folgend, ein und meldete, daß sie auf dem Hofe niemand gefunden hätten. Es scheine, daß hinter dem Hause sich eine große Menge Vieh aufgehalten habe. Neben der Scheune sei eine ziemlich frische Brandstelle. Sonst sei nichts Besonderes wahrzunehmen.

Herr Lerse raffte sich auf und eilte in den Hof. Richtig! Der Stall war niedergebrannt. Aber sonst stand alles unversehrt. Wie hing das alles zusammen? Er blickte in die Scheune. Die Wagen waren fort. Sie hatten sich gerettet. Aber wohin? – Wohin!

Und wieder lief er in das Haus, untersuchte die Küche, die anderen Zimmer. Überall nur die Bestätigung der Flucht, aber nichts weiter. Das einzige war, daß auf dem Herd in der Küche das Feuer noch brannte. Sie konnten also noch nicht lange fort sein. Endlich bemerkte er in der Wohnstube auf dem Schreibtisch ein Blatt Papier. Mit zitternden Händen griff er danach, hielt es an das Licht und las nun:

 

»Wir sind alle gesund. Der Brunnen versagte, darum sind wir Herrn Körner gefolgt, der uns nach Groß-Barmen bringen will.

Kaspar.«

 

»Vorwärts! Aufgesessen! Nach Groß-Barmen!« rief Herr Lerse, aus dem Zimmer eilend.

Der Gefreite schloß das Tor von innen wieder und kletterte auf einer Leiter, die hinter der Mauer am Boden lag und die er nach der Benutzung hinter sich umwarf, über die Mauer zurück.

Wenige Minuten später sprengte die kleine Reiterschar an dem Garten und dem verlassenen Kraale vorüber nach Westen davon, ihrem Bestimmungsort zu.


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