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Der Vertreter der Großherzoglichen Regierung im Bundesrat nach Watzdorfs Tode, D. Theodor Stichling, trat nunmehr in den Vordergrund, so daß es angezeigt ist, seinen Lebensgang zu skizzieren. Die Notizen sind seinen eigenen Aufzeichnungen entnommen. »Aus dreiundfünfzig Dienstjahren.« Erinnerungen von D. Gottfried Theodor Stichling, weimarischem Staatsminister. (Weimar 1891.)
Stichlings Vater hatte in erster Ehe eine Tochter Wielands geheiratet, nach ihrem Tode deren Freundin, Theodore Luise v. Herder, Herders einzige Tochter, die ihm 1814 den Sohn Theodor gebar. Er wurde ein Gespiele des Erbprinzen Karl Alexander, erhielt mit ihm Unterricht in Mathematik bei Soret und – mit anderen Spielgefährten – militärische Unterweisung. Stichling bewahrte große Dankbarkeit für die Herzogin Luise, die die beiden Knaben oft abends bei sich hatte. Als Deputierter der Gymnasiasten folgte er Goethes Leichenzug. Nach dem beendeten Studium der Rechtswissenschaft in Jena wurde er Regierungsakzessist in Weimar und verlobte sich mit Marie Mettingh, die er 1838 als geheimer Referendar im Ministerium heiratete. Minister v. Gersdorf, unter dem Stichling damals arbeitete, ließ es sich angelegen sein, den jungen Mann, der ihn durch seinen Verstand und die auffallende Liebenswürdigkeit anzog, mit allen interessanten Erscheinungen der Literatur bekannt zu machen und dadurch zu seiner allgemeinen Bildung beizutragen. 1843 trat Watzdorf als Staatsminister ein, 1848 kam Wydenbrugk hinzu, Stichling und Bergfeld wurden zu Staatsräten ernannt. Der Abgesandte, von dem im ersten Band erzählt wurde, daß er in Altenburg Militär requirieren mußte, war Stichling; er fand die Stadt wie in ein Kriegslager verwandelt. Bei den Umwandlungen unter Watzdorf war Stichling, der seinen Chef schätzte und dessen Reformen sehr anerkannte, ein treuer Mitarbeiter. In der neuen Einrichtung bekam er das Präsidialdepartement des Großherzoglichen Hauses und des Auswärtigen, die Bundesangelegenheiten, den Schriftenwechsel mit dem Landtag, die Universität Jena und das Staatsarchiv, zugleich aber wurde er, »kraft höchsten Auftrages«, beratendes Mitglied des Ministeriums und, neben den Departementschefs, stimmführendes Mitglied. Das Referat für Jena war für denselben wegen seiner Freundschaft mit dem 1851 eingetretenen Kurator, Staatsrat v. Seebeck, sehr angenehm. 1858 bei der dreihundertjährigen Jubelfeier wurde Stichling Ehrendoktor der Rechte. 1850-53 war er im Verwaltungsrat der Thüringischen Bahn, legte das Amt aber nieder, um in den Verwaltungsrat der Weimarischen Bank einzutreten. Dadurch lud er sich viel Unangenehmes, viel Sorge auf, denn die Bank mußte – unter wenig günstigen Umständen – wieder eingehen. – An Herders hundertjährigem Geburtstag wurde dessen Enkel in die Freimaurerloge ausgenommen, ein Jahr später ernannte man ihn – nach dem Tode des Ministers v. Fritsch – zum »Meister vom Stuhl«. Das Jahr 1863 brachte ihm am 24. Juni den Titel Geh. Staatsrat; auch konnte er, umgeben von sieben Kindern, die silberne Hochzeit mit seiner Gattin feiern. 1864, nach Vogels Tode, erhielt Stichling das Referat über die Anstalten für Wissenschaft und Kunst in Weimar und Jena.
Wie schon erwähnt, erhielt er das Departement des Kultus nach Wintzingerodes Abgang. So stand er an der richtigen Stelle, um seinen Lieblingsplan, die Einführung einer Synodalverfassung für die Landeskirche, anzubahnen. Der Kirchenrat gab seine Zustimmung, aber in kirchlichen Kreisen wurde von der äußersten Linken und der äußersten Rechten dagegen gekämpft. Im Juni 1870 verschob man den Beschluß bis zum Herbst – aber der Krieg unterbrach damals alles!
Nach Watzdorfs Tod übernahm Stichling das Departement des Großherzoglichen Hauses und des Äußeren und – wie schon erwähnt – die Vertretung im Bundesrat. Auf diesem Posten erlebte er die interessantesten Tage dieses Winters in nächster Nähe: Kaisers Geburtstag, Eröffnung des Reichstages durch den Kaiser, den Einzug der Truppen und das große Diner im Schloß an demselben Tage. – Großes Vertrauen brachte ihm die Kaiserin entgegen; er mußte ihr schriftlich aus Bundestag und Reichstag berichten; er nennt sie »eine treffliche Fürstin, die, wie mir scheint, in Preußen nicht immer nach Gebühr gewürdigt worden ist«. – Nach der Rückkehr des Großherzogs wurde der Geh. Staatsrat Gustav Thon, der Chef des Finanzdepartements, zum Staatsminister ernannt, Stichling bekam neben seinen früheren Geschäften noch die Justiz. Als dritter Departementschef für die inneren und die auswärtigen Angelegenheiten wurde der Vizepräsident des Appellationsgerichts in Eisenach, Freiherr Rudolph v. Groß, gewählt.
In den nächsten Jahren klärten sich die Ansichten über die Synodalordnung. Die orthodoxen Gegner, an ihrer Spitze Freiherr Georg v. Rotenhahn auf Neuenhof, hatten kein neues Terrain erobert und wollten nicht als Hindernis gelten. Der Kirchenrat und das Gesamtministerium mit dem Großherzog an der Spitze gaben ihre Zustimmung, so daß die Synodalordnung am 29. März 1873 publiziert und die erste Synode im September 1874 gehalten werden konnte. Sie hatte namentlich mit Gehalts- und Pensionsaufbesserung der Geistlichen zu tun und verlief – wie auch in den folgenden Jahren – auf das friedlichste.
Viele Schwierigkeiten hatte Stichling mit dem Hoftheater durchzumachen, dessen Anforderungen jährlich stiegen; und doch war es Pflicht und Ehrensache, gerade diese Anstalt mit ihren großen Erinnerungen nicht sinken zu lassen. Die Freundschaft, die ihn mit Loën verband, hat manche Schwierigkeit erleichtert.
Bei der neuen Justizorganisation, um die Reichsgesetze für unser Land nutzbar zu machen, nennt Stichling an erster Stelle den Staatsrat Dr. Brüger, der nur großer Sachkenntnis und Arbeitskraft vorzügliche Dienste leistete. – Am 1. Oktober 1879 konnte Stichling – im Auftrag aller thüringischen Staaten – das neue gemeinschaftliche Oberlandesgericht in Jena eröffnen. Er beschloß seine Rede mit den Worten: »So beginne denn das neue gemeinschaftliche thüringische Oberlandesgericht seine ernste, bedeutungsvolle Tätigkeit: zum Schutze des Rechts, zur Steuer des Unrechts, fest und unwandelbar, lauter und rein, ein Vorbild dem ganzen Richterstande des Thüringer Landes, ein Hort des Vertrauens für und für!« – Bei dem fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläum des Großherzogs wurde Stichling zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem Titel Exzellenz ernannt.
Ende 1882 starb der Staatsminister Thon, ein vortrefflicher Beamter, der mit seinem stillen Wesen nirgends hervorgetreten war, sich aber die größte Hochachtung aller Klassen erworben hatte. Stichling wurde sein Nachfolger und rühmte von ihm, daß er »mit tiefem, umfassendem Wissen, mit klarem Geiste und maßvollem, gerechtem Sinn überall die rechten Wege zu finden und zu zeigen wußte«. Stichling behielt Kultus und Justiz, die Finanzen übernahm Staatsrat Vollert, an dessen Stelle, als Direktor des Kultusdepartements, Dr. Guyet trat.
Der nunmehrige Staatsminister erzählt von seinen Zusammenkünften mit Bismarck, der immer anerkennend von Karl Alexander sprach und ihn eine der festesten Säulen des Reiches nannte. Zu des Reichskanzlers fünfzigjährigem Dienstjubiläum, am 1. April 1885, brachte ihm Stichling die Brillanten zum Großkreuz des Falkenordens, das Bismarck natürlich schon längst besaß. Die Rede kam auf unsere Frau Großherzogin, und der Reichskanzler sagte: »Ja, es wäre freilich besser gewesen, wenn die Regierungsnachfolge in den Niederlanden auf die weibliche, anstatt auf die männliche Linie übergegangen wäre.«
Am 8. September 1886 beging Stichling sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum. Von allen Ehrungen nennt er nur den Roten Adlerorden I. Klasse, den Minister Bötticher persönlich überbrachte, und die Adresse, die der ständige Ausschuß der Landessynode ihm überreichte, denn unterzeichnet hatte auch Herr v. Rotenhahn, der früher ein so eifriger Gegner der Sache gewesen war.
1888 konnte das alternde Ehepaar die goldene Hochzeit begehen. Die Abnahme seiner Kräfte fühlend, wollte Stichling sich von den Geschäften zurückziehen, blieb aber – auf den Wunsch des Großherzogs – bis 1. Februar 1890 im Amt. Lange hat er die wohlverdiente Ruhe nicht genossen, am 22. Juni 1891 schloß er die Augen. Seine Gattin überlebte ihn fast zwanzig Jahre, sie starb nach langen Leiden in der letzten Stunde des Jahres 1910.
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Das künstlerische Leben war nach dem Krieg allmählich wieder in die gewohnten Bahnen gekommen. Im Mai 1873 war die Säkularfeier der ersten deutschen Oper, die man in Weimar gegeben hatte, einer »Alceste« von Schweitzer; sie wurde durch die Aufführung von fünf deutschen Opern begangen: »Armide«, »Don Juan«, »Fidelio«, »Freischütz« und »Die Meistersinger«. Dieser letzte Tag der Säkularfeier fiel zusammen mit dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum Mildes, am 23. Mai. Wie warm man ihn feierte, habe ich schon an anderer Stelle erzählt In »Zwei Menschenalter«., hier soll nur der Auszug aus einem Briefe seiner Frau an Fräulein v. Mangoldt die Stimmung und Empfindung wiedergeben:
Ungedruckt.Weimar d. 10. Juni 1873.
... Es sind uns bei dem schönen Feste so reichliche, wahrhaft herzbewegende Zeichen von Wohlwollen und Freundschaft zugekommen, daß die Herzen von Dank überfließen ... Ihr gut Weimarisches Herze – ich darf auch wohl sagen – Ihr gut Milde'sches – hätte vor Vergnügen gezittert, wenn es das Alles mit erlebt hätte. Sie hätten den Tag mit erleben müssen, um ganz zu fassen, welche Fülle der Ehren auf das geliebte Haupt meines Mannes gehäuft worden ist ... Es war ein Fest ächter Anerkennung, nicht nur der Resultate langjähriger künstlerischer Bestrebungen, sondern auch der Quelle derselben, einer edlen Menschenseele!
Am 1. Juni war das letzte Gastspiel von Otto Devrient – dem Sohne Eduards, des Intendanten in Karlsruhe – als »Mephisto«. Er wurde engagiert und hat in den drei Jahren seines Hierseins als Regisseur und Schauspieler viel des Guten geleistet. Wir werden sehen, zu welch großer Arbeit er mit seinem Fleiß und Feuereifer Lassen veranlaßte. Mittlerweile hatte dieser Musik zu Sophokles' »König Ödipus« komponiert, der im Februar 1874 seine erste Aufführung erlebte. Im Juni kam endlich »Tristan und Isolde« unter Lassens Direktion heraus. Herr und Frau Vogl aus München sangen die Titelrollen, Milde als »Kurvenal« war den Gästen mindestens ebenbürtig; Fräulein Dotter war unsre erste »Brangäne«. Gerade ein Jahr später war zweimal dieselbe Aufführung mit denselben Gästen, es gab damals noch keine anderen Sänger, die diesen anstrengenden Rollen gewachsen waren. Man hielt das ganze Drama für so schwer, daß selbst Liszt an der Möglichkeit zweifelte, es hier geben zu können. Aber Lassen sagte sicher und ruhig: »Wenn man die Meistersinger aufführen kann, so ist Tristan und Isolde nicht mehr schwer.«
Zur Säkularfeier der Ankunft Goethes in Weimar wurde ein Zyklus von Festvorstellungen seiner Werke gegeben. Er begann am 6. November 1875 mit »Clavigo« und »Erwin und Elmire«, letzteres mit der Musik von Herzogin Anna Amalia. Der 7. November brachte einen Prolog von Adolf Schöll und »Iphigenie auf Tauris« mit der Ouvertüre von Gluck; der 18. Dezember »Egmont«; der 8. Januar 1876 »Tasso«; der 8. März »Die natürliche Tochter«; der 6. und 7. Mai endlich den ersten und zweiten Teil von Goethes »Faust«, von Otto Devrient als Mysterium für zwei Tagewerke eingerichtet, mit Musik von Edouard Lassen. Diese Schlußtage des Goethe-Zyklus waren von allen der Sache Nahestehenden mit großer Spannung erwartet und die Arbeit der befreundeten Künstler mit Anteilnahme verfolgt worden. Näheres in »Zwei Menschenalter«. Keine Einrichtung des »Faust« hat wohl eine so warme, nachhaltige Aufnahme gefunden. Jahrelang wurde sie zu Ostern oder Pfingsten gegeben und zog jedesmal viele Kunstfreunde hierher. Devrient gab den »Mephisto« mit Grazie und köstlichem Humor; Paul Brock, der seit 1872 die Bonvivants in den Lustspielen vortrefflich spielte, mußte die Rolle des »Faust« übernehmen. Er war als Mensch und Künstler sehr beliebt, deshalb trug man es ihm nicht nach, daß er diese Riesenaufgabe nicht durchaus erfüllte – aber gibt es denn überhaupt einen Schauspieler, der das kann? »Gretchen« wurde von der jugendlichen Weimaranerin Fräulein Gündel sehr gut gegeben. Savits war der beste »Schüler«, den man je gesehen; Milde sang und sprach den »Lynkeus« wundervoll und Fräulein Semmler entzückte durch Schönheit und Spiel als »Euphorion«. Daß diese enorme Leistung – denn die Aufführungen waren im ganzen vortrefflich – nur mit dem hiesigen Personal gemacht wurde, zeigt, wie gut Loën sein Theater leitete und was für tüchtige Kräfte er hatte. Devrient führte die Regie, trotz seiner großen Rolle, und Lassen am Pult war als zweiter Regisseur zu rechnen. – Devrient wurde wegen der Umstellungen der Szenen und der Striche, die er sich erlaubt hatte, von den Goethe-Philologen angegriffen; Lassens Musik von manchen als zu unbedeutend für die erhabenen Worte gefunden. Jeder von ihnen hatte sein Bestes getan, sie haben das herrliche Werk dem Publikum so bekannt gemacht und so nahe gebracht, wie vorher und nachher niemand. Also seien sie noch über das Grab hinaus bedankt für die Weihestunden, die sie uns bereitet.
Karl Alexander, der solche Ereignisse in Weimar mit vollstem Interesse begleitete, schreibt am 5. Mai von der Wartburg aus an Fanny Lewald:
... Daß Goethe Lebensphilosoph ist, lehrt das Leben jedem Menschen, der dem Werthe des Lebens gemäß zu leben strebt. Ich begreife daß man für Schiller schwärmt, zu leben begreife ich nur mit Goethe. In dieser Epoche gerade, selbst noch in dieser Nacht, auf einsamem Pirschhause im Walde, bin ich von dieser Wahrheit mehr denn je durchdrungen, indem ich den »Faust« wieder einmal ganz durchlese, um mich auf die Vorstellungen vorzubereiten. Zu der Generalprobe des zweiten Theiles eile ich in einer Stunde nach Weimar zurück; nach der Generalprobe des ersten Theiles kam ich hierher und fühlte mich ergriffen von den Eindrücken wie noch nie von einem theatralischen Ereigniß. Ob viele andre Zuhörer es sein werden, ob der gewagte Versuch, sich wiederholend, über andre Bühnen schreiten und zu dem höchsten Zweck, zu der Bildung der Menschheit, beitragen wird – es ist möglich, doch ich will nicht prophezeien, da ich es nicht kann. Mächtig und aus dem Gewohnten hinaus wirkend wird dies Unternehmen aber sein. Die Musik ist dabei sehr harmonisch und passend. Sie ist – gestatten Sie mir den Ausdruck – sehr adjectif gehalten, und dies ist richtig.
Otto Devrient verließ Weimar schon wenige Wochen nach diesen ersten Faustaufführungen, um Direktor des Mannheimer, dann des Frankfurter Theaters zu werden. Er lebte später in Jena und schrieb zum Lutherjubiläum 1883 das »historische Charakterbild Luther«. Er studierte es Dilettanten ein, nur er und seine Schülerin, Wilhelmine Kuhlmann, waren Schauspieler, sie gaben die Hauptrollen, »Luther« und »Käthe«. Im Anschluß daran bildete sich in Jena ein »Lutherfestspiel–Verein«, dem die Dichtung gehört. Devrient hat jahrelang seine Einrichtung des »Faust«, seinen »Luther« und sein letztes Werk, »Gustav Adolf«, in den verschiedensten Städten aufgeführt und die Hauptrollen selbst gespielt.
Bald nach den Faust-Aufführungen, am 16. Mai, gastierte Marie Seebach in Goethes »Stella«. Vielleicht beschloß sie damals schon, ihre schöne Stiftung in Weimar zu machen. An der Tiefurter Allee steht seit 1895 ein Haus, worin alte Schauspieler und Schauspielerinnen den Rest ihres Lebens in Ruhe und Behagen verbringen. Dazu hat Marie Seebach ihr Vermögen verwandt, und ihre Schwester Wilhelmine hat nach dem Tode der Stifterin das edle Werk weiter versorgt und beschützt. Jetzt sind beide Schwestern tot, aber das »Seebachstift« wird ihre Namen nicht vergessen lassen.
Im Oktober 1876 wurde Kleists hundertjähriger Geburtstag mit den Aufführungen seiner Werke: »Prinz Friedrich von Homburg«, »Käthchen von Heilbronn« und »Der zerbrochene Krug«, gefeiert. – Der 2. Juni 1878 brachte »Das Rheingold«, der 16. Februar 1879 »Die Walküre«. Daß Loën mit dem »Rheingold« anfing – anders wie die meisten Theaterleiter, die die »Walküre« zuerst aufführen wollten, weil »Rheingold« für langweilig galt – trug ihm einen sehr freundschaftlichen Brief von Richard Wagner ein, der ihm das Ganze versprach, weil er den Mut habe, mit dem Anfang zu beginnen. Loën hätte aber gern dem Publikum eine kleine Konzession gemacht: er wollte das »Rheingold« in zwei Teile teilen und einen Zwischenakt einlegen, während »Wotan« und »Loge« in das Nibelungenreich hinabsteigen. Gegen eine solche Änderung von Wagners Willen revoltierte aber Lassen mit solcher Energie, daß er allen Ernstes die Direktion verweigerte, wenn der Intendant auf dieser Einrichtung bestände. Er wolle die Einstudierung leiten, aber keine Aufführung, das könne ein anderer übernehmen. Diese von Lassens Seite etwas erregte Aussprache fand in einer kleinen Gesellschaft statt, ich saß zwischen den beiden Parteien und freute mich ebensosehr über Lassens Energie wie über die rasche Einlenkung von Baron Loën, der wohl wußte, daß er sich in musikalischen Dingen ganz auf das Wissen und den Takt seines Kapellmeisters verlassen konnte.
Über die Feier von Hummels hundertjährigem Geburtstag berichtet uns ein Brief von Frau v. Milde an Fräulein v. Mangoldt:
Ungedruckt.Weimar, 20. November 1878.
... Am 14. November wurde mit dem zweiten Abonnementconcert der hundertjährige Geburtstag Joh. Nep. Hummels gefeiert. Vormittag war schon eine einfache Feier am Grabe, wobei ich aber nicht gegenwärtig war. Ich sah nur Frau Hummel ein paar Augenblicke in ihrem Hause und war entzückt von dem rührenden Aussehen und der liebenswürdigen Herzlichkeit der prächtigen alten Frau. Die Büste ihres Gatten war im Salon unter Sträuchen aufgestellt und massenhafte Blumen wurden von Freunden gespendet und viele, viele Besuche folgten mir nach. Aber Abends sah ich die rüstige Greisin doch ganz stramm auf der ersten Sperrsitzreihe mit ihrer Familie sitzen; sie ist sechsundachtzig Jahre alt. Auch im Theater war Hummels Büste unter Grün aufgestellt und Frau Hettstedt bekränzte sie nach einem von ihr gesprochenen Prolog von Max Martersteig, unter Tuschblasen, mit dem Lorbeer. Nach einer Ouvertüre sang Pauline Horson sehr schwierige, brilliante, der Malibran gewidmete Variationen über ein Schweizerlied mit vielem Beifall. Dann spielte Lassen ganz vortrefflich das A-Dur Concert, dann folgte ein Stück für Oboe und zum Schluß ein großes Finale aus einer Oper, ausgeführt vom Chor und sämtlichem Personale. Alle Compositionen waren von Hummel ...
Am 28. März 1880 dirigierte Felix Mottl seine Jugendarbeit, die Oper »Agnes Bernauer«. Er hielt sich vorher monatelang hier auf; der liebenswürdige Mensch und hochbegabte Künstler errang sich eine sehr angenehme Stellung in der Gesellschaft und hätte damals gern einen, wenn auch kleinen, Posten am Theater angenommen, wenn etwas frei gewesen wäre. Näheres und Briefe von Felix Mottl in »Zwei Menschenalter«. Ein Bild der angeregten Geselligkeit gibt der folgende Brief von Frau v. Milde an Fräulein v. Mangoldt vom 7. Mai:
Ungedruckt.... Ich möchte Ihnen sagen, welche Hoffnungen der vierundzwanzigjährige Componist Mottl aus Wien mit seiner Erstlingsoper »Agnes Bernauer« erweckt hat, die am ersten Ostertag hier mit vielem Beifall aufgeführt wurde. Das Anziehendste aber, so sehr Aufführung und Composition der Oper uns gefielen, war doch die Persönlichkeit des jungen Musikers, sein Feuereifer für Wagners Opern, die er, besonders die Nibelungen, fast auswendig weiß und mit steter Bereitwilligkeit singt und spielt – und wie trägt er vor und spricht er aus! – Ueberhaupt die Unermüdlichkeit, wenn es gilt, Musik zu machen, das ist's, was das wahre Talent kennzeichnet. Lassens Lieder wie seine eigenen – Cornelius' Lieder wie dessen »Barbier von Bagdad«, und noch ganz andere Dinge wurden fanatisch gesungen, begleitet, bewundert, gefeiert. Die Anwesenheit Mottl's und eines jungen Stud. jur. der gerade sein Doctorat machen wollte und der auch in der Composition dillettirt, wurde zu einem guten Spaße benutzt: Ein Gedicht von Fräulein v. Ahlefeldt wurde von den drei Componisten Lassen, Mottl und (Eugen v.) Volborth zugleich componirt und die drei Lieder bei Loëns in Gegenwart des Hofes, ohne Nennung der Namen der Componisten, von den Damen Reiß, Först und Horson gesungen und darauf durch Stimmzettel über das beste abgestimmt, wobei der Preiß natürlich auf Lassen fiel, der mit einem ungeheuern Lorbeerkranz belohnt wurde. Manche waren allerdings der Meinung, das Mottl'sche Lied wäre musikalisch noch feiner und tiefer und nur der vollendete Vortrag des Fräulein Reiß habe Lassen vor diesem den Preis verschafft ...
Der 13. Februar 1883 nahm der Welt das größte musikalische Genie, das sie besaß – Richard Wagner starb in Venedig. Näheres in »Zwei Menschenalter«. Am 18. wurde zu seinem Andenken »Die Walküre« gegeben, vorher sprach Fräulein Jenicke einen Prolog von Baron v. Loën, dessen letzter Vers hier folgen mag:
Wenn wir in seinem Sinne vorwärts streben,
Verklärt in Arbeit sich der tiefe Schmerz,
Lebendig wird er mit uns weiter leben,
Denn seine Ruhstatt ist des Volkes Herz.
In unserm Herzen sollst du auferstehen
Und leben dort in der Verklärung Glanz,
So wird dein Ruhm, dein Name nie vergehen! –
Nimm von den Trauernden den Lorbeerkranz!
Das vierte Abonnementskonzert wurde auf den 22. Mai, Wagners Geburtstag, festgesetzt und zu einer Erinnerungsfeier gestaltet. Liszt dirigierte das »Vorspiel zum Parsifal« und den »Karfreitagszauber«. »Parsifal« und »Gurnemanz« wurden von Alvary und Milde gesungen. Der Abend war unbeschreiblich stimmungsvoll.
Im Januar 1883 beging Lassen sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum, wurde mit Auszeichnungen und Geschenken überhäuft und von Jena mit dem Doktortitel geehrt.
Am 23. März 1884 dirigierte Felix Weingartner hier seine Jugendoper »Sakuntala«. Liszt nahm sich seiner sehr an, wie er es früher mit Mottl getan – nichts freute ihn mehr, als wenn er ein vielversprechendes Talent kennen lernte und fördern konnte. – Der 7. und 8. Mai brachten die fünfundzwanzigste Aufführung des »Faust« mit Devrient als »Mephisto«; seit seinem Abgang führte Brock die Regie im »Faust«, aber Devrient half so viel wie möglich.
Loën ließ es sich angelegen sein, fast alle Berühmtheiten hier gastieren zu lassen, und brachte damit Leben und Abwechselung in das Repertoire. – Die hervorragendsten Mitglieder des Theaters, die er seit 1870 engagierte, waren: Guido Lehmann aus Graz, ein sehr sympathischer Künstler, der bis 1895 hier spielte; der Heldentenor Ferenczy, der am 6. März 1881 ganz plötzlich hier starb; der Schauspieler Dalmoniko. 1874 trat Frau Fichtner-Spohr als Primadonna ein. Sie war eine vortreffliche Sängerin, deren Tod 1882 tief betrauert wurde. Zur selben Zeit kam der Bassist Hennig mit einer herrlichen Stimme, aber wenig Schule, er starb 1902; das Jahr 1876 brachte die reizende Koloratursängerin Pauline Horson, die 1882 im »Parsifal« das erste Blumenmädchen sang, und den Weimaraner Max Martersteig, den jetzigen Leiter des Leipziger Theaters. – Im Mai 1877 trat Hildegard Jenicke beim Schauspiel ein. Sie war die Tochter des Pfarrers in Großkromsdorf; ihr großes Talent hatte sie zum Theater getrieben, an dem sie Schönes leistete und ein Liebling des Publikums wurde. Sie kreïrte manche Rolle und war wohl eine der denkendsten und nach dem Höchsten strebenden Künstlerinnen. Sie heiratete 1893 Kapellmeister Dr. Aloys Obrist und entsagte der Bühne. 1895 wurde sie zum Ehrenmitglied des Hoftheaters ernannt. – 1878 wurde Karl Scheidemantel engagiert. Er war der Sohn des hiesigen Hoftischlers. Seine herrliche Baritonstimme und das große dramatische Talent machten ihn zu einem der hervorragendsten Künstler. 1884, als Milde den Abschied genommen, trat er an dessen Stelle. 1886 ging er nach Dresden und hat in diesem Jahre – 1911 – seine glänzende Stellung am dortigen Theater aufgegeben, um sich in seiner Vaterstadt als Gesanglehrer niederzulassen. 1878 trat noch ein Weimaraner beim Theater ein, Louis Franke (Franke III.), der 1862 seinen ersten Versuch auf den Brettern hier gemacht hatte. Als nützliches, vielseitiges Mitglied hat er seine Kräfte bis zum Tode – Sommer 1911 – seiner Vaterstadt gewidmet. – Im September 1879 kam ein junger lyrischer Tenor, der sich Anders nannte, um seine ersten Bühnenversuche hier zu machen. Er war der Sohn des Malers Andreas Achenbach, der später als Max Alvary einen Weltruf als Heldentenor errang. Mit ihm zugleich wurde Wiedey als Bassist engagiert, der heute noch als Regisseur der Oper wirkt. – Die Altistin Fräulein Schärnack kam 1881 und bildete mit Fräulein Horson, Alvary und Scheidemantel ein Gesangsquartett von solcher Schönheit, daß die Spielopern damals der Hauptanziehungspunkt des Theaters waren. – Von 1881 bis 1883 spielte die vortreffliche junge Schauspielerin Agnes Sorma hier und von 1883 bis 1894 Fräulein Trude Schmittlein mit dem eigenartigen, urwüchsig-kräftigen Talent. Der Saisonanfang 1884 brachte eine ganze Anzahl hervorragender Kräfte: Karl Halir, den Schüler Joachims, als Konzertmeister; Lucy Orban und Dagobert Neuffer für das Schauspiel, v. Szpinger als Tenorbuffo, der noch heute ein brauchbares Mitglied ist. – Aber leider brachte der Oktober auch einen großen Verlust: Feodor v. Milde nahm Abschied von dem Haus, wo er so Herrliches geleistet. Im Frühjahr hatte er – nur mit dem Wissen der ihm Nächststehenden – seine letzte Rolle gesungen und schied nun ohne Sang und Klang, ohne öffentliche Ehrung, das wäre ihm zu schmerzlich gewesen. Das beigegebene Bild zeigt das alte Ehepaar Milde, geliebt und verehrt bis über den Tod hinaus! (Mildesche Briefe: »Anhang« Nr. 3.)
Der Herbst 1885 brachte uns die vortreffliche Koloratursängerin Fräulein Alt aus Wien. Sie verließ die Bühne 1891, um den Maler, jetzigen Professor Fritz Fleischer zu heiraten. Sie war – durch ihre glockenhelle Stimme und große Gesangskunst nach italienischer Schule – ein Liebling der Frau Großherzogin. Lassen sagte von ihr, sie sei so musikalisch, daß sie statt seiner dirigieren könne. – 1886 kam Fräulein Denis – die nachherige Frau Stavenhagen – eine sehr angenehme, beliebte Sängerin. – Zu derselben Zeit machte der später berühmt gewordene Schauspieler Wiecke seinen ersten theatralischen Versuch und blieb bis 1895. – Der Anfang des Jahres 1887 brachte den lyrischen Tenor Hans Gießen (sein wahrer Name war Buff, er stammte aus derselben Familie wie Goethes »Lotte«) und den Schauspieler Wegner, aber am 28. April den größten Verlust, den Tod des Baron v. Loën.
Das war ein schwerer Schlag für Weimar, denn Loën schied in voller Kraft an den Folgen einer Operation am Ohr, die er in Jena machen ließ. Frau v. Milde schreibt sehr bezeichnend an Fräulein v. Mangoldt:
Ungedruckt.Weimar, 5. Mai 1887.
... Man hat die allerletzte Zeit so unter dem Druck von Loëns Krankheit und raschem Tod gelebt, daß wirklich zeitweise der Puls von Weimar stockte und die eine dumpfe Empfindung vorherrschte: was soll aus uns werden, wenn so thätige, arbeitskräftige Männer wie er, sterben können! – Was Loën leistete, wie vielseitig sein Geist, wie gütig sein Herz, wie liebenswürdig sein Wesen war, das hat uns der Verlust erst recht eindringlich vorgeführt ...
Wieviel August v. Loën mit seiner Persönlichkeit tat, wie viele Menschen er hierherzog, geht aus den Briefen hervor, die in dem Nachruf stehen. »Freiherr August v. Loën«, ein Beitrag zur Geschichte des Hoftheaters in Weimar. Von Dr. Adolf Mirus. (Weimar 1889.) Wie nahe er den Herrschaften getreten, ersieht man aus den ungedruckten Briefstellen, die ich im »Anhang« (Nr. 4) bringe. Sie sind mir von der Tochter des Verstorbenen, Freiin Marie v. Loën, freundlichst überlassen worden, die beim Tode ihres Vaters Hofdame der Frau Erbgroßherzogin war und sich jetzt, seit dem Tode ihrer Mutter, gemeinnützig tätig – besonders in der Frauenfrage – erweist.
Man bereitete dem Generalintendanten eine imposante Leichenfeier; das Theater blieb zwei Tage geschlossen.
Aber das Leben geht seinen Gang weiter und der Intendant des Hoftheaters in Hannover trat an die Stelle des Verstorbenen.
Ich muß mir versagen weiter eingehend über das Theater zu berichten, nur die wichtigsten Ereignisse können noch verzeichnet werden: Kapellmeister Müller-Hartung nahm bald nach Hans v. Bronsarts Antritt den Abschied vom Theater, um seine Kräfte ganz der Musikschule zu widmen. An seine Stelle berief der Intendant 1889 den jungen Richard Strauß und 1891 als Oberregisseur der Oper Fritz Brandt, der unter seinem Vater – dem berühmten Maschinisten aus Darmstadt – und nach dessen Tod allein, in Bayreuth unter Wagner gearbeitet hatte. Er besorgte hier – außer der Regie – noch Maschinerie, Beleuchtung und Garderobe und hat in den vier Jahren bis zu seinem Tode – er starb in Jena an einer Blinddarmoperation – tüchtig gearbeitet, Schönes und Neues eingerichtet, z. B. die elektrische Beleuchtung des Theaters. Ich gedenke nur der Uraufführung der reizenden Humperdinckschen Oper »Hänsel und Gretel« zu Weihnachten 1893, die von Brandt und Strauß so wundervoll herausgebracht wurde. Von neuengagierten Mitgliedern seien der vortreffliche Heldentenor Zeller, der Komiker Heltzig und der Regisseur und Schauspieler Karl Weiser genannt. Im April 1895 wurde Dr. Lassen zum Generalmusikdirektor ernannt und am 1. Juli trat er in den Ruhestand. Ungefähr zu gleicher Zeit reichte der Generalintendant seine Entlassung ein.
Am 10. Juli wurde der Intendant des Hoftheaters in Dessau, Hippolyt v. Vignau, zum weimarischen Kammerherrn und Generalintendanten des Hoftheaters und der Hofkapelle ernannt. Er hatte sich schon früher mit seiner Familie »am Horn« angesiedelt und brachte von Dessau aus seine freie Zeit hier zu, so daß der Großherzog ihn und seine Gattin – die Tochter des berühmten Kupferstechers Mandel, eine vortreffliche Violinspielerin – kannte, und wußte daß sie in die weimarische Luft, die mit Traditionen geschwängert ist – und doch das gute Moderne in sich aufnehmen muß – passen würden. Theater, Musik und Geselligkeit sind durch das Ehepaar sehr gehoben worden.
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Liszt war kurz vor dem Beginn des Krieges von hier abgereist; Anfang Mai 1871 kam er zurück, nachdem alles vorbei und unsere Siege einen solch großen Umschwung in Deutschland hervorgebracht hatten. Ich habe Liszt nie über diese Ereignisse reden hören; ich wußte, wie nahe ihm Frankreich stand, wie hoch er Napoleon III. gestellt hatte, das Ganze konnte nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben sein. Er soll lange nicht an den Sturz des Kaiserreichs haben glauben können, aber seine Willenskraft war so groß, daß man ihm nichts anmerkte.
Lassen hatte einen Ruf an das Genter Konservatorium erhalten und abgelehnt. Er schrieb darüber am 10. Mai an seine Eltern:
Wenn auch die Existenz früher hier eine geringe war, so war es doch eine angenehme Stellung. Nach und nach ist sie besser geworden und man hat mir nie etwas abgeschlagen. Ich glaube noch an den Werth der Gefühle des Herzens und in meinen Augen wiegt eine reconnaissance dûe wohl einige tausend Frs. auf. Auch noch andere Dinge halten mich hier: ich fühle jedes Jahr mehr, daß für mich Heimatlosen (Lassen war Jude) jetzt das Vaterland hier ist ... Liszt ist seit acht Tagen hier und kommt nach seiner Messe, (die katholische Kirche war in der Marienstraße, der Wohnung Lassens – im Hummelschen Haus – gegenüber) fast täglich zu mir. Wir haben viel über das für und wider gesprochen und als ich ihm sagte, daß ich bleiben würde, hat er mich umarmt und gesagt, wie sehr er sich darüber freue. Er bleibt bis Ende Juni.
Müller-Hartung führte die »Heilige Elisabeth« von Liszt im Juni in der Kirche auf, zum Besten der Karl Alexander-Karl August-Stiftung, die für die Kriegsinvaliden geschaffen worden war. – Im Juli wurde hier der allgemeine deutsche Bühnenkongreß gegründet, dessen Generalsekretär Ludwig Barnay wurde. – Am 6. September 1872 schrieb Lassen:
Richard Wagner und seine Frau sind hier um Liszt zu besuchen. Das ist ein Ereigniß, denn er hatte sie seit der Heirath noch nicht wieder gesehen. Liszt ist sehr glücklich darüber. Wir haben einen schönen Abend bei ihm verlebt, es waren nur Wagners, Frau v. Meyendorff und ich da.
Baronin v. Meyendorff, geb. Prinzessin Gortschakoff, hatte früher mit ihrem Gatten, der russischer Geschäftsträger war, hier gelebt und war als Witwe wieder hierher gezogen. Schon lange mit Liszt befreundet, sehr gescheit, musikalisch und literarisch gebildet, war sie ihm ein unschätzbarer Umgang. Er brachte seine freien Abende bei ihr zu, lesend und musizierend; er liebte es, vierhändig mit ihr zu spielen und ihr alles Neue auf dem Gebiete der Musik zu zeigen. Wenn sie Weimar verließ, so fehlte ihm der behagliche Salon, die geistige Ansprache, die er in nächster Nachbarschaft fand. Er sagte mir einst bei solcher Gelegenheit: »Bitte, bleiben Sie abends bei mir, ich komme mir vor wie ein verlorener Hund.«
In den siebziger Jahren war Liszt noch rüstig, er konnte nicht genug Musik haben und man empfand, daß er sich im Umgang mit Künstlern, im Musizieren und Komponieren wohlfühlte. Dazwischen war ihm die Abgeschiedenheit in Rom und der Villa d'Este lieb zum Arbeiten, aber er brauchte Abwechselung und Verkehr mit der Welt. Auch hier war er nie müßig; war er allein, so saß er am Schreibtisch. – Es war unglaublich, wie viele Menschen nach Weimar kamen, um ihn zu sehen. In der kleinen »Hofgärtnerei« sind in den Jahren von 1869 bis 1886 gewiß die hauptsächlichsten Musiker und Musikfreunde der neudeutschen Richtung gewesen. Und wie viele Schüler haben seine Unterweisung genossen! Die bedeutendsten werde ich hier nennen, von dem Schwarm, der so nebenherlief, kann ich keine Notiz nehmen, er war besonders in den letzten Jahren oft recht unnötig groß. Zu den Künstlern, die ich mir erinnere, gehörten Zarembski und Pinner, Eduard Reuß, Fräulein Gaul, Giehrl, Urspruch, Siloti, Reißenauer, Stavenhagen, Vera Timanoff, Fräulein Großcurth, Heinrich Luther, Bertrand Roth, Schuler, della Suda-Bey, Schwarz, Georg Leitert, Burmeister, Adele aus der Ohe, Pauline Fichtner (Frau Erdmannsdörfer), Marie Breidenstein, Miß Fischer, Walter Bache, Martha Remmert, Frau Marie Jaëll, Dayas, Stradal, Max van Sandt, Fräulein Bregenzer, Friedheim, Thoman, Ansorge, Fräulein Koch, Laura Kahrer, Emma Mettler, Johanna Wenzel, Emil Sauer, Frau Blume-Arends, Joseffy, Karl Pohlig, Margarethe Herr, van der Stucken, Elsa Levysohn und vor allen andern Sophie Menter und Eugen d'Albert. Die vortrefflichsten Schüler in Rom waren Sgambati, Rendano und Buonamici.
Von den in Weimar lebenden Personen stand wohl Frau Merian-Genast – der er früher Gesangstunde gegeben hatte – Liszt am nächsten. Sie war eine vorzügliche Liedersängerin und förderte manch talentvollen Menschen, indem sie ihm ihre Vortragskunst lehrte, so z. B. Karl Scheidemantel. Aber auch in sozialer Hinsicht entfaltete sie Talente; sie gründete mit Fräulein Marie Stichling, Fräulein Klara Froriep und Frau v. Unruhe einen Handarbeitsverein, der den Geschmack veredeln, sowie bedürftigen Frauen und Mädchen Erwerb für die müßigen Stunden verschaffen sollte – und bis heute verschafft. Er prosperiert noch jetzt als »Paulinenstiftung«. Frau Merian war eine bedeutende Frau, sie wirkte segensreich für Weimar; einesteils durch ihren Einfluß auf das weibliche Geschlecht der verschiedensten Stände, andernteils weil ihr Haus jahrelang eine Stätte für schöne Musikaufführungen war. Ihre Freundschaft mit Liszt, Lassen, Halir, Kömpel, Hans v. Bülow, ihrem Schwager Raff und vielen anderen machte es ihr leicht, eine Korona von Berühmtheiten bei sich zu versammeln.
Von den immer wiederkehrenden Besuchern Liszts nenne ich noch: Frau v. Schleinitz (jetzige Gräfin Wolkenstein); Gräfin Dönhoff (jetzige Fürstin Bülow); Graf Géza Zichy, den ungarischen Freund und Schüler Liszts; den Grafen Apponyi und E. v. Michalowitsch aus Pesth; Fräulein Lina Ramann und Fräulein Marie Lipsius (La Mara), seine Biographinnen; aus Rußland den Komponisten Cui, den Violinisten Auer und Adolf Henselt, den Klaviervirtuosen; Musikverleger Schirmer und Frau aus New York; den italienischen Geiger Consolo; Liszts früheren Schüler Karl Klindworth, Hans v. Bronsart mit seiner Frau Ingeborg, geb. Stark; Organist Schilling aus Rom; Adelbert v. Goldschmidt mit Frau aus Wien; den Geiger Sauret; Hans v. Bülow; Otto Leßmann. Professor Riedel, Adolf Stern und Karl Gille, die Vorsitzenden des Tonkünstlervereins. Eine der früheren und besten Schülerinnen war Pauline Fichtner; sie schrieb zu dem hundertjährigen Geburtstag ihres geliebten Meisters Erinnerungen an ihn; ich entnehme ihnen einige charakterisierende Sätze: »Münchner Neueste Nachrichten«, 22. Oktober 1911. »Uns allen prägte er es stets tief in die Seele: ›groß und edel denken und handeln.‹ – Sein Leben war ausgefüllt von diesem hohen Prinzip, – und in Bewunderung und Dankbarkeit sahen wir auf zu ihm als unserem leuchtenden Vorbild und Künstlerideal, – mit allen Kräften bemüht, sein Wohlwollen zu verdienen, seine Zufriedenheit, menschlich und künstlerisch, zu erringen! ›Neidloses Anerkennen der Leistungen unserer Kollegen und Mitschüler‹ war einer der vielen Paragraphen, die unter seinem Zepter respektiert werden mußten, und ein allenfallsiges Nichteinhalten hatte manchmal scharfe Nachspiele und durfte nicht wiederholt werden, sonst war die ›Hofgärtnerei‹ dem Betreffenden verschlossen ... Das Studium bei Liszt beruhte zumeist im geistigen Element, – in der Sprache der Musik, – im Gestalten. Das Technische wurde als selbstverständlich vorausgesetzt ... Es gab nur feuriges Anspornen seinerseits zu freier, natürlicher Handhaltung, Elastizität des Handgelenks, zu großen Passagen- und Oktavenstudien, – und die Weisung: alles Schwierige in allen Tonarten zu spielen. Georg Leitert, Franz Servais und ich mußten einmal die große C-moll-Etüde sowie das Prélude in G-Dur von Chopin, ebenso den letzten Satz aus Beethovens Cis-moll-Sonate in drei verschiedenen Tonarten spielen! ... Daß es der Hauptwunsch eines jeden von uns war, sämtliche Lisztschen Werke beim Meister selbst zu studieren, war wohl begreiflich, – aber Liszt drängte uns stets zu anderen Komponisten hin und ganz besonderes Interesse wurde allem Neuen entgegengebracht. Zu dechiffrieren gab es oft Schwieriges, wie wir denn auch alles Orchestrale – meist zu zwei Klavieren, oder vierhändig mit dem Meister – kennen lernten.«
Bülow stand Liszts Herzen ganz besonders nahe, als sein vortrefflichster Schüler aus der früheren Zeit und als Schwiegersohn. Seine Besuche waren Ereignisse, musikalischen Genusses voll, menschlich manchmal etwas verhängnisvoll, denn er versuchte mehrmals, Elemente aus der Hofgärtnerei zu entfernen, die er nicht für würdig fand, in der Nähe des Meisters zu atmen und seine Unterweisung zu genießen. Liszt nannte ihn dann »den Cerberus der Hofgärtnerei«. Aber sowie Bülow den Rücken gekehrt, war alles wieder beim alten. – Erwähnt mag hier noch sein, daß Liszt alle seine Schüler umsonst unterrichtete.
Als die Zeit kam, in der Liszts Augen schwächer wurden, mußte man ihm oft vorlesen, meist am Vormittag, manchmal während er Noten schrieb und seine Arbeit eine mehr mechanische war. Nachmittags spielte er mit einigen der Schüler Whist, nicht um Geld, nur um die Zeit auszufüllen. Gottschalg »Erinnerungen und Tagebuchnotizen« von Gottschalg. Herausgegeben von René. (Berlin 1910.) erzählt, daß Liszt eines Tages – als er vom Nachmittagsschlaf kam – sah, daß indessen mehrere der jungen Leute in seinem Wohnzimmer ein Hasardspiel etabliert hatten. Da gab es ein arges Strafgericht, er war wütend und erzählte dann, daß er in Baden-Baden einst achtzehntausend Mark am grünen Tisch verloren und seitdem nie wieder um Geld gespielt habe.
Am 6. Juni 1873 schrieb Lassen:
Die Aufführung von Liszts »Christus« in der Stadtkirche ist gut gelungen, insofern, als das Werk – besonders einige Chöre – großen Eindruck gemacht hat. Die Wiedergabe an und für sich ließ viel zu wünschen übrig, sie war nicht genügend vorbereitet. Wagner war mit seiner Frau und deren ältester Tochter Daniela da; außerdem Frau v. Moukhanoff und die ungarischen Freunde von Liszt: Michalowitsch, Abranyi und Graf Apponyi.
Das wundervolle Oratorium wurde damals, unter Liszts Direktion, zum erstenmal vollständig aufgeführt. Müller-Hartung hatte es einstudiert, dadurch waren die Ausführenden daran gewöhnt, jeden kleinsten Einsatz angegeben zu sehen und ganz vom Kapellmeister abhängig zu sein. Nun kam Liszt an das Pult und dirigierte mit seinem großen Zug, wie er es gewohnt war und es früher den Ausübenden gelehrt hatte. Er gab keine kleinen Zeichen, überließ darin die Künstler sich selbst, beachtete nur das große Ganze und riß sie mit seinem Feuer mit fort. Aber die jetzige Schar der Künstler und Dilettanten kannte seine Art und Weise nicht, so wurde manches weniger genau gebracht, als es wünschenswert gewesen wäre.
Im Herbst 1873 feierte man in Pesth ein Jubiläum Liszts: es waren fast fünfzig Jahre her, daß er in Wien zum erstenmal öffentlich gespielt – mit Beethoven als Zuhörer, der den Knaben geküßt hatte. Baron v. Loën und Lassen fuhren nach Pesth; in Weimar sollte das Fest am eigentlichen Gedenktage, dem 13. April 1874, begangen werden, der Großherzog lud Liszt durch einen seiner liebenswürdigen Briefe dazu ein; dieser kam aber in diesem Frühjahr nicht hierher, und so schrieb ihm der treue Freund am Festtage selbst und schickte ihm den Stern zum Falkenorden. – Liszt kehrte erst 1875 wieder in der »Hofgärtnerei« ein. Mitte Mai veranstaltete er eine Gedächtnisfeier für seine verstorbene Freundin Marie v. Moukhanoff, geb. Gräfin Nesselrode. Der Saal des Tempelherrenhauses war dazu eingerichtet worden; Lenbachs herrliches Porträt der Verstorbenen, das er für diese Gelegenheit geschickt hatte, war aufgestellt und Liszt führte vor den Herrschaften und einem kleinen geladenen Kreis einige Musikstücke auf.
Wie freundschaftlich der Verkehr Liszts mit dem Großherzog war, ersehen wir aus dem Briefwechsel; wie Liszt keine Gelegenheit vorbeigehen ließ, bei der er jemand fördern, bei Karl Alexander für ihn sprechen konnte. Auch gesellschaftlich war der Verkehr ein reger; Liszt wußte, daß es seinem Freunde angenehm war, bedeutende Menschen kennen zu lernen oder wiederzusehen. Er ließ es ihm sagen, wenn er in einer Sonntagsmatinee etwas Besonderes bieten konnte, oder lud ihn zum Abend ein. So schrieb er ihm am 24. Juli 1877:
Monseigneur, meine Tochter und Wagner sind gestern Abend angekommen. Heute um ein Uhr erwarte ich Frau v. Schleinitz am Bahnhof.
Si votre Altesse Royale daigne visiter son domaine de la Hofgärtnerei ce soir, Elle nous y trouvera réunis et très heureux de sa présence.
Fidèlement votre très humble serviteur
F. Liszt.
Die letzten Zeilen blieben in der Ursprache, weil die Übersetzung einen ganz anderen Ton hineingebracht hätte.
Am nächsten Tage berichtete Liszt dem Großherzog von Frau v. Schwartz (ihr Schriftstellername war Elpis Melena), die hier angekommen war:
Wenn Menschen Gutes thun und sich richtig dabei benehmen, ohne Ostentation und Hintergedanken, so muß man das anerkennen. Das ist der Fall bei Frau v. Schwartz. So mache ich mir auch keine Skrupel, einige liebenswürdige Worte des Dankes für sie von Ihnen zu erbitten.
Der Großherzog besuchte die alte Frau mit den weißen Locken, die Verehrerin und Pflegerin Garibaldis, die später jahrelang in Kreta lebte und dort ein Spital für kranke Tiere errichtet hat. In einem Brief an sie schildert Liszt ihre Taten:
Budapesth, 22. März 1883: Chère excellentissime! Es ist wirklich merkwürdig, daß Sie noch nicht ruinirt sind, nachdem Sie so viele Jahre Werke der Barmherzigkeit vollbracht haben. Ihr Leben erscheint mir als eine große Symphonie von Generosität, Almosen, Wohlthun, Geschenken und Attentionen, die ebenso zartfühlend wie theuer sind. Mit Garibaldi und den Seinigen angefangen und ohne Ende fortgesetzt, mit den armen kranken Deutschen in Rom, die auf Ihre Kosten beerdigt wurden. Und dann die kriegerischen Kreter, die Kranken in ihrem Jenaer Spital, Fr. v. Schwartz hatte im Krieg 1870 in Jena – wo ihr Sohn studierte – Freibetten für Verwundete gestiftet. die Gesellschaft für den Thierschutz usw. usw. Ich bewundere Sie und beuge mich vor Ihrer beständigen Güte und Barmherzigkeit – um so mehr, als Sie sie diskret ausüben, wie im Schatten, ohne jegliche Pauken- und Trompetenfanfaren. ...
Im Sommer 1880 führte Müller-Hartung Liszts »Krönungsmesse« auf; 1881 am Namenstage Liszts – 4. April – gab Bülow ein Konzert im Theater, in dem er allein spielte, lauter Kompositionen seines Meisters – es war über alle Begriffe schön. Am 16. kam Liszt in der »Hofgärtnerei« an. Der 24. Juni brachte Bülow wieder nach Weimar, und zwar auf einige Wochen, denn er traf hier mit seiner Tochter Daniela zusammen, die er jahrelang nicht für länger gesehen hatte. Während ihrer Anwesenheit – am 2. Juli – stürzte Liszt auf seiner etwas steilen Treppe einige Stufen herunter. Der Arzt, Dr. Brehme, fand nur eine Schramme am Bein, die nichts zu sagen hatte, verordnete aber doch Bettruhe und setzte – trotz Liszts Widerspruch, der behauptete, es fehle ihm gar nichts – seinen Willen durch. Liszt fühlte dann doch selbst, daß es nötig war, denn als er aufstehen wollte, ging es nicht, der ganze Körper war schmerzhaft. Bülow und seine Tochter waren die ersten Tage bei dem Kranken, der in liebenswürdigster Laune war, nach ihrer Abreise nahm ich den größten Teil des Tages den Platz neben ihm ein, suchte ihm Erleichterung zu schaffen und die Zeit zu vertreiben. In solchen Stunden lernte man seine ganze feine, liebenswürdige, dankbare Natur kennen. – Noch im Liegestuhl ausgestreckt, versammelte er die Schüler schon wieder um sich, erholte sich auch anscheinend rasch – aber seit dem Sturz wurde er nicht wieder wie vorher. Er wurde immer stärker, war oft so elend, daß er sich freiwillig legte und mich fast den ganzen Tag nicht von seiner Seite ließ. Auch die Augen nahmen sehr ab und seine Stimmung war oft gereizt. Das Alter faßte ihn an und er sträubte sich so lange wie möglich, die nötigen Änderungen in seinem Leben eintreten zu lassen. Ruhe und Pflege an einem und demselben Ort wäre das Richtige für ihn gewesen, aber er setzte es durch, bis an sein Lebensende ruhelos von einer Stadt zur andern zu fahren. Näheres über Liszts Leben hier und seinen Aufenthalt in Rom, sowie über die Fürstin Wittgenstein in »Zwei Menschenalter«.
Am 22. Juli war Liszt so weit genesen, daß er bei einer Matinee spielen konnte, bei der sein geliebter Freund und Schüler Graf Géza Zichy zugegen war, der Erstaunliches mit seiner linken, einzigen Hand im Klavierspiel leistete. Auch der merkwürdige italienische Geiger Consolo war in diesen Tagen hier, ein geborener Israelit, der Muhammedaner geworden war. Er spielte schön, aber mit unendlichen Leibesverdrehungen, zu denen ihn seine Leidenschaftlichkeit hinriß. Auch Otto Leßmann kam, den Meister nach der Genesung zu begrüßen. Er war, glaube ich, der einzige Musikkritiker, den Liszt gern hatte. Leßmann dankt ihm seine fortgesetzte Güte heute noch. – In den letzten Jahren waren Schüler um Liszt, die außer den Stunden auch noch allerhand persönliche Dienste für ihn übernahmen, ich erinnere mich in dieser Stellung Dingeldeys und zuletzt Göllerichs. Es war eine Beruhigung, außer seinem Diener noch einen zuverlässigen Menschen um ihn zu wissen, der auch in musikalischen Dingen Bescheid wußte.
Göllerich hat dann später seine Erinnerungen an Liszt veröffentlicht. In korrekter, bescheidener Weise wäre das dankenswert gewesen, aber er hat aus dem Buch ein schlecht redigiertes Sammelsurium gemacht, in dem Wahres und Falsches so untereinander läuft, daß nur diejenigen, welche die Sachlage ganz genau kennen, eines vom andern zu unterscheiden wissen. Besonders leichtsinnig geht er mit den Anführungszeichen um, mittelst deren er Liszt Aussprüche tun läßt, die rein unmöglich sind. Nur zwei Beispiele für viele: Anläßlich der szenischen Aufführung der »Heiligen Elisabeth« – die bei der Tonkünstlerversammlung 1884 in Weimar stattfinden sollte, läßt Göllerich Liszt sagen: »Schon 1874 lehnte ich die szenische Aufführung in Pesth und Weimar ab, sie will mir bis jetzt nicht recht einleuchten« ... »Ich habe sie zu meinem siebzigsten Geburtstag dann in Weimar gesehen und werde sie auch diesmal nicht hindern können. Mit meinem Willen aber geschieht es nicht.«
Ob Liszt die Aufführung 1874 abgelehnt hat, weiß ich nicht, glaube es aber nicht, denn 1881 gab er Lassen die Erlaubnis, sie an seinem siebzigsten Geburtstag im Theater zu geben, ohne welche dieser die Inszenierung doch nie unternommen hätte. Liszt war aber an diesem 22. Oktober gar nicht in Weimar; er reiste am 10. Oktober mit seiner Enkelin, Daniela v. Bülow, von Bayreuth nach Rom ab, wo ich zufällig schon war, also dort seinen siebzigsten Geburtstag mit ihm begehen konnte. Darüber hätte sich Herr Göllerich aus den Briefbänden sowie aus meinen »Zwei Menschenaltern« leicht unterrichten können. Liszt hat seine »Heilige Elisabeth« am 22. Oktober 1882 zum erstenmal hier auf der Bühne gesehen und hat sich gegen mich und andere sehr befriedigt darüber geäußert.
Ebenso unwahr ist die Geschichte, die Göllerich von der Kirchenprobe zu der »Graner Messe« erzählt: daß ein Kapellmeister grob gegen Liszt gewesen wäre und dessen Wünsche nicht erfüllt hätte, und nun gar hier in Weimar, wo ihn alle vergötterten und seinem leisesten Wink folgten, ist eine reine Unmöglichkeit. Das hat Herr Göllerich erfunden und legt es Liszt in den Mund. Man wird gut tun, sein Buch nicht als Quelle zu benutzen.
Über die Aufführung der »Heiligen Elisabeth« an Liszts siebzigstem Geburtstage, der er nicht beiwohnte – der ersten auf der Bühne – schrieb Natalie v. Milde (Mildes Tochter) an Fräulein v. Mangoldt:
Ungedruckt.... Vorigen Sonntag feierte das ausgehungerte Weimarische Publicum ein Wiedersehen mit Frau Fichtner in der Lisztschen »Elisabeth«, die zu Ehren seines siebzigsten Geburtstages scenisch aufgeführt wurde. Mir will das Oratorium auf der Bühne viel, viel besser gefallen als in der Kirche. Wir waren Alle ganz entzückt. Frau Fichtner sah aus wie eine Legende und spielte zauberisch schön. Vielleicht muß man aus dem Thüringer Lande sein, um solches Wohlgefallen an all' den einzelnen Bildern zu haben ...
Scheidemantel sang reizend und die Chöre sangen und spielten untadelhaft. Es war wieder einmal einer von den geweihten Abenden ...
Sehr interessierten Liszt die Kompositionen von Adelbert v. Goldschmidt aus Wien, der im Herbst 1882 wochenlang mit seiner Frau hier war, um Liszt sein Oratorium »Die sieben Todsünden« und die Oper »Helianthus« vorzutragen. Zu der Aufführung der letzteren in Leipzig fuhr Liszt hinüber. – Auch den Besuch seines Freundes, des Kardinals Hohenlohe, empfing er in diesem Herbst, der von Gotha kam, wo er seine Schwester, die Frau des Malers Lauchert, besucht hatte. – Eine sehr anziehende Persönlichkeit brachte den Sommer 1885 hier zu: die jugendliche Violinistin Armah Senkrah. Sie hatte ein prächtiges Talent, und Liszt hatte so große Freude an ihrem Spiel, daß er viel mit ihr musizierte. Man prophezeite dem schönen, begabten Mädchen eine glänzende Laufbahn, aber das Schicksal hatte anders über sie beschlossen. Sie gab ihre Kunst für eine Ehe auf; da diese sehr unglücklich wurde, so endete sie ihr Leben aus Verzweiflung mit eigener Hand – und das alles hier in Weimar! Wer hätte das ahnen können, als sie mit Liszt die »Kreutzersonate« spielte, ohne Probe, aber so schön, daß der alte Meister sie tiefbewegt umarmte.
1884 war das Musikfest des Allgemeinen deutschen Musikvereins wieder hier, mit der »Graner Messe«, der »Heiligen Elisabeth« und zwei Sätzen aus dem angefangenen Oratorium »Der heilige Stanislaus« von Liszt. An diesem Werk hat er viel gearbeitet, es aber nicht beendigen können.
Ein Mensch muß hier noch als ergebener Freund und Trabant von Liszt genannt werden: Justizrat Karl Gille aus Jena. Er hat jahrelang die Jenaer Konzerte in Szene gesetzt und durch seine Energie und seine Beharrlichkeit, trotzdem er nicht über große Geldmittel verfügte, Schönes erreicht. Die berühmtesten Virtuosen haben in Jena gespielt und die schwierigsten Sachen wurden möglich gemacht. Dann gab es bei Gille – im Sommer im Garten – ein vergnügtes Abendessen oder Bratwurstfest mit Bier vom Faß. Liszt war sehr oft der Mittelpunkt der begeisterten Künstlerschar; man mußte ihn auch in dieser Umgebung gesehen haben, um wieder eine Seite seines Wesens zu verstehen.
Aber war denn Liszt zu verstehen? Kann man denn jemand, der diesen Zauberer nie gesehen, ihn beschreiben? Wohl jedem, auf den seine Persönlichkeit gewirkt und der den merkwürdigen Einfluß seines Wesens wenigstens einmal empfunden hat, aber schwer einem Außenstehenden. Man mußte eine Seite nach der andern kennen gelernt haben, ihn in seinen großen Eigenschaften verstehen und seine Fehler begreiflich finden, denn er war ja ein Mensch, aber ein großer, gütiger, wahrhaftiger, wohltätiger, mitleidiger, treuer, von Herzen frommer, und ein Künstler von Gottes Gnaden. Man darf aber auch eine Hauptseite seines Wesens, die mystische und die dämonische, nicht vergessen, die ihn erst zu dem machte, was er war.
Man weiß, daß er seine Reisen fortsetzte, fast bis zum letzten Atemzug. 1886 machte er das Musikfest in Sondershausen mit, fuhr nach Paris, London und Antwerpen, hatte sogar im Sinn, einer Einladung nach Petersburg zu folgen; jedesmal, wenn er hierher zurückkam, war die Wassersucht gestiegen, die Augen schwächer, die Kräfte kleiner. Sein letztes Billett an seinen Freund, den Großherzog, ist wohl aus dieser Zeit, aber ohne Datum, ein rührender Ausklang einer langen Freundschaft:
Sehr beglückt durch Ihre Rückkehr, Monseigneur, werde ich die Ehre haben, Sie morgen Vormittag zu erwarten, aber ohne andere Musik, als die vollkommene Harmonie unserer Herzen.
Ihr sehr ergebener treuer Diener
F. Liszt.
Montag Abend.
In Bayreuth erlebte der Meister noch »Parsifal« und »Tristan«; trotz unendlicher Schwäche und schrecklichem Husten, den er sich bei der letzten Reise, die er bei Nacht gemacht, zugezogen hatte, saß er pflichtgetreu in der Wagnerschen Loge – bis es ihm der Arzt untersagte. Eine Lungenentzündung machte dem Leben dieses einzigartigen Menschen am 31. Juli 1886 ein Ende. Er liegt auf dem Bayreuther Friedhof begraben.
Auf die letzte Seite eines Buches, in dem er angegriffen worden war, schrieb er einst:
»
Ma tâche ici bas est de chercher et de pratiquer le Vrai, le Bien et le Beau en chrétien et musicien sincère.«
»Meine Aufgabe hienieden ist, als aufrichtiger Christ und Musiker, das Wahre, das Gute und das Schöne aufzusuchen und zu pflegen.«
(Das Buch, in dem diese Worte von seiner Hand stehen, habe ich dem Lisztmuseum übergeben. D. Verf.)
In seinem letzten Testament ernannte Liszt in kurzen Worten die Fürstin Carolyne Wittgenstein zu seiner Universalerbin. Da sie ihn ein halbes Jahr überlebte, beerbte sie ihn, und nach ihrem Tode kam ihr und sein Besitz an ihre Tochter, Fürstin Marie zu Hohenlohe-Schillingsfürst.
Der Großherzog ordnete an, daß Liszts Wohnung in der »Hofgärtnerei« erhalten bliebe. Die Sachen Liszts, die er auf der »Altenburg« benutzt hatte, waren damals, mit denen der Fürstin, in einer Wohnung der Kunstschulstraße aufbewahrt worden. Die Erbin stiftete dieselben in die »Hofgärtnerei«, so entstand das »Liszt-Museum«. Das Vermögen Liszts schenkte sie der »Liszt-Stiftung«, welche – ganz im Sinne des Erblassers – in Stipendien für junge Musiker besteht. Ein früheres, ausführliches Testament Liszts, das aber gerichtlich keine Gültigkeit mehr hatte, wurde von der Erbin trotzdem getreulich ausgeführt, soweit es möglich war.
Die Briefe Richard Wagners an Franz Liszt wurden Frau Cosima Wagner übergeben.