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Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche. 40. Bd. (1916), 2. Heft, S. 529-550.
Inhaltsverzeichnis
1. Staatseinheit und Zolleinheit. – 2. Die Anläufe zu Zoll- und Handelsannäherungen 1879-1906 und ihr Mißlingen. – 3. Die neuesten handelspolitischen Einigungstendenzen Mitteleuropas und ihre Hindernisse in der Verwaltung. – 4. Die innere Notwendigkeit der Zoll- und Handelsannäherung. – 5. Die Prüfung der Schattenseiten und Gefahren. – 6. Keine Zollunion, aber eine Zollannäherung und ihre Konsequenzen in der Währungs-, der Eisenbahnpolitik, in der Erhaltung der Zolleinheit Österreich-Ungarns. – 7. Die Form der Zollannäherung, das Dreitarifsystem; seine wahrscheinlichen Folgen. – 8. Die handelspolitische Behandlung der Türkei und der Balkanstaaten. – 9. Wirkung der Grenzverschiebungen und des kommenden Friedens auf die Zollannäherung.
Die politische Vereinigung ursprünglich getrennter Gebiete und Staaten ist meist älter als ihr Zusammenschluß zu einem einheitlichen Handels- und Zollsystem. Bis 1791 zerfiel der am meisten zentralisierte europäische Staat, der französische, in verschiedene Zollgebiete. Die Vereinigten Staaten hatten bis 1789, die Schweizer Kantone bis 1850 getrennte Zolleinrichtungen; Großbritannien und Schottland fehlte im 17., England und Irland noch im 18. Jahrhundert die Handels- und Zolleinheit; Österreich-Ungarn erhielt sie 1851, Rußland-Polen 1850, Italien 1860-1866. Auch die kanadischen, südafrikanischen und australisch-englischen Kolonialstaaten standen lange unter der einheitlichen englischen Herrschaft, ehe sie durch Handels- und Zolleinigungen zusammenwuchsen und als Gesamtstaaten wirtschaftlich sich einigten. In Deutschland ist umgekehrt der Zollverein langsam 1828-1851 entstanden, das einheitliche Reich erst 1867-1871. Aber das ist auch eigentlich die einzige erhebliche Ausnahme von der historischen Regel, daß die politische der Handelseinigung vorauszugehen pflegt. Die Ursache ist eine einfache: eine gemeinsame Handels- und Zollverfassung ist so sehr bedingt von politischen Einheitstendenzen, von einheitlichen Machtverhältnissen, von einheitlichen politischen Gefühls- und Interessemomenten, daß nur unter ausnahmsweise günstigen Voraussetzungen einmal ein Zollverein wirklich selbständiger Staaten gelingen kann.
Im 19. Jahrhundert sind in Europa außer dem deutschen Zollverein alle Anläufe zu Ähnlichem mißlungen. So vor allem in den Jahren 1878-1890 die von Molinari, Brentano, R. Kaufmann, Graf Paul de Leusse, Guido von Baussern vorgelegten Pläne, die mitteleuropäischen Staaten zu einem Handelsbunde gegen das maßlose Hochschutzzollsystem der Vereinigten Staaten zusammenzufassen. Aber auch der einzige ernste Anlauf zu einem Zollbunde zwischen zwei großen Staaten, nämlich der zwischen dem Zollverein und Österreich-Ungarn (1853-1865) ist im ganzen gescheitert, hatte sich nicht so eingelebt, daß ihn nicht die freihändlerische internationale Welle von 1860 bis 1865 wieder hinweggefegt hätte. Es war ein Zollbund, der eine Anzahl Rohstoffe, Fabrikmaterialien, Fabrikate von geringem Werte gegenseitig vom Zoll befreite, andere um 25-50 % des sonst gültigen Zolls herabsetzte, gegenseitige Durchfuhrfreiheit und ein Zollkartell (gemeinsame Verfolgung des Schmuggels) bot. Er konnte keine großen Resultate volkswirtschaftlicher und politischer Verschmelzung haben, weil er Preußen durch das politische Übergewicht des damaligen Österreichs aufgezwungen war, weil nach dem baldigen Tode von Reichskanzler Schwarzenberg und Minister Bruck die treibenden Männer fehlten und weil in Österreich selbst die Schutzzöllner ihn nur ungern angenommen hatten; die österreichische Regierung hat seine geplante Fortbildung zur vollen Zolleinigung 1858-1862 nicht ernstlich verfolgt. Bismarck war schon 1852 Gegner des Verbandes gewesen. Er sagt in den »Gedanken und Erinnerungen« (I, 85-86), wo er seine Wiener Mission von 1852 schildert, er habe weder damals noch später die Zolleinigung für ratsam gehalten, betont dabei die Verschiedenheit des Konsums der verzollten Artikel und die Verschiedenheit der Zuverlässigkeit der Unterbeamten. Die sinkende Valuta hemmte 1853-1865 stets wieder den gegenseitigen Verkehr. Der ganz unparteiische süddeutsche Sachkenner, Professor Rau Die Krisis der Zollunion, Arch. f. pol. Ökonomie, N. F. Bd. 10 (1853)., hatte schon 1852 die Zolleinigung mit ganz Österreich für »untunlich« erklärt. Als Preußen 1862-1866 der mächtigere Teil geworden und den französischen freihändlerischen Handelsvertrag geschlossen hatte, mit Zollherabsetzungen, die Österreich zu weit gingen, mußte Österreich auf die Begünstigungen von 1853 verzichten; es mußte 1865 einen gewöhnlichen liberalen Handelsvertrag mit Preußen und dem Zollverein schließen. Die Illusion der kommenden Zollunion war beseitigt; der bayrische Staatsrat Weber, der Historiker des Zollvereins, fügt 1870 bei: »Die Zollunion ist wahrscheinlich für immer zu Grabe geleitet« Der deutsche Zollverein. Geschichte seiner Entstehung und Entwicklung, S. 448..
Die Anläufe anderer zumal kleinerer Staaten zu Verbindungen und Anschlüssen sind bis in die neuere Zeit nie über Projekte hinausgekommen, so der Gedanke, Holland an den Zollverein, Belgien an Frankreich anzuschließen. Der Versuch Serbiens und Bulgariens, sich 1906 zu einer Zollunion zu verbinden, ist trotz gründlicher Vorbereitung gescheitert, hauptsächlich an der energischen Bekämpfung durch Österreich-Ungarn.
In den Jahren 1879-1906 war es natürlich, daß in Deutschland und Österreich-Ungarn wohl mancherlei Stimmung für nähere Handelsverbindung eintrat, aber doch die Furcht vor den Schwierigkeiten der Ausführung und vor den etwa drohenden Konkurrenzschäden überwog. A. Peez spricht 1879 noch von den unlösbaren Interessenkonflikten, die der Einigung entgegenstünden; 1889 aber waren für ihn die Gefahren der Weltreiche gegenüber Mitteleuropa so gewachsen, daß er Bund oder Zollvereinigung gegen sie erhofft; jedoch ein Zollverein von Deutschland und Österreich ohne Italien scheint ihm damals nicht recht möglich Matlekowitz, Zollpolitik der österr.-ungar. Monarchie und des Deutschen Reiches, 1891, S. 855-874..
Auf dem volkswirtschaftlichen Kongreß von 1880 war der deutsche fortschrittliche Liberalismus ganz gegen die nähere Verbindung mit Österreich, er witterte dahinter nur Schutzzollinteressen; die Österreicher Hertzka und v. Dorn versuchten vergeblich daran zu erinnern, daß solche Vereinigung ja freiere Bewegung erzeugen. a. O. S. 857-863.. Im Jahre 1885 meint E. v. Gaal auf dem internationalen landwirtschaftlichen Kongreß in Budapest, eine Zollunion gegen die Weltmächte sei wohl wünschenswert, aber kaum möglich.
Als dann in den neunziger Jahren die europäischen Handelsverträge sämtlich abliefen und erneuert werden mußten, da trat man in Deutschland unter Caprivi an das Problem heran, die Führung in den neuen Verträgen zu übernehmen, und zwar in Verbindung mit Zollunionsgedanken. Caprivi übergab die zuerst abgeschlossenen Verträge dem Reichstag mit einer Rede, welche den Kampf der großen Weltmächte gegen die kleineren Staaten betonte. Der Ultramontane Reichensperger hob die Nützlichkeit und Notwendigkeit einer mitteleuropäischen Zollkoalition hervor. Der Sozialdemokrat Singer sprach von einer Konstituierung der Vereinigten Staaten von Europa. Der Nationalliberale Möller erklärte, Mitteleuropa müßte sich auch handelspolitisch zusammenschließen. Dr. Lieber vom Zentrum sah in den Verträgen das gleiche wie Singer. Das Resultat der Verträge entsprach diesen großen Worten nicht; die Getreidezollermäßigung, durch die Deutschland der habsburgischen Monarchie entgegenkam, erzeugte eine agrarische Schutzzollbewegung ohnegleichen, weil sie zufällig mit überreichen Ernten zusammenfiel. Der Europa mißhandelnde amerikanische Dingleytarif (1896) hätte unter anderen Verhältnissen vielleicht schon damals die nähere Verbindung Deutschlands und Österreichs herbeigeführt. Jetzt steigerte er nur die Schutzzollagitation in beiden Reichen. Die Agrarier erklärten 1899, in Widerspruch mit ihren früheren Erklärungen, kein deutscher Agrarier habe je von einem Zollbund mit Österreich etwas wissen wollen. Der Zentralverband der österreichischen Industriellen meinte im selben Jahre, eine Zollannäherung sei vielleicht möglich, keinesfalls eine Zollunion. Als 1900 in Wien die Gesellschaft der österreichischen Volkswirte die Frage erörterte, war die Meinung sehr geteilt; Philippovich freilich war für ein eingeschränktes Zoll- und Handelsbündnis, aber die Betonung des Schutzzollausbaues wurde doch sehr in den Vordergrund gestellt Vgl. über die Stimmungen und Verhandlungen 1880-1900 E. Francke, Zollpolitische Einigungsbestrebungen in Mitteleuropa. (Schriften des Vereins für Sozialpolitik, Band 90, I, S. 187-272.).
Und diese Betonung erschwerte beiderseits die Erneuerung der Zollverträge zwischen den Zentralstaaten 1902-1904. In Berlin hatte Bülow größte Not, die extremsten agrarischen Schutzzollwünsche abzulehnen. In beiden Staaten setzten die Interessenten höhere Agrar- und sonstige Zölle durch. Zugleich wuchs der handelspolitische Gegensatz zwischen Österreich und Ungarn. Für 1917, dem Zeitpunkt des Ablaufens der Verträge, drohte seit Jahren ein Schutzzollkampf zwischen den beiden Reichshälften, eine handelspolitische Trennung derselben.
Vergeblich hatte ich 1900 in meinem Jahrbuch Jahrbuch XXIV, S. 382. gewarnt: »Die zentraleuropäischen Staaten müssen die trennenden politischen und wirtschaftlichen Elemente zurückstellen gegenüber dem einenden. So fern ein mitteleuropäischer Zollverein sein mag, die Aufgaben des neuen Jahrhunderts liegen auf dem Wege des Zusammenhaltens der mittleren und kleineren zentraleuropäischen Staaten.«
Erst mit dem Weltkrieg 1914 erwachte diese Erkenntnis in weiteren Kreisen. Und die Ursache ist klar. Großbritannien, Rußland und Frankreich zeigten offen, daß sie die ihnen unbequeme deutsche und österreichisch-ungarische Macht, die wirtschaftliche Blüte dieser Staaten, vernichten wollen. Dieser Gefahr gegenüber traten alle die kleinlichen schutzzöllnerischen Sonderinteressen der Berufszweige der einzelnen Industrien in beiden Reichen doch mehr und mehr zurück. An den verschiedensten Stellen, in den verschiedensten Parteilagern empfand man nun rasch und unwiderstehlich: Mitteleuropa muß nicht bloß politisch und militärisch, sondern auch volkswirtschaftlich sich einigen und zusammenhalten. Und nicht bloß für die Kriegszeit, sondern dauernd. Aus der geographischen Lage der beiden Reiche, aus ihrem erschwerten Zugang zum Weltmeer ergab sich der Gedanke: beide Reiche müssen sich mit der Türkei und den Balkanstaaten, eventuell wenigstens den wichtigeren derselben, einigen, um so zu Lande einen Zugang nach Afrika, nach Persien und Indien sich zu schaffen. In irgendwelcher Form muß so durch Bündnisse ein Gegengewicht gegen die erdrückende brutale Politik der drei Weltmächte Großbritannien, Rußland und Frankreich geschaffen werden. Und diese Bündnisse müssen nicht bloß politische, sondern auch militärische sein und handelspolitische Annäherung oder Einigung schaffen. Dreißig Jahre lang hatten die meisten Geschäftsleute mitleidig auf die Gelehrten herabgesehen, die von einem mitteleuropäischen Zoll- und Handelsverband träumten und redeten. Jetzt war plötzlich alle Welt dafür, nur weil die Kriegsbeleuchtung die Lebensfragen in den Vordergrund gerückt, die kleinlichen Sonderinteressen zurück in das Halbdunkel geschoben hatte. Mit der Leidenschaft eines politisch-sozialen Apostels predigte Friedrich Naumann von der großen Zukunft Mitteleuropas. Der Verein für Sozialpolitik schuf durch das Verdienst von Heinrich Herkner in wenigen Monaten seine zwei lehrreichen Bände: »Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten.« Die Zahl der Broschüren über das Thema wuchs rasch in die Dutzende, die Zahl der Zweifler an diesem handelspolitischen Ideal nahm ab, die Zahl der Bekenner nahm zu.
Und doch wird die Durchführung noch die größten Schwierigkeiten bieten. Nicht nur, weil das Schwergewicht des Bestehenden sich allem Neuen entgegensetzt. Sondern weil natürlich die Handelsvereinigung in jeder Form bestimmte einzelne bestehende wirtschaftliche Interessen verletzt, sie einengt, zu unbequemen Neuerungen und Fortschritten nötigt. Auch die zahlreichen Staatsbeamten, die in den letzten 10-20 Jahren in beiden Reichen gewohnt waren, den Schutzzollinteressen zu dienen, werden sich in die Gedanken entgegengesetzter Art nicht sofort leicht finden. In Deutschland war ja Fürst Hohenlohe eigentlich selbst Freihändler gewesen, aber auch er mußte das Anschwellen der schutzzöllnerischen Hochflut dulden; er berief Posadowsky als agrarischen Hochschutzzöllner, weil diese Richtung durch die politischen Konjunkturen zunächst unabwendbar war; Posadowsky war ein unabhängiger Kopf, der von seinen östlich-agrarischen Tendenzen sich nach und nach zu befreien fähig war. Aber er schuf zunächst den schutzzöllnerischen Beamtenstab, der bis heute das Reich handelspolitisch in der Hand hat. Er hat unter Bülow den neuen Tarif und die neuen Handelsverträge zustande gebracht, die wenigstens die schlimmsten agrarischen Hochschutzzollverirrungen abhielten, aber doch in den Verhandlungen mit Österreich-Ungarn 1904-1906 von den Unionsgedanken der Jahre 1890-1894 sich noch weiter entfernten als die Verträge von 1892-1904. Bülow besitzt ja wohl auch ein agrarisches Herz, aber seine Bildung und sein internationaler Weitblick hat 1904 den Sieg des extremsten Schutzzolls abgehalten, das Reich aber handelspolitisch der habsburgischen Monarchie nicht genähert. Es ist jetzt Bethmanns, Helfferichs und Zimmermanns Aufgabe, die Rückkehr zu den Unionsgedanken von 1890-1892 zu finden, die Schutzzolltendenzen so weit wenigstens zurückzudrängen, daß ein handelspolitisches Bündnis mit der habsburgischen Monarchie, eventuell eine Angliederung der Türkei und der Balkanstaaten möglich wird. Sie werden dabei nicht bloß in den deutschen, österreichischen und ungarischen Schutzzollinteressen Widerspruch finden, sondern auch in dem Beamtentum, das 1895-1914 in entgegengesetzter Richtung zu segeln sich gewöhnt hatte.
Diese Schwierigkeiten, die heute noch der Zollannäherung der Zentralstaaten entgegenstehen, werden neben den Schwierigkeiten, die in der Sache an sich schon liegen, nämlich den Konkurrenzbefürchtungen in den einzelnen Ländern und Berufs- und Gewerbszweigen, das Gelingen der Zollunion oder Zollannäherung erheblich erschweren.
Aber man wird über diese Schwierigkeiten doch Herr werden, weil der Weltkrieg Herz und Blick für die Zukunft weit gemacht hat, weil in großer Zeit die Entschlußkraft für große künftige Ziele wächst.
Dabei ist natürlich die kriegerische Bundesgenossenschaft nicht das wesentliche Motiv für die größere Zollannäherung; England und Frankreich, Frankreich und Italien werden an einen Zollverein für ihre Staaten nicht denken, noch weniger Rußland und Großbritannien. Die tiefere Notwendigkeit einer deutsch-österreichisch-ungarischen Zollannäherung liegt in der gemeinsamen Vergangenheit beider Reiche und in der Notwendigkeit gemeinsam wirtschaftlichen Handelns in der Zukunft. Deutschland und Österreich-Ungarn haben eine gemeinsame Geschichte und Kultur von Jahrhunderten; sie haben einstens das Deutsche Reich zusammen gebildet; sie haben nach dessen Auflösung schon 1853-1865 den Versuch eines Zollbundes gemacht. Ein großer Teil der beiderseitigen Völker hat dieselbe Sprache, dieselbe Abstammung, dasselbe Recht, dieselbe Wissenschaft; sie bilden eine geographische Einheit, die an sich schon tausendfache wirtschaftliche und politische Gemeinsamkeiten schafft.
Aus ihrer neueren gemeinsamen Vergangenheit ist das wichtigste, daß 1866 Bismarck klug genug war, von Österreich keine Landabtretung und keine Kontribution zu fordern. Das war die Brücke zum künftigen Bündnis. Und dieses Bündnis ist immer stärker geworden; zwar wurde die Macht Deutschlands größer als die Österreich-Ungarns, aber nicht so groß, um der Habsburger Monarchie die Ebenbürtigkeit im Bündnis zu nehmen. Auch im künftigen Zollbunde kann Deutschland nicht befehlen; beide Reiche können und werden sich vertragen; sie können es, weil sie in politischer und wirtschaftlicher Beziehung mehr gemeinsame als verschiedene Ziele haben. Sie müssen sich immer wieder vertragen, weil sie neben den heute riesenhaft ausgedehnten Weltreichen nur gemeinsam eine ebenbürtige Macht bilden, weil sie ihre großen gemeinsamen Wirtschafts- und Machtinteressen nur in der Vereinigung erreichen können.
Das von Bismarck einst ausgesprochene Wort, die Politik zweier Staaten könne freundschaftlich sein, ohne daß sie zugleich eine wirtschaftliche Annäherung oder Freundschaft bedeute, kann für viele einzelne Fälle richtig sein. Es ist aber keine Losung für alle Fälle, am wenigsten für das Deutsche und Österreichisch-ungarische Reich der Gegenwart, überhaupt nicht für die wichtigsten analogen Fälle der Geschichte. Für unsere heutige mitteleuropäische Gegenwart und nächste Zukunft fragt es sich in beiden Reichen, ob Einsicht und Willenskraft für die großen Lebensinteressen stark genug sind, um einzelne etwa bedrohte Spezialinteressen von Berufsunternehmergruppen, wie sie in den letzten 15-20 Jahren sich noch mehr als früher ausbildeten, zu überwinden. Große allgemeine Zukunftshoffnungen und kleine spezielle Gegenwartsinteressen stehen sich gegenüber; die letzteren machen sich mit der brutalen Dringlichkeit der Gegenwart geltend; die Zukunftshoffnungen werden getragen von den großen politischen Köpfen, auch von nationalen Idealisten, zuletzt von großen Volksstimmungen; natürlich schließen solche Zukunftshoffnungen keine sichere Erfüllung von heute auf morgen in sich. Als der preußische Finanzminister Motz Friedrich Wilhelm III. 1828 bewog, erhebliche Augenblicksopfer einer großen nationalen Zukunft, die der Zollverein bot, zu bringen, konnten die Kritiker und Nörgler auch damals zweifeln, ob dieser Feuerkopf recht behalte; niemand konnte damals sagen, daß aus dem heißumstrittenen Zollverein das spätere Deutsche Reich entstehen würde.
Aber deswegen hatten die Gegner des Zollvereins 1828-1834 doch unrecht, als sie die Erdrückung der württembergischen und bayrischen Gewerbe durch die rheinisch-westfälische Industrie als sicher prophezeiten. Und ganz ebenso hatte die sächsische Textilindustrie 1870-1872 unrecht, als sie erklärte, durch die elsässische Konkurrenz zugrunde gerichtet zu werden. In beiden Fällen erlebten die Klagenden bald statt des Ruins einen Aufschwung bedeutsamer Art. Um ähnliches handelt es sich heute wieder. Natürlich wird jede Zollannäherung, und noch mehr eine volle Zollunion, an gewissen Stellen die Konkurrenz vermehren; einzelne Geschäftszweige gehen zurück, einzelne Geschäfte werden fallen. Aber wichtiger wird sein, daß andere um so mehr aufblühen, daß überall die größere Anstrengung zu technischem und organisatorischem Fortschritt führt, daß eine richtige interlokale und technische Arbeitsteilung Platz greift und den Gesamtwohlstand hebt.
Ganz sicher nun kann niemand sagen, wie alles das im einzelnen verlaufe. Und daher werden die Angstmeier da und dort recht behalten, während wahrscheinlich die großzügigen Optimisten im ganzen doch richtiger in die Zukunft sehen, sofern es sich überhaupt um Gegenden und Geschäftszweige mit Entwicklungsmöglichkeit handelt.
Natürlich muß man im Stadium der Vorbereitung großer handelspolitischer Entschlüsse nun nicht bloß die Optimisten, sondern auch die Pessimisten, nicht bloß die Politiker, sondern auch die Interessenten und vor allem die, welche vielleicht Schaden leiden, hören. Man darf nur nicht vergessen, daß letztere viel mehr schreien als die, welche den Vorteil haben; diese pflegen zu schweigen und zu behaupten, sie hätten auch Schaden, sie stimmten nur aus Patriotismus und Edelmut den geplanten Zolländerungen zu; und diese Tugenden, von denen sie triefen, fehlten eben ihren Gegnern.
Es ist daher auch durchaus berechtigt und selbstverständlich, daß in der neuesten Literatur über deutsche und österreichische Zollannäherung vielfach der Schwerpunkt der Erörterung in die Darlegung und Prüfung der Konkurrenzverhältnisse der Hauptberufe und Gewerbszweige gelegt wurde. Man muß, ehe man an die Hauptentscheidungen herantritt, wissen, und zwar möglichst genau und in allen Einzelheiten, um welche Interessen, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten der Schädigung und des Fortschritts es sich handelt. Ich weise nur kurz auf einiges aus der Literatur hin.
In den beiden Bänden des Vereins für Sozialpolitik über »Die wirtschaftliche Annäherung zwischen dem Deutschen Reiche und seinen Verbündeten« Band 155. I u. II. München und Leipzig 1916, Duncker & Humblot. 8°. XIV u. 403, X u. 406 S. untersucht Schumacher hauptsächlich die Frage, wo der Schwerpunkt der deutschen Absatzverhältnisse im Ausland bisher lag, wie der Absatz nach anderen Ländern zu dem nach Österreich-Ungarn sich stelle. Eßlen erörtert die Art und die Bedeutung der österreichisch-ungarischen Agrareinfuhr nach Deutschland und deren Einfluß auf die deutsche Landwirtschaft. Ballod stellt die Entwicklung der österreichischen, Fellner die der ungarischen Landwirtschaft dar. Daran knüpft sich H. Meßners »Österreichisch-ungarische Viehproduktion und Fleischversorgung«; von Tyszka untersucht die wirtschaftliche Annäherung der Zentralmächte vom deutschen Konsumentenstandpunkt aus. Eulenburgs große gründliche Arbeit prüft die Konkurrenzverhältnisse der deutschen Industrie in allen ihren einzelnen Zweigen gegenüber der österreichisch-ungarischen. Kobatsch behandelt in unserem Sammelband, wie in einer besonderen Broschüre Ein Zoll- und Wirtschaftsverband zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, 1915. die entsprechenden Aufgaben für Österreich. Auch in der übrigen Literatur über das Problem spielt diese Tatsachenprüfung der Konkurrenz natürlich eine große Rolle. Auf diese Literatur und alle ihre Einzelheiten hier weiter einzugehen, ist leider nicht möglich.
Jeder, der sich heute ein zuverlässiges Urteil über das Problem erlaubt, wird natürlich das ganze erreichbare derartige Material prüfen, zu einem Gesamtergebnisse zusammenfassen müssen. In jeder solchen Zusammenfassung werden aber die gesamten wissenschaftlichen und praktischen Kenntnisse, Urteile, Hoffnungen der Betreffenden mitsprechen; jedoch wir dürfen hoffen, daß das bei den entscheidenden Persönlichkeiten geschieht in einer Weise, die dem Vaterlande zum Heile gereicht.
Ich habe einen großen Teil meines wissenschaftlichen Lebens der Geschichte des deutschen Zollvereins gewidmet, jetzt wieder alles über die einschlägigen Fragen gelesen und durchdacht. Und ich komme zu dem Ergebnis: so wenig wir über die Folgen einer zoll- und handelspolitischen Annäherung der Zentralstaaten in allen Einzelheiten Sicheres prophezeien können, im ganzen muß ein Versuch derart jetzt mit Energie angestrebt werden. Und er wird aller menschlichen und historischen Wahrscheinlichkeit nach heute große und heilsame Erfolge zeitigen, so viele Schwierigkeiten dabei noch zu überwinden sind. Wir werden sagen können, dahin drängen heute weltgeschichtliche Notwendigkeiten und die Erfolge des Weltkrieges. Die führenden Männer fast aller Klassen und Parteien einigen sich in beiden Reichen mehr und mehr unter dieser Fahne.
Die Unmöglichkeit, daß die volle Zollunion heute ohne Übergangsmaßregeln eingeführt werden könnte, weil sie vielfach durch die plötzliche Änderung der Konkurrenz einzelne Zweige der Volkswirtschaft zu sehr schädigen würde, hat zu dem fast von allen Beteiligten einheitlich vertretenen Schluß geführt: wir müßten zwar, und wahrscheinlich umfangreicher als 1853 und als es heute geschieht, für viele Rohstoffe, Materialien, auch für manche Fabrikate freien Verkehr zwischen beiden Reichen einführen; aber für die Rohprodukte und Fabrikate, auf welche die plötzliche Konkurrenz einen zu starken Druck ausübte, müsse im gegenseitigen Verkehr ein gewisser Zoll belassen werden, der niedriger sei als der Außenzoll, aber zunächst doch ausreiche, den ersten Konkurrenzstoß abzuschwächen. Eine zweite Frage ist, ob derartiges als dauernde Maßregel oder als Einleitung für Größeres geschehen soll, ob nach weiteren fünf, zehn, zwanzig Jahren diese Zwischenzölle weiter herabgesetzt werden, ob sie später gar ganz fallen sollen. Darüber braucht aber heute nicht sofort ein Beschluß gefaßt zu werden.
Auf Grund des ähnlichen Versuches, den wir 1853-1865 machten, werden wir an die Ausführung eines solchen Zwischenzoll- oder Vorzugssystems herantreten. Das damals gezahlte Lehrgeld wird uns vor Fehlgriffen hoffentlich bewahren. Die Überwindung der Schwierigkeiten ist heute viel wahrscheinlicher als damals. Die Vorbedingungen, die 1853 zu dem Schritte führten, waren vorübergehende, heute sind sie dauernde. Wir wissen heute zum Beispiel klar, daß nur eine Stabilisierung der österreichisch-ungarischen Valuta uns vor den Mißerfolgen von 1852-1863 bewahren kann. Darüber haben Knapp und Spiethoff in den Schriften des Vereins für Sozialpolitik Band I, S. 188-189 und S. 56-57. gehandelt. Nach den Erfahrungen seither bis heute dürfte es nicht schwer sein, dagegen Abhilfe zu schaffen. Ich gehe darauf nicht ein. Wir wissen heute ebenso klar, daß die gesamte Eisenbahntarifpolitik die Erfolge der Zollpolitik entweder sehr steigern oder illusorisch machen kann. Wir werden also auch darüber Verabredungen treffen müssen.
Auch in der Richtung haben wir heute klare Einsicht, daß man bei solcher Zollannäherung beider Reiche sich einig sein muß, daß die künftigen Handels- und Zollverhandlungen mit dritten Staaten in der Regel gemeinsam geführt werden müssen, und zwar gilt das für die Verhandlungen mit den befreundeten Staaten (Türkei, Balkanstaaten) und mit den neutralen Staaten (Vereinigte Staaten, Schweiz, Skandinavien, Südamerikanische Staaten), ebenso wie für die mit den jetzt uns feindlichen Staaten (Rußland, Großbritannien, Frankreich und Italien), die wahrscheinlich auch nach dem Kriege nicht sofort ihre wirtschaftliche Abneigung gegen uns fallen lassen werden.
Und noch wichtiger ist, daß vor allen anderen Verhandlungen Deutschland und Österreich-Ungarn sich klar werden müssen über das Verhältnis von Österreich und Ungarn untereinander. Dieses Verhältnis ist fast schwieriger in Ordnung zu bringen als das zwischen den beiden großen Reichen.
Ungarn und Österreich führen seit dem 16. Jahrhundert eine stets hadernde Vernunftehe; sie haben sich eigentlich nie geliebt, oft nicht verstanden. Ungarn mußte mehrmals mit den Waffen wieder unterworfen werden, es hat sich nie ganz dem absoluten Beamtenregiment der Habsburger gebeugt; es hat stets eine Art Adels- und Großgrundbesitzerrepublik gebildet; dafür aber eine politisch kluge, regierungsfähige Aristokratie ausgebildet und ein großes Maß konstitutionell politischer Freiheit sich erworben. Bei allem Hader, der vom 1867er Ausgleich an fast eher noch zu- als abnahm, haben die beiden Reichshälften doch nach und nach einzusehen gelernt, daß sie sich politisch und wirtschaftlich gegenseitig notwendig bedürfen. Und es wird bald auch die Zeit kommen, in welcher alle klugen Leute diesseits und jenseits der Leitha einsehen, daß die Tendenz, aus Ungarn ein eigenes Zollgebiet zu machen, zu einem Schildbürgerstreiche führte. Würden die Ungarn dieses Ziel, auf das sie viel mehr aus innerpolitischen Gründen als aus wirtschaftlichen in letzter Zeit hinstrebten, erreichen, so würde das Land ein ohnmächtiger Mittelstaat werden. Es wäre ebenso klug, als wenn die Provinzen Pommern, Ost- und Westpreußen ein eigenes Zoll- und Handelsgebiet werden wollten, um eine Industrie wie Rheinland und Westfalen zu entwickeln.
Ungarn kann seiner natürlichen Bedingungen wegen kein eigentliches Industrieland werden. Daß es etwas mehr Gewerbe haben will, ist berechtigt; es gibt manche Wege dazu, nur nicht den einer eigenen Handelspolitik. Ungarn muß sich auf die Gewerbe beschränken, für die es natürliche Vorbedingungen hat; und es muß bei aller angezeigten Erhaltung seiner Grundaristokratie das Bürgertum und den Arbeiterstand so behandeln, daß sie besser gedeihen können. Aber die Errichtung einer Zollgrenze gegenüber Österreich wäre die größte Torheit, die es sich und Österreich antun könnte. Man muß endlich auch in Budapest einsehen, daß man in der Epoche der Weltreiche sein Heil nicht auf dem Wege nach Krähwinkel suchen darf. Ein eigenes Zoll- und Handelsgebiet hätte Ungarn vielleicht im 16. bis 17. Jahrhundert werden können. Heute ist mit bornierter Blindheit geschlagen, wer solches anstrebt. Jedenfalls sägt, wer die Zollannäherung mit Deutschland anstrebt, mit solchen Plänen den Zweig ab, auf dem er sitzt.
Außerdem schaffen die Gesetze von 1881 und 1890 über innere Industriebeförderung Ungarns (durch Darlehen, Steuerfreiheiten und Ähnliches), wenn man sie richtig handhabt Vgl. J. Bunzel, Zur Kritik der ungarischen Industriepolitik (in Schmollers Jahrbuch für Gesetzgeb., Verwalt. u. Volksw. XXVI (1902), S. 1171 ff.)., genugsam Mittel, die Gewerbe zu heben, die eine Zukunft in Ungarn haben. Zu glauben, in jedem Staate, auf jedem Boden könne man jede beliebige Industrie durch Schutzzölle schaffen, ist so unsinnig, als wenn man glaubt, durch extremen Freihandel entstehe überall ein größerer Wohlstand.
Wir kommen zurück auf die vorhin festgestellte Tatsache, daß wir heute über eine künftige Zollunion keinen festen Beschluß zu fassen brauchen, daß wir zunächst nur eine Zollbevorzugung zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn anstreben wollen. Das kann in ähnlicher Form geschehen wie 1853; es kann, was materiell aber auf dasselbe herauskommt, geschehen in der Form des Dreizolltarifsystems, das einige mittelamerikanische Staaten unter sich, ebenso die Vereinigten Staaten mit Kuba und Brasilien haben.
Das Dreitarifsystem geht von der richtigen Erkenntnis aus, daß es, je weiter die internationalen Handelsbeziehungen und -verträge gehen, um so schwieriger werde, allen Staaten, mit denen man Handelsverträge schließt, die ganz gleichen Begünstigungen (als Folge der herkömmlichen Klausel der sogenannten Meistbegünstigung) einzuräumen. Das neue System hat daher drei Tarife: den Generaltarif, der gilt, wenn kein Vertrag zwischen Ausland und Inland zustande kommt; den allgemeinen Begünstigungstarif, in dem die Resultate der Verträge mit der Mehrzahl der anderen Staaten niedergelegt sind, der allen fremden Vertragsstaaten zugute kommt; daneben nun noch den dritten Tarif, der weitere größere Konzessionen enthält, die man aber nur den benachbarten und besonders befreundeten Staaten einräumt. Ich habe derartiges schon vor 20 Jahren empfohlen Schmollers Jahrbuch für Gesetzgeb., Verwalt. u. Volksw. XIX (1895), S. 1053.. Schumacher hat jetzt allgemeiner darüber gehandelt Schr. d. Ver. für Sozialpolitik Bd. 155, I, S. 93-132; siehe auch die Bemerkung von Spiethoff darüber: daselbst S. 55, und die von R. Schüller über Meistbegünstigung und Vorzugsbehandlung, daselbst S. 135-151. und diesen Weg für unsere Annäherung an Österreich-Ungarn empfohlen. Er kann natürlich sehr verschieden weit, sehr vorsichtig oder sehr energisch betreten werden.
Das Wesentliche ist: die gegenseitigen besonderen Begünstigungen müssen so groß sein, daß sie beiden Reichen Vorteil bringen, daß der gegenseitige Verkehr erheblich wächst, daß seine Segnungen die Schädigungen weit überwiegen, die aus der verstärkten Konkurrenz für einzelne Landwirtschafts- und Gewerbszweige erwachsen.
In den 20 Jahren von 1892 bis 1913 nahm unter den 1892 wie 1905 gesteigerten und gegenseitig fast mehr hemmenden als erleichternden Schutzzöllen die gegenseitige Einfuhr zu:
von Österreich-Ungarn von Deutschland
nach Deutschland nach Österreich-Ungarn
von 575,4 Mill. Mk. von 376,6 Mill. Mk.
auf 827,3 Mill. Mk. auf 1104,8 Mill. Mk.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß nach weiteren 20 Jahren mit ermäßigten Vorzugszöllen diese Zahlen die doppelten oder sogar dreifachen sein werden. Mögen wir Deutsche also noch so sehr betonen, daß für den Absatz unserer Industrieprodukte und für den Bezug unserer Rohstoffe im ganzen andere Staaten noch wichtiger seien als Österreich-Ungarn, daß wir nie vergessen dürfen, uns möglichst die Wege nach England und den englischen Kolonien, nach Nord- und Südamerika, nach China und Japan offen zu halten, so ist doch der Verkehr mit Österreich-Ungarn deshalb von besonderer Bedeutung, weil er als Nachbarverkehr der sicherste ist. Und er hat ferner das für sich, daß die Habsburger Monarchie zwar nicht die Kaufkraft wie England, aber eine viel größere hat als zum Beispiel Rußland und Italien. Jeder Verkehr in die Ferne ist leichter gestört. Eine Annäherung an Österreich-Ungarn nähert uns dem Ideal eines einheitlichen Marktes von 120 Millionen Menschen. Und wir haben aus der Geschichte des Zollvereins gelernt, was der innere Markt bedeutet. Eine Reihe von neueren wissenschaftlichen Untersuchungen haben uns zu zeigen gesucht, wie viel wichtiger die Zunahme des inneren als des äußeren Absatzes sei.
Mit dem Abschluß eines Vorzugsvertrags zwischen beiden Reichen wird ein Strom deutscher Intelligenz und Technik, wie ein Strom deutschen Kapitals nach Österreich-Ungarn, und ein Strom österreichisch-ungarischer Arbeiter, Vorarbeiter und Künstler, viel umfassender als bisher, teils periodisch, teils dauernd nach Deutschland kommen. Die Begründung deutscher Unternehmungen in Österreich-Ungarn und österreichischer in Deutschland wird wachsen. Es ist für Österreich-Ungarn sehr gut, wenn seine Auswanderung nach Übersee sich in eine solche nach Deutschland verwandelt.
Nicht mit Unrecht hoffen die österreichischen Intellektuellen, daß, je mehr der Vertrag die Türen öffnet, desto mehr auch deutsche Tatkraft, deutsche Präzision überhaupt in Österreich eindringen, die geschäftlich schädliche Gemütlichkeit einschränken, daß damit Reformen der Verwaltung, des Verkehrswesens, der Industrie- und Kreditorganisation sich durchsetzen werden, die bisher nicht zu erreichen waren.
Die ungarische Landwirtschaft, teilweise auch die österreichische, kann, wenn sie der Intensität der deutschen sich nähert, ihre Ernten sehr erhöhen; das wird nicht schnell geschehen; deswegen werden auch unsere Landwirte diese Konkurrenz nicht sehr zu fürchten haben. Aber es wird doch wahrscheinlich in ein bis zwei Generationen sich durchsetzen, wenn ein großer allgemeiner Aufschwung in der habsburgischen Monarchie eintritt. Er setzt eine große Viehzunahme in Österreich-Ungarn voraus sowie ein Wachsen der einheimischen Nachfrage. Aber jedenfalls wird zugleich damit künftig für das Deutsche Reich die österreichisch-ungarische Einfuhr nicht mehr überwiegend auf Holz und Eier beschränkt sein; wir werden in einem Falle ähnlicher Absperrung vom Welthandel wie heute viel gesicherter werden als jetzt.
Aber nicht bloß die österreichische Landwirtschaft, auch der ganze Teil der österreichischen Gewerbe, die eigentümliche Vorzüge haben, werden einen größeren Absatz nach Deutschland erhalten, wie die Wollen- und Leinenindustrie (die österreichische Baumwoll- und Seidenindustrie, die weniger entwickelt sind, werden eher von Deutschland aus ergänzt werden); dann die Konfektion, die Bekleidungs-, die Kunstindustrie (während der Bedarf von chemischen und Eisenprodukten mehr durch deutsche Einfuhr gedeckt werden wird). Die deutsche Volkswirtschaft wird mehr und mehr ein System der Arbeitsteilung mit der österreichischen ausgestalten, wie bisher mit der englischen. Und je mehr das geschieht, und je mehr das als Vorteil klar erkannt wird, desto mehr wird auch der Wunsch, zunächst noch durch gewisse Schutzzölle geschützt zu sein, zurücktreten können. Je dauernder und fester die Zoll- und Handelsverbindung zweier Staaten wird, desto mehr kann das geschehen, desto mehr werden Kartelle genügen, die etwaige noch zu starke Konkurrenz einzudämmen.
Wahrscheinlich erheblicher noch als die österreichische Einfuhr nach Deutschland wird die deutsche nach der habsburgischen Monarchie wachsen, wie sie bisher schon etwas stärker zunahm. Sie besteht hauptsächlich aus industriellen Erzeugnissen; sie beruht auf der höheren technischen und organisatorischen Entwicklung der deutschen Industrie. Die Konkurrenz ist zunächst, soweit sie für Österreich-Ungarn erscheint, durch Zwischenzölle etwas zu mildern; sie wird sich vielfach in der Form von deutschen Filialen in Österreich-Ungarn äußern und wird dann den wirtschaftlichen Fortschritt dort um so mehr fördern. Und diese Konkurrenz wird sich wesentlich auf die Produkte beziehen, die Deutschland an sich eben besser und billiger liefert, deren Erzeugung in Österreich-Ungarn daher ohne großen Schaden zurückgehen oder aufhören kann, resp. sich spezialisieren wird.
Spiethoff sagt über die deutschen Industriewaren, die nach Österreich gehen und deren Absatz noch wachsen wird: »In erster Linie sind zu nennen Eisenwaren aller Art, deren Ausfuhr von Deutschland nach Österreich-Ungarn bisher unter dem Druck sehr hoher Zölle teilweise gesunken ist, Maschinen, Explosionsmotoren, Chemikalien, besonders Teerfarben, Tonwaren, besonders Drainröhren, Zement, Spielwaren, die unter zu starker Detaillierung und Höhe der Zölle und Unsicherheit der zur Anwendung kommenden Tarifnummern leiden, Wollgarne, Kleiderstoffe, Papier. – Deutschland deckt heute 50% der österreichisch-ungarischen Einfuhr an Gewerbserzeugnissen. Waren anderer Herkunftsländer, die es verdrängen könnte, sind vornehmlich: Maschinen, besonders für die Gewebegewerbe und die Metallbearbeitung, Dampfpflüge und landwirtschaftliche Maschinen, Kessel, Baumwollgarne, Baumwollwaren und Seidengewebe.«
Ich möchte zusammenfassend sagen: die deutsch-österreichisch-ungarische Zollannäherung ist eine Frage des Maßes und der Volkspsychologie.
Will man gegenseitig in einer Reihe wichtiger Berufs- und Gewerbszweige die Zölle herabsetzen oder gar beseitigen, so muß das so umfangreich nach den Berufen und so erheblich nach den Tarifsätzen geschehen, daß die Wirkung der stärkeren Konkurrenz eine gegenseitige Belebung, einen inneren technischen und organisatorischen Fortschritt herbeiführt. Wer in Österreich nicht glaubt, daß die Annäherung ebenso günstig auf die Habsburger Monarchie wirke, wie seinerzeit der Anschluß Süddeutschlands an Preußen 1828-1840 für die Süddeutschen, der Eintritt Hannovers 1853 in den Zollverein für dieses Land, der Eintritt Elsaß-Lothringens 1872 für Deutschland; wer nicht glaubt, daß die Menschen durch solche große Maßregeln sich ändern werden, daß die etwas verstärkte Konkurrenz sich in zunehmende Anstrengung, höhere Organisation umsetze, – der muß in Österreich-Ungarn Gegner der Zollannäherung sein. Es ist der pessimistische Standpunkt, der an keinen inneren Fortschritt glaubt. Wer umgekehrt es für wahrscheinlich hält, daß die ungarische und die österreichische Volkswirtschaft bei den talentvollen Volkselementen, dem reichen Boden, der günstigen geographischen Lage gerade durch die engere Berührung mit Deutschland große innere Fortschritte machen wird, der wird kühn die Annäherung verlangen.
Wer recht haben wird, kann natürlich erst die Zukunft lehren. Aber dem Mutigen gehört die Welt. Die Wahrscheinlichkeit des Gelingens liegt gerade nach dem großen siegreichen Kriege noch viel mehr vor als bisher; vorausgesetzt, daß das Maß der gegenseitigen Herabsetzung und Konkurrenzvermehrung richtig getroffen werde.
Mit dem politischen Bündnis zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn und der Zoll- und Handelsannäherung beider Reiche ist das hier zu erörternde Problem nicht erschöpft. Alle Welt spricht in beiden Reichen von mehr: von dem künftigen Weltreiche, das man Mitteleuropa nennt, d. h. von der politischen und wirtschaftlichen Angliederung der Türkei und der Balkanstaaten, besonders Bulgariens und Rumäniens an beide Reiche, von dem großen Blocke, der von der Nordsee bis zum Persischen Meerbusen reichen soll.
So natürlich heute solche Gedanken sind, so sehr der heutige Weltkrieg und die einseitige Politik Rußlands und Englands hauptsächlich sie gefördert haben, so schwierig sind sie doch in der praktischen Ausführung, wenigstens soweit die Pläne über die politische Einigung hinaus bis zur wirtschaftlichen Annäherung oder gar zur Zollunion gehen. Und wenn schon Deutschland und Österreich-Ungarn heute nicht bis zur Zollunion kommen, so werden die Balkanstaaten es um so weniger vermögen. Auch daß gegenüber drei selbstständigen Partnern auf deutsch-österreichisch-ungarischer Seite, auf der anderen ebenfalls mindestens drei (Türkei, Rumänien, Bulgarien, eventuell auch Griechenland und Serbien, Montenegro) stehen mit getrennten Interessen, erschwert natürlich die Gemeinschaftsbildung sehr. Aber all das schließt besondere Zollbegünstigung, gemeinsame Verkehrspolitik und ähnliches doch nicht ganz aus.
Bulgarien und Rumänien sind die nächsten Nachbarn Österreich-Ungarns, wenn wir von Serbien absehen. Österreich bzw. Ungarn hat sie in der Vergangenheit – im Zusammenhang mit den entgegengesetzten Handelsinteressen – schlecht behandelt. Man hat in Wien und Budapest eine Zeitlang geglaubt, man könne Rumänien und Bulgarien zwingen, recht viel österreichische Waren zu kaufen, ohne ihnen entsprechende Werte abzunehmen. Jahrelange Zollkriege entstanden daraus und haben das Verhältnis vergiftet, haben beiderseitig viel geschadet. Als Folge ergab sich eine erhebliche Zunahme der deutschen Einfuhr in den Donaustaaten auf Kosten der österreichisch-ungarischen, wodurch auch erhebliche Interessengegensätze zwischen beiden Zentralmächten entstanden. Der Anteil der österreichisch-ungarischen Einfuhr an der rumänischen sank im Durchschnitt von 1876-80 mit 51,4% auf 24,6% im Durchschnitt 1906-10, während die deutsche gleichzeitig von 8,8% auf 33,9% stieg Rottmann, Zur Frage einer Wirtschaftsgemeinschaft zwischen Mitteleuropa und Rumänien. Schriften d. Ver. f. Sozialpolitik, Bd. 155, II, S. 482.. All das erschwert auch heute noch gemeinsame zollpolitische Verhandlungen der Zentralmächte mit Rumänien und Bulgarien. Immerhin fehlt es in diesen beiden Balkanstaaten nicht an entschlossenen und mächtigen Freunden des großen Planes eines zentraleuropäischen Handelsreiches von der Schelde bis zur Euphratmündung; so ist der bulgarische Ministerpräsident Radoslawow ein solcher. Aber diesen Elementen stehen auch bedeutsame Feinde der Annäherung gegenüber. Alle Russophilen in beiden Staaten suchen um jeden Preis die handelspolitische Annäherung von Zentraleuropa zu hindern. Sie sehen in weitgehenden Zollannäherungen der Donaufürstentümer an die Zentralmächte eine germanische Erdrosselung. Außerdem stehen gewisse eigene Wirtschaftsinteressen der beiden Balkanstaaten dem Handelsbunde mit Zentraleuropa entgegen: Rumänien hat schon eine erhebliche eigene Industrie durch Schutzzölle geschaffen; die liberale Partei hat diese Politik ins Leben gerufen und wird sie weiter verteidigen. Bulgarien ist im Begriff, ähnliches zu tun; noch dieser Tage sagte mir ein bulgarischer hoher Beamter: »Wir müssen uns durch Schutzzölle eine eigene Industrie schaffen; wir können nicht im alten Handwerk stecken bleiben.« So setzen sich beide Staaten auf die Hinterbeine, wenn man ihnen zu aufdringlich sagt: steigert eure Rohproduktion, führt Rohprodukte nach Zentraleuropa und nehmt dafür unsere Fabrikate. – Immer aber ist auch da ein arbeitsteiliger Ausgleich der Interessen möglich; man muß nur einen mäßigen Zollschutz für gewisse Gewerbe den Balkanstaaten lassen und kann daneben für andere eine Erleichterung der Einfuhr doch erhalten und so für die Ausfuhr ihrer Rohprodukte eine Bezahlung durch zentraleuropäische Manufakte ermöglichen. Die wirtschaftlichen Beziehungen beider Staaten mit den Zentralmächten und der Türkei sind sehr erhebliche. Bulgarien hat jetzt schon mit Deutschland, Österreich-Ungarn und der Türkei doppelt so großen Handel als mit den Staaten des Vierverbandes. Die deutsche Einfuhr in Rumänien machte 1912 37,69% der Gesamteinfuhr aus.
Die Türkei hatte bis jetzt eine veraltete rein fiskalische Zoll- und Handelsverfassung; sie hat noch weniger Industrie als Rumänien und Bulgarien. Der letztere Staat hatte bisher einen großen Absatz von Rohstoffen und einfachen Gewerbeprodukten nach Konstantinopel. Mit der Modernisierung des türkischen Staates wird die Verwaltung naturgemäß auch ihre wichtigsten Gewerbe selbst durch Schutzzölle entwickeln wollen. Damit kommt aber wieder die Türkei in Interessenkonflikte mit ihren nächsten Nachbarn wie mit ihren mitteleuropäischen Protektoren. Sie kann so zukünftig die Losung: »Rohstoffe gegen Fabrikate« auch nicht bedingungslos annehmen. Der Abschluß von Verträgen mit Deutschland und Österreich-Ungarn über weitgehende gegenseitige Zollbegünstigungen wird deshalb mancherlei Klippen zu umschiffen haben. Aber unmöglich ist er doch keineswegs. Nur muß langsam, vorsichtig vorgegangen werden. Die zentraleuropäische Kapitalzufuhr wird zunächst eine größere Rolle spielen als die Fabrikatenzufuhr. Die Zentralmächte müssen selbst mit Hand anlegen, eine türkische Industrie, ein türkisches Kreditwesen, türkische Eisenbahnen und große Landesmeliorationen zu schaffen. Die Türkei muß darauf verzichten, voreilig eine große eigene Industrie, wie sie die Zentralmächte haben, hervorzaubern zu wollen. Die Hebung der türkischen Landwirtschaft, des Bauerntums, der einfachen Gewerbe muß zunächst in den Vordergrund gerückt werden, um zu richtigen, für alle Teile gewinnreichen Austauschverhältnissen zu kommen. Die Türken müssen sehen und empfinden, daß wir ihre Interessen wirklich fördern wollen, daß wir sie nicht, wie die Engländer in Ägypten die Einwohnerschaft für englische Interessen, ausquetschen wollen. –
Bei der Schwierigkeit der einschlägigen Fragen muß man ihre Lösung nicht überstürzen. Wir dürfen weder die Balkanstaaten noch die Türkei zu ihrem volkswirtschaftlichen Glücke, d. h. zu Verträgen, zwingen wollen, denen sie noch mißtrauisch gegenüberstehen. Wir müssen so vorgehen, daß die Türkei und die Balkanstaaten an uns mit ihren Wünschen herantreten. Manches, was wir wünschen, wird nicht von heute auf morgen zu erreichen sein. In vielem werden Deutschland und Österreich-Ungarn verschiedene Interessen gegenüber diesen Staaten haben. Wir müssen so klug sein, diese Gegensätze zurückzudrängen; wir müssen uns sehr in acht nehmen, daß nicht Deutschland oder Österreich-Ungarn, jedes für sich, anstreben, auf Kosten ihres Partners volkswirtschaftliche Vorteile bei den Balkanstaaten erreichen zu wollen.
Die wirtschaftliche Politik Österreich-Ungarns kann nicht die sein, agrarische Produkte der Balkanstaaten aufzunehmen; soweit diese derartiges heute nach Norden exportieren, müssen sie es nach Deutschland führen. Aber Deutschland kann doch nur gemeinsam mit Österreich-Ungarn gute Verträge mit der Türkei und den Balkanstaaten abschließen; und ebenso bedarf Österreich-Ungarn der Hilfe Deutschlands in allen Welthandelsfragen; allein ist es schon wegen seines Völkergemisches zu schwach. Für den Friedensschluß und für alle diesem folgenden Handelsverträge hat ein gemeinsamer Markt von 120 Millionen Menschen ein ganz anderes Gewicht als jede der Zentralmächte allein K. Keller, Ein deutsch-österreichisch-ungarischer Zollverein, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgeb., Verwalt. u. Volksw. 39. Bd. (1915), S. 853-889..
Schließlich seien noch einige Worte darüber gesagt, wie zwei Umstände auf alle die bisher erörterten handelspolitischen Verhandlungen einwirken werden, einmal die heute wahrscheinlichen politischen oder zollpolitischen Grenzverschiebungen und dann die mit dem Frieden eintretenden wirtschaftlichen Konjunkturgestaltungen.
Zu der ersten Frage bemerke ich, daß ich die möglichen oder wahrscheinlichen politischen Grenzhinausschiebungen Deutschlands und Österreichs für nicht so bedeutungsvoll halte, daß sie irgendwie hindernd für die hier erörterten Pläne ins Gewicht fielen. Wohl aber halte ich es für möglich, ja erwünscht, daß ein selbständiges Belgien und ein etwa selbständig werdendes Polen, welchen Umfang es auch haben möge, dem deutschen Zollgebiete angegliedert werde. Ein reiches Industriegebiet und ein reiches Agrargebiet kämen so hinzu. Das Bedürfnis des deutschen Zollgebietes nach industrieller Ausfuhr würde sich verstärken, das Bedürfnis nach landwirtschaftlicher Einfuhr würde wohl etwas abnehmen; die Möglichkeit der Donaufürstentümer, nach Deutschland Getreide und Vieh einzuführen, würde etwas beschränkt. Wenn Österreich-Ungarn gewisse Teile Serbiens annektierte, so nähme der agrarische Gesamtcharakter der Monarchie noch etwas zu. Aber die Gesamtbedingungen, unter denen die neuen Verträge zu schließen wären, würden damit doch nicht wesentlich geändert. Ebensowenig wird die zu erwartende starke Vergrößerung Bulgariens die staatswirtschaftlichen Wünsche dieses Königsreichs erheblich umgestalten.
Darüber, wie die kommenden Friedensschlüsse finanziell und volkswirtschaftlich wirken werden, ist heute schwer ein begründetes Urteil abzugeben; weiß man doch nicht einmal, wie lange sie noch auf sich warten lassen und wie sie ausfallen werden. Immer wird man folgendes sagen können: Die allgemeine Störung des gesamten Welthandels, der Abbruch zahlloser Handelsverbindungen, die enorme Kapitalvernichtung, die außerordentlich steigenden Steuerlasten müssen zunächst eine erhebliche Depression erzeugen; die vom Kriege verschonten Staaten, die Vereinigten Staaten, Japan, auch einige der neutralen, weniger vom Kriege berührten Staaten werden gewisse Vorteile davon haben; aber auch sie werden unter den Nachwehen des Weltkrieges zu leiden haben.
Wie bald die Erholung für die einzelnen Staaten kommt, ist schwer zu sagen. Deutschland hat den Vorteil, daß seine Industrie und seine Organisationskraft die vollste Bewunderung auf dem ganzen Erdball jetzt schon gefunden hat, und das wird im Frieden noch zunehmen; sein Export wird deshalb bald wieder wachsen wie seine Bevölkerung. Wo ist jemals gleiches geschehen, wie heute in Deutschland? Wir hatten keinen Salpeter mehr für unser Pulver, unsere Chemiker schaffen ihn sofort aus der atmosphärischen Luft; wir haben keinen Gummi mehr, unsere Chemiker wissen ihn aus Kartoffeln herzustellen! Eine gesunde innere Kolonisation wird Platz greifen, zumal im Osten. Der vernünftige Teil der Sozialdemokratie, die Gewerkschaften, werden mehr oder weniger Frieden mit den anderen Klassen schließen; unsere Regierungen werden an keine Ausnahme- und Unterdrückungsgesetze mehr denken. Kurz, wir werden doch wahrscheinlich bald wieder einer guten Zeit entgegengehen.
Und Ähnliches wird in Österreich-Ungarn geschehen, wenn die kaiserliche Regierung die nötigen Verfassungs- und Verwaltungsreformen vornimmt, die ihr von den Zeitumständen ja förmlich aufgedrängt werden.
Aber all das schließt nicht in sich, daß wir die guten Folgen und Nachwirkungen des siegreichen Krieges sofort merken. Es kann ein Lustrum, es kann ein Jahrzehnt dauern, bis wir es voll verspüren. Aber sicher ist die Erschöpfung nicht so groß wie 1814-15; und sicher sind die Regierungen und die Völker politisch und intellektuell, wirtschaftlich und moralisch höherstehend als 1815-40.
Also möchte ich sagen: die neuen Zollannäherungsverträge zwischen Deutschland und Österreich müssen geschlossen sein, bevor der Friede zustande kommt. Mit unseren Feinden müssen wir das Wichtigste über die neue Zoll- und Handelsverfassung in den Friedensverträgen ordnen. Und auch unsere wirtschaftlichen Verträge mit der Türkei und den Balkanstaaten müssen möglichst rasch nach dem Frieden zum Abschluß kommen. Sonst werden sie unter dem Meltau von Depressionsjahren verschlechtert und verzögert werden.
Ich setze bei allem Werte, den ich der Annäherung Mitteleuropas und der Balkanstaaten beilege, voraus, daß sie kein Hindernis für zweierlei werden wird: für eine Vergrößerung und Arrondierung unseres afrikanischen Kolonialbesitzes und für ein Abkommen mit England, das uns seinen nationalen Markt und den seiner Kolonien wieder öffnet. Die Engländer sind zu klug, daß sie nicht bald einsehen müßten, sie hätten diesmal auf die falsche Karte gesetzt, und sie könnten das, was sie von ihrem Weltreich und ihrer Weltherrschaft ja gewiß aus dem Weltkrieg retten können, leichter erhalten und bewahren in einem künftigen guten Verhältnisse zu Deutschland als gegen dasselbe. Sie werden unserer Hilfe bald genug recht dringlich bedürfen. Gegen wen, darüber spricht man heute besser noch nicht.
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