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Der deutsche Reichskanzler.

Neue Freie Presse (Wien) Nr. 16804 vom 4. Juni 1911.

(Die innere Lage des Reiches.)

Man wird die innerpolitischen Zustände und Kämpfe in Deutschland nur richtig beurteilen, wenn man davon ausgeht, daß zwei große Tendenzen miteinander ringen.

Auf der einen Seite steht der hergebrachte herrschende monarchische Beamtenstaat, der nicht bloß die Volkssouveränität, sondern auch die parlamentarische Regierung glatt ablehnt, der die eigentliche Führung, die Initiative den vom Monarchen gewählten Ministern ausschließlich vorbehält, der öffentlichen Meinung, den Parlamenten und Parteien wohl einen gewissen, aber im ganzen doch nur bescheidenen Einfluß gestattet. Dieser Standpunkt beruft sich darauf, daß Preußens und Deutschlands Größe so entstanden sei, daß dieser Zustand dem positiven Staatsrecht entspreche, daß die bedrohte Lage des Reiches im Zentrum Europas dieser monarchisch-zentralistischen Führung bedürfe, daß unsere Parteien nicht reif zu einer anderen Art der Regierung seien, daß unsere sozialen Klassenkämpfe nur ohne Gefahr seien, solange eine solche unparteiische Beamtenregierung über den Klassen und Parteien bestehen bleibe.

Ich glaube, daß in diesen Argumenten viel Wahrheit liege, und ich bin geneigt, anzunehmen, daß von den historisch gebildetsten und welterfahrensten Männern in Deutschland sehr viele so denken. Aber ich bin mir auch bewußt, daß die so Denkenden weder die öffentliche Meinung noch die politischen Parteien, am wenigsten die sozialen Klassen beherrschen. Die Majorität des Volkes ist anderer Meinung.

Die sozialen Klassen und die organisierten Interessen (wie sie auch heißen: Bund der Landwirte, Zentralverband deutscher Industrieller, Hansabund, Sozialdemokratie) betrachten ihre Interessen als den Kern des Volks- und Staatsinteresses; alles Beamtentum ist ihnen als Bureaukratie verdächtig. Seit den Tagen Friedrich Wilhelms IV. hat man sich in Preußen gewöhnt, über Beamtenregierung zu schimpfen, die Weisheit, den politischen Verstand des praktischen Geschäftsmannes in den Himmel zu erheben gegenüber der Weltunkenntnis des Beamtentums. Kein Minister empfiehlt irgendeine Gesetzesvorlage, ohne zu versprechen (ob er daran glaubt oder nicht), durch sie werde die Macht der Bureaukratie eingeschränkt.

Die Ideale der politischen Parteien stehen viel höher als die der sozialen Klassen und Interessenverbände; aber auch sie müssen einseitig sein; sie können nicht anders, als sich auf Klasseninteressen stützen, auch wenn sie jeden Tag einen Eid nach dem andern schwören, sie verträten keine Klasseninteressen, sondern politische Ideen. Und die politischen Parteien wollen nicht bloß ihre Ideale in der Gesetzgebung ganz oder teilweise anerkannt wissen, sie streben nach Macht, nach Einfluß, nach Patronage, zuletzt nach Ministerstellen. Parlamentarische Ministerien, gebildet aus der jeweiligen Parlamentsmajorität, haben sich in England seit lange bewährt; man hat sie in vielen Ländern nachgeahmt; sie gelten bei vielen Liberalen, noch mehr bei der eigentlichen Demokratie als das große politische Heilmittel, ohne daß man sich näher darüber unterrichtet, unter welchen Bedingungen sie in England gut gewirkt haben, ohne zu fragen, wie viel Unheil die Einrichtung in anderen Ländern gestiftet hat.

Die Wünsche nach parlamentarischer Regierung treten in Deutschland freilich in mannigfach modifizierter Weise auf: Die Konservativen sind im ganzen mit dem bestehenden Zustand zufrieden, weil sie davon ausgehen, unliebsame Minister stürzen zu können, weil sie in der Hauptsache den Offiziers- und Beamtenstand aus ihren Reihen ergänzt sehen, weil ihre Parteiführer, wenn sie mit dem einen oder anderen Minister nicht zufrieden sind, ihm im Parlament milde und grobe Rüffel erteilen. Die Liberalen erstreben parlamentarische Ministerien mit der Hoffnung, daß die Wahlgesetze zu ihren Gunsten geändert werden, bei Wahlen die Regierung für sie eintrete. Die Sozialdemokraten hoffen auf ihre künftige Majorität. Im Hintergrund steht bei allen Parteien doch der Gedanke des Parteisieges und des Parteiministeriums.

Regierung, Beamtenschaft, alle Parteien und Klassen in Deutschland sind aber jedenfalls darüber einig, daß eine andere als eine ehrlich konstitutionelle Verfassung und Verwaltung nicht denkbar sei; aber welche Dosis monarchischen Beamten-, Partei- und Klasseneinflusses in dieser konstitutionellen Regierung heilsam und wünschenswert sei, darüber tobt der Streit. Bismarck und Kaiser Wilhelm I. haben die monarchische Beamtenregierung wieder zu Ehren gebracht; davon zehren wir noch. Die drei Reichskanzler Caprivi, Hohenlohe, Bülow haben bei aller Verschiedenheit sonst und bei manchen kleinen Konzessionen an andere Standpunkte am Prinzip dieser Art der Regierung festgehalten, und Bethmann Hollweg hat sich ebenso zu einer monarchischen Regierung über den Parteien und den sozialen Klassen bekannt.

Der theoretische Streit über parlamentarische oder Beamtenministerien, der für beide Arten der Regierung mancherlei Gründe anführen kann, soll hier nicht vorgeführt werden. Diese Gründe, aus den verschiedensten Verhältnissen und Zeiten abstrahiert, entscheiden nicht. In jedem Staate ist es die Wucht überlieferter Verhältnisse, sind es einzelne große Führer, Staatsmänner, Parteiführer, sind es ihre Erfolge und die großen Ereignisse des Tages, welche die Entwicklung nach der einen oder anderen Richtung hin weitertreiben.

Als Bismarck abging, war er derjenige, der dem Kaiser General Caprivi als Nachfolger, als entschlossenen Mann der Tat, empfahl. Bismarck dachte damals an die Möglichkeit von sozialistischen Arbeiteraufständen. Caprivi war weder Diplomat und Staatsmann noch Kenner der inneren Verwaltung, er war ein ehrlicher, ehrenfester Charakter. Er nahm einen liberalen Jugendfreund als Chef seiner Kanzlei. Er versuchte nach allen Seiten eine Politik der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit zu befolgen, entfremdete sich dadurch die politischen Parteien. Aber er war nicht ohne Verdienst: die liberalen Handelsverträge von 1892/94 retteten Europa vor einem allgemeinen Hochschutzzollkrieg aller Staaten untereinander. Nicht eigentlich diese Verträge und die Mißgunst des Bundes der Landwirte haben Caprivi dann gestürzt, sondern die Gunst der Witterung. Sie hatte 1893-1895 überreiche Ernten, beispiellos billige Getreidepreise zur Folge; die Landwirtschaft kam in große Not. Die Agrarier forderten und erhielten ihr Opfer: Caprivi und sein Minister des Auswärtigen Marschall mußten gehen. Man sah nun mit Erstaunen in Preußen, daß Kammermajoritäten zwar nicht bestimmte Personen auf die Ministerstühle bringen, aber viel dazu beitragen können, sie von denselben zu entfernen.

Der Fürst von Hohenlohe als Nachfolger war die eigenste Wahl des Kaisers: er war preußischer Assessor, bayrischer Ministerpräsident, deutscher Botschafter in Paris, elsaß-lothringischer Statthalter gewesen, hatte sich überall als kluger Staatsmann bewährt; er war der Onkel des Kaiserpaares, er war süddeutscher Standesherr, der sich nicht vor dem preußischen Junkertum fürchtete. Aber er war ein alter, vorsichtiger Herr, der nicht reden konnte, im Parlament nur kurze Erklärungen ablas. Die öffentliche Meinung verhöhnte ihn bald: »Auf dem Dache sitzt ein Greis, der sich nicht zu helfen weiß.«

Dieser Eindruck war ganz falsch. Hohenlohe hat zwar den anderen Ressortministern, zumal Miquel, eine zu große Selbständigkeit eingeräumt; er hat aber doch in den Hauptfragen die Politik Preußens und Deutschlands nach seinen Intentionen geleitet. Einer der besten und genauesten Kenner seiner Person sagte mir mal: »Sagen Sie, was Sie wollen, auf keinem anderen europäischen Staatswagen sitzt ein besserer Kutscher.« Die feudal-agrarische und die soziale Reaktion, die Caprivi, Marschall, Berlepsch und Bötticher gestürzt hatten, hat er mehr oder weniger zum Stillstand gebracht, wenn er ihr zuerst auch einige Konzessionen machte. Er war innerlich im ganzen ein liberaler Mann. Er hat ernstlich an eine große Reinigung der feudalagrarischen Färbung unseres hohen Beamtentums gedacht. Er wollte bei der sogenannten Kanalrebellion eine Hekatombe von reaktionären Landräten und Regierungspräsidenten opfern, erhielt aber nicht die nötigen Vollmachten dazu. Auf seinen kaiserlichen Herrn hatte er viel mehr Einfluß, als man es nach außen merkte. Er schrieb dem Kaiser jeden Abend einen Brief über alle wichtigen Fragen. Dennoch: er war zu alt geworden, er mußte gehen. Sein Abgang und die Wahl Bülows war in der Hauptsache der Initiative des Kaisers entsprungen. Auch die Wahl Miquels und Posadowskys hat diesen Ursprung gehabt. Und das waren doch auch Minister ersten Ranges.

Die beiden Vorgänger Bülows hatten es je nur auf ein Lustrum ihrer Amtstätigkeit gebracht; er vermochte sich die doppelte Zeit zu halten. Er war der Sohn eines der besten deutschen Diplomaten und einer Hamburger Mutter; erst Offizier, hat er dann im auswärtigen Dienste die großen Höfe Europas, die Staatseinrichtungen in Ost, Süd und West kennen gelernt; ein Mann von umfassender Bildung, seltener Belesenheit, einer der besten Redner der Gegenwart, ohne jedes Vorurteil, mit starkem Wirklichkeitssinn hat er Deutschland, seine Parteien, seine Fürsten während seiner Reichskanzlerschaft zusammenzuhalten und zu führen verstanden. Zu der äußeren Politik hat er den Frieden erhalten, in der inneren die Sozialreform mutig fortgeführt; die neuen Handelsverträge und die Zollreform hat er zustande gebracht, dabei die Konservativen für sich gewonnen, ohne zu extreme Konzessionen an den Schutzzoll zu machen, wie sie zuerst im Reichskanzleramt geplant, von dem Bunde der Landwirte gefordert wurden. Den Kaiser hat er lange richtig zu behandeln gewußt; er hatte zuletzt den Mut, ihm die volle Wahrheit zu sagen. Als dann die Konservativen, undankbar wie stets die politischen Parteien gegenüber Beamtenministern sind, ihn bei der Reichsfinanzreform im Stiche ließen, fiel er hierdurch sowie durch seinen Konflikt mit dem Zentrum und durch gewisse höfische Intrigen. Es war eine seiner besten Taten, daß er die Wahl Bethmann Hollwegs zu seinem Nachfolger durchsetzte.

Bethmann ist der erste Reichskanzler und, mit Ausnahme Manteuffels (1850-57), der erste preußische konstitutionelle Ministerpräsident, der der inneren Verwaltung entstammt; er war Landrat, Regierungspräsident, Oberpräsident, Minister des Innern, Staatssekretär des Reichsamtes des Innern, ehe er ins Reichskanzlerpalais einzog. Er kann daher nicht dieselbe Kenntnis anderer Staaten haben, wie sie sein Vorgänger besaß; er überläßt die auswärtige Politik im ganzen mehr als dieser seinem Staatssekretär des Auswärtigen, v. Kiderlen-Wächter, dessen große Fähigkeiten längst bekannt waren, dessen Weg zur Ministerstellung noch Bülow angebahnt hatte. Bethmann steht durch Erziehung, Karriere, Verwandtschaft der ostdeutschen Grundaristokratie näher als Bülow. Auch seine wichtigste Charaktereigenschaft, vorsichtiges, ernstes Abwägen vor allem Handeln, hält ihn mehr und sicherer in hergebrachten Bahnen als jenen. Dafür sind seine staatsrechtliche und staatswissenschaftliche Bildung, seine große Diensterfahrung in der Verwaltung natürlich größer als die Bülows. Er ist Fachmann der inneren Politik, er ist zum Gesetzgeber geschaffen; das große Arbeiterversicherungsgesetz, wohl das größte, das je den Reichstag außer dem Bürgerlichen Gesetzbuch beschäftigte, ist wesentlich sein Werk, wenn er jetzt auch die Verteidigung Delbrück überlassen mußte. Die Kehrseite seiner Gesetzgebungstätigkeit liegt darin, daß er als Fachspezialist mehr wie als Volkspsychologe seine Aufgaben anfaßt. Er hat vielleicht nicht so viel Wirklichkeitssinn, nicht so starkes Empfinden für Volksseele und öffentliche Stimmung, wie es Bülow besaß; er mißt bei seinen Entwürfen nicht so ab, wie sie wirken, wie sie verstanden werden. Sein preußisches Wahlgesetz fiel, weil es zu künstlich war, zu ungewohnte Dinge vorschlug, deren Erfassen, deren Verständnis den Parteien und der öffentlichen Meinung nicht gelang; selbst die, auf deren Zustimmung er gehofft, versagten vielfach. Ich habe ihn in diesen Blättern schon einmal einen Fabius Cunctator genannt, was in der Presse weites Echo fand.

Jedenfalls ist er ein vornehmer, edler Charakter, ein Mann des höchsten sittlichen Adels; er ist einer der gebildetsten Männer der Gegenwart, ein philosophischer Idealist, ein glänzender Redner, der bei großen Gelegenheiten die weitesten Kreise zu fassen weiß. So bei seiner Rede über den Modernisteneid und jetzt wieder bei seiner Rede in Heidelberg bei dem fünfzigjährigen Jubiläum des deutschen Handelstages: schöner und wahrer ist nie über die Notwendigkeit geredet worden, kaufmännischen Geist mit politischer Hingebung ans Ganze zu verbinden. Und hinter seiner Mahnung an den heutigen Papst und seinen Staatssekretär, nicht zu weit in der Reaktion zu gehen, stand das ganze deutsche Volk, auch das katholische, mit wenigen Ausnahmen.

Was er als Staatsmann künftig noch leisten wird, wie einst das Urteil in der Geschichte über ihn lauten wird, die Frage, inwieweit die Kraft kühnen festen Wollens seinen übrigen hohen Eigenschaften gleichkommen wird, all das liegt in der Zukunft Schoß. Selbst den in seiner Nähe Stehenden, den ihn täglich Beobachtenden, ist heute ein Urteil schwer. Von Ihrer Schriftleitung dazu aufgefordert, ein solches über ihn abzugeben, fällt mir das Wort Rankes ein, wie wenig die Mitlebenden wirklich die zeitgenössischen Staatslenker und führenden Geister zu kennen pflegen. Ranke sprach dies Wort im Gedenken an die Erkenntnis aus, welche ihm aus den Archivstudien erwuchsen, und ich möchte daher auch sagen: nur der künftige Historiker, der Bethmann in den Archiven kennen lernt, wird ihn ganz gerecht beurteilen können. Die Zeitgenossen haben häufig die jahrelang geschmäht und verkannt, die nachher als die Besten und Größten erkannt wurden, und haben solchen zugejubelt, die nachher vor dem Richterstuhle der Geschichte nicht bestanden.

Für heute wird man nur provisorisch und mit allerlei Reserven eine Bilanz seiner staatsmännischen Tätigkeit ziehen können.

Er war sicher weitaus der beste Nachfolger, der für Bülow zu finden war. Sein Ziel, eine Regierung über den Parteien zu führen, ist für das heutige Preußen und Deutschland das richtige. Von seinen gesetzgeberischen Akten ist die preußische Wahlreform mißlungen, die Kodifikation und Reform unserer Versicherungsgesetzgebung aber wird in einer Weise gelingen, die natürlich nicht alle Wünsche befriedigt, die aber einen großen Fortschritt bedeutet.

Im übrigen bewegen die Geister heute die zwei großen Probleme aus dem Westen und dem Osten des Reiches am meisten: die elsaß-lothringische Verfassungsfrage und die Fortführung der deutschen Kolonisationspolitik in der Provinz Posen. Ich kann mich nicht vermessen, diese zwei Fragen hier zu erschöpfen. Beide sind sehr kompliziert und werden, von der Parteien Haß und Gunst hin und her gezerrt, immer dunkler statt heller. Ich versuche nur mit einigen Aphorismen mein persönliches Urteil über sie anzudeuten.

Als 1814/15 Preußen von den einst polnischen, durch die erste, zweite und dritte Teilung Polens preußisch gewordenen Landesteilen nur einen sehr kleinen Teil, den, welcher Ost- und Westpreußen mit Schlesien verbindet, zurückforderte und ihn erhielt, während die übrigen neun Zehntel des ehemaligen polnischen Reiches bei Rußland und Österreich blieben, war das weise Einsicht in die Schwierigkeit der Assimilierung; man wollte von den polnisch-deutschen Grenzgebieten nur, was für die Existenz und Verteidigung des Staates unerläßlich war. Man regierte dann die Provinz Posen mit äußerstem Entgegenkommen, befreite den polnischen Bauernstand unter viel günstigeren Bedingungen als den deutschen, baute Chausseen, gründete Schulen; Adel und Klerus wurden um so größere Preußenfeinde. Man versuchte, deutsche Rittergutsbesitzer, Standesherren, Prinzen zum Ankauf in Posen zu veranlassen; es geschah besonders 1830-40 in großem Umfang, änderte aber an der Stimmung der Provinz wenig, da die großen Güter mit polnischem Personal verwaltet wurden. Die Aufstände von 1830, 1848 und 1863 zeigten, wohin man steuerte. Alle Stetigkeit in der deutschen Polenpolitik hatte gefehlt, bis Bismarck eingriff; eine systematische deutsche Kolonisationspolitik, die Schaffung deutscher Bauerndörfer in festem geographischen Zusammenhang, in dem begrenzten Teil der Provinz, der bei Aufstand oder Krieg sicher in deutschen Händen sein muß, begann; nur kurz unterbrochen in der Aera Caprivi. An eine Verdrängung der Polen hat nie jemand für den größeren Teil der Provinz gedacht. Die Kolonisation hat jetzt 20 bis 25 Jahre gedauert; die Sachverständigen gedenken in nochmal der gleichen Zeit die notwendige Sicherung der Provinz durch deutschen Bauernbesitz zu Ende zu führen und dann mit der Versöhnung der polnischen Untertanen Preußens zu beginnen.

Große Schwierigkeiten des Ansiedlungswerkes sind eingetreten. Die Bodenpreise sind anormal hoch geworden; die polnische Taglöhner- und Kleinbauernbevölkerung, geführt und gefördert durch die klerikalen Genossenschaften, hat mit ihrem Landhunger fast mehr als der Ankauf durch die Ansiedlungskommission dazu beigetragen. Polnische Güter waren von letzterer wegen der Ächtung jedes an einen Deutschen verkaufenden Polen nicht mehr zu erhalten. Das Enteignungsgesetz sollte über diese Schwierigkeiten weghelfen. Die deutschen Rittergutsbesitzer fingen an, Taglöhner- statt Bauernkolonisation von der Ansiedlungskommission zu fordern. Um die deutschen Stimmen auf den Kreistagen zu erhalten, hat man von den erkauften Gütern – außer den Bauernkolonien – Restgüter in größerer Zahl gebildet, die, mit polnischen Arbeitern betrieben, das Deutschtum nicht so stärken, wie die neugebildeten deutschen Bauernkolonien. Man sah auch mehr und mehr, daß die Latifundien der deutschen Prinzen und Standesherren mit ihren politischen Taglöhnern und der Abwesenheit ihrer Eigentümer das Deutschtum nicht förderten.

Als Bülow und der Landwirtschaftsminister v. Arnim abgegangen waren, als das Enteignungsgesetz jahrelang nicht angewendet wurde, als der früher angehäufte Landvorrat immer mehr dahinschwand, entstand 1910-11 erst der Verdacht, dann die immer lauter werdende Klage, daß die Regierung in der Ansiedlungsfrage ihren Kurs geändert habe. Vergeblich suchte der neue Landwirtschaftsminister Herr v. Schorlemer zu beruhigen; er versicherte, der Kurs bleibe der alte. Alle Handlungen der Regierung aber scheinen dem zu widersprechen. Alle nationalen Parteien griffen die Regierung an, nur Zentrum, Polen, Fortschritt und Sozialdemokraten jubelten. Man fürchtet, die Regierung handle aus Wahlrücksichten, aus Rücksichten auf das Ausland so. Ihre Erklärungen entbehren der Klarheit und Begreiflichkeit.

Ich muß mich bei solchen Gelegenheiten immer der Worte Friedrichs des Großen erinnern, der sagte: Wenn eine Regierung unter zwei verschiedenen Wegen einmal auch den ungünstigeren gewählt hat, Konsequenz auf dem eingeschlagenen Wege ist immer besser als unsicheres Schwanken zwischen verschiedenen Wegen. Ich kann daher auch nur in dem jetzigen Wandel der Polenpolitik eine große Schädigung des Ansehens des jetzigen Ministeriums sehen, wenn es nicht bald durch Taten beweist, daß man noch auf dem alten Wege sei. Ich fürchte, die Regierung habe auch hier die Wirkung ihrer Maßnahmen auf das ganze deutsche Volk nicht richtig eingeschätzt.

Immer gebe ich die Hoffnung noch nicht ganz auf, daß die Regierung sich rechtfertigen könne. Vielleicht bereitet sie große Ankäufe von deutschen Standesherren- und Prinzenlatifundien vor, von denen sie jetzt noch nicht sprechen darf. Und daß der jetzige ausgezeichnete, sehr charaktervolle Präsident der Ansiedlungskommission noch nicht sein Amt niedergelegt hat, kann als ein Zeichen gedeutet werden, daß die öffentliche Meinung nicht vollständig und richtig orientiert sei.

Sind mir so Bethmanns Wege in Posen zweifelhaft, so glaube ich, daß er in der elsaß-lothringischen Verfassungsfrage mit Mut und Weitblick das Richtige ergriffen hat, und daß er da auch zu seinem Ziele kommen wird. Jedenfalls wird der neue rechtliche Zustand besser sein als der alte, wenn man auch an dem neuen manches anders haben möchte.

Elsaß-Lothringen war bis jetzt eine Art deutschen Vasallenstaates; es soll jetzt drei Stimmen im Bundesrat erhalten, wodurch es ebenbürtig neben die anderen deutschen Staaten tritt. Das wollten die Konservativen nicht; auch der Bundesrat selbst war ursprünglich dagegen, Bethmann Hollweg von Anfang an dafür. Er hat die übrigen Bundesstaaten bewogen, hier dem Reichstag und dem Wunsche des Landes nachzugeben. Man hat es ihm sehr verdacht; die Art, in der man nachgab, verletzte das preußische Selbstgefühl. Aber nur so kann Elsaß-Lothringen Reichsland bleiben und zugleich ebenbürtiger Bundesstaat neben den übrigen Staaten werden. Es ist ein hochherziges Vertrauen, das nichts schaden kann, aber wahrscheinlich viel nützen wird.

An die Stelle des 1877 geschaffenen, 1879 mit viel größeren Kompetenzen ausgestatteten Landesausschusses tritt ein Zweikammersystem; die erste Kammer wesentlich als Organ der kaiserlichen Regierung, die zweite aus direkten Wahlen mit gleichem Wahlrecht hervorgehend. Man wollte zuerst das direkte Wahlrecht durch Pluralstimmen modifizieren. Das soll jetzt fallen. Diese ganze Änderung ist ein kühner Schritt auf der Bahn liberaler, ja fast demokratischer Verfassung; es entspricht den ganzen süddeutschen Zuständen und Anschauungen sowie den elsässischen Traditionen. Die Konservativen sehen mit starkem Mißtrauen auf dieses Experiment, werden deshalb hauptsächlich gegen das Gesetz stimmen. Das Zentrum hofft gute Geschäfte dabei zu machen. Sicher läßt sich nicht im voraus sagen, was die Resultate sein werden. Der Reichskanzler ist nicht davor zurückgeschreckt, das Verfassungsgesetz gegen die Konservativen mit den Stimmen aller übrigen Parteien, einschließlich der Sozialdemokraten, zustande zu bringen.

Ein solcher Schritt wird Bethmann von den Konservativen sehr verdacht; aber er zeigt damit, daß es ihm ernst ist mit seiner Regierung über den Parteien, daß er nicht der exekutive Diener einer einzigen Partei ist, sondern die Mehrheit nimmt, wo er sie findet.

Wenn auch in anderen Kreisen da und dort ausgesprochen wurde, es wäre besser, das elsässische Verfassungsgesetz scheiterte jetzt ganz, so wird dabei übersehen, daß der jetzige Verfassungszustand zur Unerträglichkeit geworden ist. Es ist eine unwürdige Notabelnwirtschaft, gemischt mit zynischem Radikalismus und deutschfeindlichem Katholizismus. Das jetzige Verfassungswerk ist wohl vorbereitet, lang überlegt; die Verfassung von 1879 war ein Machwerk ohne Überlegung aus dem Stegreif, ohne und gegen den Rat und die Ansichten der damaligen elsaß-lothringischen Regierung, rasch unter dem Druck von Gelegenheitsursachen zusammengezimmert.

Bismarck und der Oberpräsident v. Möller hatten sich so gezankt, daß die Sache nicht mehr ging. Möller war ein Oberpräsident und Staatsmann ersten Ranges. Er hatte öfters Befehle Bismarcks nicht ausgeführt, weil er sie für falsch hielt. In den ersten Jahren gelang es ihm stets wieder, den Reichskanzler in Berlin persönlich zu überzeugen, daß er recht gehabt. Als seine Gesundheit die Reisen nach Berlin nicht mehr gestattete, fehlte die Möglichkeit des Ausgleichs. Da setzten einige der elsaß-lothringischen Abgeordneten in Berlin in kürzester Zeit beim Reichskanzleramt und im Reichstag das Gesetz von 1879 durch. Möller wurde gar nicht gefragt, ebensowenig der zum Statthalter ausersehene Feldmarschall v. Manteuffel, aus dessen Munde ich diese Vorgänge kenne.

Das ganze war ein Sieg der Notabeln, eine Auslieferung der Landesverwaltung an sie. Um zu regieren, mußte man sie streicheln und verwöhnen. Es ging eine Zeitlang, je nach der Person des Statthalters, des Staatssekretärs und der Unterstaatssekretäre, je nach der Möglichkeit, den Notabeln und den Katholiken entgegenzukommen. Je mehr man das tat, wie vor allem Herr v. Koeller als Staatssekretär, desto mehr Ruhe hatte man im Moment, desto mehr verschlechterte sich aber die Gesamtsituation, desto weniger machte die Germanisierung Fortschritte, desto bedenklichere Erscheinungen traten auf.

Daher die Notwendigkeit der Reform. Es ist ein Verdienst der jetzigen Reichsregierung, sie erkannt zu haben. Der Vorschlag Koellers, die Reform den Elsaß-Lothringern zu überlassen, hieße den Bock zum Gärtner setzen. Es ist höchste Zeit, daß etwas geschieht. Das Gelingen des Verfassungsgesetzes wird die Stellung und das Ansehen des Reichskanzlers und des Ministers Delbrück wesentlich befestigen.

Ich füge in Anmerkung aus meinen Straßburger Erinnerungen folgendes bei: Die neue Verfassung von 1879 bedeutete den Sturz Möllers, an dessen Stelle als Minister der Chef der elsaß-lothringischen Abteilung im Reichskanzleramt, Herzog, treten sollte. Als Kaiser Wilhelm bald darauf nach Straßburg kam, stand ich bei dem großen Empfang im Statthalterpalais dicht neben dem älteren Baron Zorn v. Bulach und dem Kaiser und hörte, wie der erstere dem Kaiser für die Verfassung dankte, aber hinzufügte: »Daß Eure Majestät uns aber unseren bisherigen Oberpräsidenten Herrn v. Möller nehmen, ist uns allen schmerzlich«; da antwortete der Kaiser: »Daß ich ihn entlassen muß, kann niemandem so schmerzlich sein wie mir; aber man hat mich ja dazu gezwungen.«

Als bald darauf Manteuffel als Statthalter eingetroffen war, besuchte er mich sofort, da Ranke ihn an mich gewiesen hatte, und ich bin die drei Jahre, die wir noch zusammen dort waren, in nahe Beziehungen zu ihm getreten. Gleich bei der ersten Unterredung klagte er, daß er mit einer Verfassung regieren solle, über die man ihn nicht gefragt, und mit einem Minister, den er nicht gewählt, der ihm wörtlich seine zu haltenden Reden vorschreiben wolle. Man warf ihm bald und so lange er dort war, vor, daß er einseitig die Notabeln und den katholischen hohen Klerus begünstige. Er sprach oft mit mir darüber, und er betonte stets, welch leidenschaftlicher Protestant er sei, wie aber die Situation, in die man ihn gesetzt, ihn nötige, mit Notabeln und Klerus sich zu stellen.

Mein Urteil ist, daß die Verfassung von 1879 eine falsche, verfrühte Maßregel war, daß es sich bitter rächte, daß man Möller dabei nicht zu Rate gezogen hatte. Über Manteuffels Berufung zur Statthalterschaft erzählte man sich damals in Berlin die, wenn nicht ganz wahre, so doch gut erfundene Anekdote. Bismarck soll gesagt haben: »Den Manteuffel muß ich hier los werden, er ist Kandidat für den Reichskanzlerposten; blamiert er sich in Straßburg, so ist's auch mit dieser Kandidatur aus; geht es gut, so bin ich ihn für eine Anzahl Jahre hier los und habe die Genugtuung, den rechten Mann hingeschickt zu haben.« – Ich füge (1. Juni) diesen 21.-23. Mai niedergeschriebenen Zeilen nur die Tatsachen bei, daß seither das Versicherungs- und das elsaß-lothringische Verfassungsgesetz angenommen sind, und daß Bethmann durch ein Telegramm an den Ostmarkenverein sich zur Festhaltung der bisherigen Kolonisationspolitik bekannte.

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