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Soziale Praxis und Archiv für Volkswirtschaft XXII. Jahrg., Nr. 6, vom 7. November 1912. Sp. 145-151.
Wir leben in einer Epoche der größten geistigen und materiellen Veränderungen, in einer Zeit von technisch wirtschaftlichen, sozialen, politischen und Verfassungsumwälzungen, wie sie die Menschheit eigentlich seit einigen tausend Jahren nicht gesehen hat. Daher die stets erneute Frage: wohin geht die Reise? Daher in jeder denkenden Menschenseele der Versuch, das Ideal der neuen Zeit zu bestimmen, an der sich vollziehenden Umwertung so vieler Werte vernünftig teilzunehmen. Daher das Heer von Zukunftstheorien in Religion, Sitte, Recht, Staat, Volkswirtschaft, Völkergemeinschaft. Alle Temperamente, alle Bildungs- und Berufsschichten, alle Parteien und Klassen nehmen daran teil, jede von ihrem Standpunkt aus; fast jede in ihrer Art in einzelnen Punkten berechtigt, in anderen Verkehrtes erhoffend. Der konservative Realpolitiker sieht überwiegend das Bleibende, der sanguinische Idealist das Kommende; jeder macht daraus nach Welt- und Menschenkenntnis, nach historischer und sonstiger Bildung seine Zukunftstheorie; die meisten verstehen die Ideale der anderen nicht. Aber der Mann der Wissenschaft hat die Pflicht, in das Verständnis aller dieser Theorien einzudringen, so absurd die extremen derselben sein mögen. Und es ist der Mühe wert, sie verstehen zu lernen, sie zu analysieren nach Persönlichkeit, Bildungselementen, Zeit und Ortsverhältnissen, aus denen sie entstanden sind.
Unter den sozialpolitischen Führern und Schriftstellern der deutschen Gegenwart nimmt Friedrich Naumann eine hervorragende, wenn auch keine leitende Stellung ein. Er ist einer der größten und am liebsten gehörten politischen und sozialen Redner unserer Tage; Sachse von Geburt, Prediger von Beruf, schwungvoller Idealist von Temperament hat er sich vom theologischen Studium und von Pfarrhaus und Kanzel hinüber entwickelt zum Volks- und Parlamentsredner; er wollte eine nationalsoziale Partei gründen, was ihm mißlang; aber es ist ihm gelungen, die fortschrittlich-manchesterlichen Parteipolitiker mit solch starkem Tropfen sozialen Öls zu salben, daß die Vorfahren der heutigen Volkspartei ihre heutigen Nachfahren kaum mehr erkennen würden. Er ist auch ein so glücklicher Tagesschriftsteller, daß er in weitesten Kreisen gern gelesen wird; und er hat seine Leser in der Hütte der Arbeiter, in den Studierstuben der akademischen Jugend, in dem Boudoir der Millionärsfrau wie in den Kabinetten der Geheimräte und Minister. Ich hörte mal aus dem Munde eines preußischen Staatsministers ein begeistertes Lob einer seiner Schriften.
Man pflegt ihn gewöhnlich zu charakterisieren als ein Bindeglied zwischen dem Kathedersozialismus und der Sozialdemokratie; doch hat er bei dem Verein für Sozialpolitik nicht mehr als einige Gastrollen gegeben, und von den meisten politischen Idealen der Sozialdemokratie trennt ihn ein tiefer Abgrund. Er glaubt noch an die Monarchie; unseren Kaiser weiß er in dithyrambischem Schwunge zu preisen. Er ist in gewissem Sinne ganz Realpolitiker neben all seinem Idealismus; er lebt seit mehreren Jahrzehnten so ganz der Tagespolitik, daß er das Parteileben genau kennt, für alle führenden Persönlichkeiten einen guten Blick hat. Die Schilderungen, die er von den Führern der Sozialdemokratie gibt, sind lebensvoll und zutreffend. Und doch fehlt ihm so vielfach das innere, das historische Verständnis unserer deutschen politischen und wirtschaftlichen Zustände. Seine persönlichen politischen Ideale geben allem, was er denkt, predigt, schreibt, doch noch mehr die Farbe als seine realistische Lebenskenntnis.
Das Zukunftsideal, das ihn erfüllt, ist ein Deutsches Reich von 80 Millionen Seelen, das von einer demokratischen Reichstagsmehrheit parlamentarisch regiert wird. Um dahin in zwanzig Jahren zu gelangen, rechnet er auf eine kapitalistische Industrialisierung aller deutschen Lande, auf den vollen Sieg des Freihandels, auf eine riesenhafte Industrieproduktenausfuhr, auf eine allgemeine Verbreitung des bäuerlichen Kleinbetriebs. Diese Entwicklung denkt er sich durchgeführt durch eine fortschrittlich-sozialistische Majorität, welcher die Demokratisierung aller unserer Institutionen, die Versöhnung von Bourgeoisie und Arbeiterschaft und die Gewinnung des Kaisers für diese Politik gelinge. Die Sozialdemokratie brauche nur endlich einzusehen, daß sie durch Zustimmung zu einer großen Politik nach außen, durch Eintreten für Heer, Flotte und Kolonien regierungsfähig werde: »es ist die größte Torheit der Demokratie, daß sie sich bisher die Wucht dieses lebendigsten aller politischen Gedanken hat entgehen lassen.« Sobald diese Mauserung der Sozialdemokratie vollzogen sei, werde Kaiser Wilhelm II., der im Grunde seines Herzens arbeiterfreundlich sei, der die Konservativen innerlich nicht liebe, zum Bunde mit der Demokratie bereit sein.
In diesem Bilde Deutschlands, vom heutigen und zukünftigen Deutschen Reiche, fehlt das meiste, was aus der Zeit vor 1866-1870 stammt. Bismarck habe das Reich gegründet auf Monarchie und allgemeines Wahlrecht; dieser deutsche Staat sei eine wirtschaftlich-fortschrittliche, antikonservative Gründung; das 1870 siegreiche System sei militärisch-kapitalistisch. Nicht Nationalideen, sondern die preußische Militärmonarchie habe das Reich geschaffen; napoleonische Volkssouveränitätsgedanken hätten mitgewirkt. Unser jetziger Kaiser, mit seiner starken Persönlichkeit, sei der Mann, als modern demokratischer Cäsar aufzutreten. An die Stelle der Marxschen Diktatur des Proletariats habe die persönliche Diktatur des Kaisers zu treten, die den Industrialismus zum Besten der Demokratie durchführen werde.
Ich glaube kaum, daß Naumann heute noch diese seine Ideale ganz so formulieren wird; aber widerrufen hat er sie, so viel ich weiß, nicht. Wie dem aber sei und wie sehr auch einzelne Teile dieses Zukunftsbildes bei verschiedenen Parteien und Klassen Zustimmung fanden und noch finden, in seiner Totalität ist es nicht mehr als ein Traum, der sehr wenig Aussicht auf Verwirklichung hat.
Unsere Sozialdemokratie wird in absehbarer Zeit keine Millionen und Milliarden für Heer und Flotte und für eine kühne aktive Auslandspolitik verwilligen. Unser Kaiser ist keine cäsaristische Imperatorennatur. Das Bild, das sich Naumann von ihm macht, ist so falsch wie das, was er einst von Bülow zeichnete, in dem er vor 1908 nur den schwachen Kanzler sah, der mit dem Zentrum regieren wolle. In seinem Bilde von Deutschland sieht Naumann von den Einzelstaaten so ziemlich ab; er überschätzt die Möglichkeit, sie alle, einschließlich Preußens, durch eine sozialistisch-demokratische Reichstagsmajorität und einen eben solchen Reichskanzler abzuzwingen. Er entwirft in seinem Buche »Demokratie und Kaisertum« von der agrarischen, der industriellen und der katholischen Aristokratie ein ziemlich richtiges Bild; er betont auch, wie mit raschen Schritten in der Arbeiterschaft eine neue Aristokratie entstehe; aber er vergißt ganz die geistige Aristokratie, die vom 17. bis 19. Jahrhundert die deutschen Staaten geschaffen hat und die heute noch regiert: das Beamtentum. Die deutschen Territorialstaaten bis 1866 erscheinen ihm nur als agrarische Großunternehmungen der Fürstenfamilien, womit ihre ganze Entwicklung in falsches Licht gestellt, karikiert wird.
Sein politisch-konstitutionelles Denken entbehrt der breiten historischen und rechtsvergleichenden Grundlage: er hält die Bildung einer demokratischen Reichstagsmehrheit, die eine Demokratisierung Deutschlands ohne weiteres durchführen, den Kanzler zum Organ der Reichstagsmajorität machen könne, für leicht möglich und für ganz sicher segensreich. Daß wir in Deutschland nicht das bequeme englische Zweiparteiensystem, das abwechselnd regiert, hätten, daran sei nur das böse Zentrum schuld. Mehr oder weniger hofft er doch auch für uns auf ein solches, jedenfalls auf eine absolute Herrschaft der Reichstagsmehrheit, die er sich nur als eine rein demokratische denken kann; die Zunahme der Bevölkerung und der Industrie müsse sie bringen. Die tieferen, ernsten Untersuchungen über den englischen Parlamentarismus von Gneist an scheinen keinen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. Und doch ist es eine unumstößliche Wahrheit, daß dieses System in England nur so lange ganz gut wirkte, als es keine soziale Frage gab, keine sozialen Reformen durchzuführen waren, als die aristokratischen Führer beider Parteien große Grundbesitzer mit ähnlichen Grundanschauungen über alle großen politischen Fragen waren. Wenn in unseren deutschen Parlamenten eine feudal-industrielle Partei mit einer demokratisch-sozialistischen in der Leitung abwechselte, so bedeutete das ein wechselndes Klassenregiment, bald zugunsten der besitzenden, bald zugunsten der nicht besitzenden Klassen. Dieser Wechsel würde uns zu Grunde richten. Darum bedürfen wir ein fürstliches Beamtenregiment über den Klassen und Parteien. Alles Große, was wir politisch geleistet haben, ist durch dieses geschaffen, obwohl es natürlich auch seine Schattenseiten hat. Aber sie sind jedenfalls nicht so groß wie die einer ultra-demokratischen Verfassung. In reichen großen Kulturstaaten bringt eine solche Bestechung, Käuflichkeit der Armen durch die Reichen, sie erzeugt unter demokratischen Formen eine skrupellose Plutokratie, welche macht, was sie will. Die zwei großen heutigen demokratischen Republiken, Frankreich und die Vereinigten Staaten, nähern sich bedenklich solchen Zuständen. Allerdings sieht Naumann auch die Schattenseiten der Demokratie, wenigstens der alten bürgerlichen Demokratie, wie wir sie in Deutschland bis 1870 hatten, die mit ihrem abstrakten Ideal der freien individuellen Persönlichkeit dem Staat und den Fürsten, der Kirche und dem Adel, dem Militär, dem Unternehmer, ja dem Nationalitätsgedanken negativ gegenüberstand, sie nörgelnd kritisierte und bekämpfte. Er meint aber, die heutige Demokratie, die aus dem freiesten geistigen Leben hervorgehe, die an die Volkssouveränität glaube, die Majorität des allgemeinen Wahlrechts zur Herrschaft bringe, komme über diese alten negativen Eigenschaften hinaus, zumal wenn eine demokratische Verfassung nicht bloß im Reich, sondern auch in Staat, Provinz, Kreis und Gemeinde eingeführt sei. Die demokratische Selbstverwaltung fehle uns noch so sehr.
Naumann hat mit gewissen Wünschen in dieser Richtung nicht unrecht. Aber er verkennt doch das Wesen der freien Selbstverwaltung, das er in erster Linie in der Verbreiterung des Wahlrechts und in Majoritätsbeschlüssen sieht. Eine gute Selbstverwaltung setzt natürlich ein entsprechendes Wahlrecht voraus; aber in ihrem Kerne beruht sie darauf, daß sie den durch Bildung und Einkommen dazu fähigen Bürgern bis in den höheren Arbeiterstand herein unbezahlte Ämter und Ehrenpflichten auferlegt, durch welche sie die Verwaltung und den Staat kennen lernen, durch sie staatliche und kommunale Zwecke begreifen und achten lernen. Die englische Selbstverwaltung ist aus dem von der Krone ernannten Friedensrichter erwachsen. Die preußische Städteordnung hat so Wunderbares dadurch gewirkt, daß sie neben den besoldeten den unbesoldeten Stadtrat setzte, daß sie die laufende städtische Verwaltung nicht sowohl dem Stadtparlament zu Majoritätsbeschlüssen übergab, sondern Hunderte von Bürgern in kleinen städtischen Ausschüssen zur Erfüllung von Amtsgeschäften heranzog. Das Fassen von Majoritätsbeschlüssen in Provinzial-Departements, Gemeindevertretungen allein erzieht nicht zur gesunden Selbstverwaltung. Da ich auf diesem Standpunkt stehe, erscheinen mir die Urteile und Ideale Naumanns in bezug auf Demokratisierung der Selbstverwaltung zu einem erheblichen Teile als verfehlt.
Die rein wirtschaftlichen Ideale Naumanns kulminieren in der Verherrlichung des technischen Fortschritts, im Kampfe gegen den östlichen Großgrundbesitz (»das Land der Masse«), in dem Glauben an die Siege des Kapitalismus und Industrialismus, in der Erwartung, daß der Freihandel wieder bei uns siege, in der Hoffnung auf eine zunehmende Arbeiterorganisation, wobei er aber auf die Gewerkschafts- und Genossenschaftsorganisation den Schwerpunkt legt, nicht auf die politische Organisation der Sozialdemokratie, endlich und vor allem auf den fortschreitenden Sieg der Großindustrie und ihrer Zusammenfassung in Kartellen. – Ich habe von diesen wirtschaftlichen und sozialen Idealen Naumanns eben in meinem Jahrbuch (B. 36 Heft 4) im Anschluß an die Neubearbeitung seiner »Neudeutschen Wirtschaftspolitik« (1911) eingehender geredet und will mich daher hier kurz fassen.
Seine sozialen und wirtschaftlichen Erörterungen und Ideale, so wenig ich ihnen in vielen Punkten entweder überhaupt oder in dem von ihm verlangten Tempo folgen kann, stehen doch nach meiner Auffassung höher als seine verfassungsgeschichtlichen Ausführungen. Auf wirtschaftlichen Gebieten hat er viel gesehen und gearbeitet. Hier handelt es sich viel mehr um Gegenwartsfragen, die er beherrscht. Da ist die Abwesenheit einer historischen Staatsauffassung und staatsrechtlichen Bildung viel weniger eingreifend und bestimmend als in den ganz großen politischen Fragen; ich will nicht sagen, daß er nicht auch in diesen da und dort einen klaren weiten, realistischen Blick zeige, wie zum Beispiel in den Heeres-, Flotten- und Kolonialfragen; aber im ganzen versagt er in diesen doch mehr als in den wirtschaftlichen Tagesfragen.
Auf dem ganzen Boden dessen, was man heute soziale Reform nennt, steht Naumann den Tendenzen, die unsere Wochenschrift verfolgt, ziemlich nahe; sie wird ihn da stets als wertvollen Mitkämpfer hochschätzen. Ein gut Teil seiner sozialen Gedanken stammt aus der Lektüre von den Schriften Brentanos und seiner Schule, wie er es selbst angedeutet hat. Auch ich selbst kann ihm, wenn auch entfernt nicht in allem, doch in vielem, was er über die heutigen sozialen Probleme, so über das Gewerkschafts- und Genossenschaftswesen, über die Sozialdemokratie und ihre Behandlung durch die übrigen Klassen sagt, mehr oder weniger zustimmen. Auf diesen Gebieten liegt auch die Kraft, die Schönheit, die Sprachgewalt, die Anschaulichkeit seiner Reden. Auch seinem begeisterten Lobe des deutschen Unternehmertums habe ich nicht zu widersprechen, zumal wo er von dessen technischen, kaufmännischen, organisatorischen Leistungen redet. Es ist ein Zeugnis seiner Unbefangenheit und seines Weitblicks, daß er, als Arbeiterfreund, das Unternehmertum so einschätzt. Nur soweit er in diesen Männern und ihren Organisationen in gewissem Sinne auch die politischen Führer Deutschlands, unter Ausschaltung unseres Beamtentums und unserer ländlichen Aristokratie, sieht, habe ich ernstliche Fragezeichen zu machen. An manchen Stellen spricht er von dieser unserer industriellen Aristokratie so dithyrambisch, daß man sich fast fragen könnte, warum der Zentralverein der deutschen Industriellen ihn nicht zum Ehrenmitglied ernenne.
Aber Scherz beiseite; wenn er den Kapitalismus und die Kartelle als das herrschende Zentrum der deutschen Volkswirtschaft, als den »Riesenbau« feiert, dem »nur ein Unterbau der organisierten Arbeiter anzufügen sei«, wenn er eine freilich gesetzlich geordnete, neu gebildete Gesamtorganisation der Riesenaktiengesellschaften, Kartelle und Trusts gleichsam als einen Ersatz der Staats- und Reichsgewalt hinstellt, so kann ich solchen Phantasien nicht folgen. Er sagt, neben dieser neuen Organisation bleibe der Staat ein Großgeschäft, das man zur Erzeugung einiger Imponderabilien nötig habe, wie Heer, Verfassung, Recht, »ein Großgeschäft neben anderen, von dem es sich frage, ob es für alle Zeit das größte sein würde«. Ist das nicht Wasser auf die Mühle der Herren Bueck und Tille? Ist da nicht seine phantastische Ader mit ihm durchgegangen? Ist das nicht die Lehre von der Pensionierung der Staatsgewalt zugunsten der Kapitalmagnaten?
Den Weg zu dieser Zukunft, in welcher der Staat ein Nebengeschäft für Imponderabilien geworden ist, denkt sich Naumann sehr einfach. Er sieht nur eine einfache Alternative vor sich. Entweder gehen wir in nächster Zeit einer Reihe schlechter Jahre entgegen. Dann muß eine demokratische Antikornzoll-Liga entstehen und wird die bestehenden Regierungen beseitigen. Dabei werden die Fertigindustrie, die Exportindustrie die Führung erhalten, mit der siegreichen Demokratie die Herrschaft an sich reißen. Oder wir werden eine lange Reihe weiterer Aufschwungsjahre erhalten; dann wird die ungezügelte Herrschaft der Kartelle in solche Mißbräuche verfallen, daß die bestehenden Gewalten selbst die Arbeitermassen zu Hilfe rufen müssen, um die Mißbräuche zu beseitigen; dabei wird aber ebenso eine kapitalistisch-demokratische Verfassung der Volkswirtschaft entstehen.
Ich sage: weder der eine noch der andere Fall muß eintreten. Wenn sie eintreten, und zwar mit den Folgen solcher Umwälzungen, so ist mir das Wahrscheinlichere, daß entweder eine militärische Diktatur oder die jetzige Monarchie mit dem Beamtentum die Führung dabei hätte. Daß es dabei zu einer Art Pensionierung der Staatsgewalt kommen sollte, ist mir das Allerunwahrscheinlichste. Kommt es dabei förmlich zur Revolution, so kann vorübergehend eine sozialdemokratische Diktatur sich bilden. Sie wird aber rasch wieder verschwinden. Das viel Wahrscheinlichere ist, daß der bestehende Beamten- und Militärstaat, der allein Ruhe und Frieden und weitere Blüte der Volkswirtschaft garantieren kann, Herr über die Kartelle und die Arbeiterorganisationen wird und bleibt.
Der wichtigste Grund derartiger Zukunftsgedanken bei Naumann scheint mir stets darin zu liegen, 1. daß er von den Marxschen Gedanken des Klassenkampfes und seiner umwälzenden Folgen in übertriebener Weise beeinflußt ist, daß er in Anwendung dieser Marxschen Kategorien seiner Phantasie die Zügel schießen läßt; 2. daß er von dem heutigen Staats- und Verwaltungsmechanismus, von der Kraft und Bedeutung unseres Beamtentums ganz unzureichende Vorstellungen hat, und 3. daß er zwar glaubt, den negativ-liberalen Vorstellungen über Demokratie entronnen zu sein, daß er aber hier doch noch in dem Banne der alten demokratischen Vorstellungen der Jahre 1840-1870 lebt, demokratischen Formen eine Wunderkraft zuschreibt und für die Grenzen, innerhalb welcher heute in unseren alten großen Kulturstaaten Demokratisierung heilsam sein kann und deshalb in dubio günstig wirkt, keine ausreichende Vorstellung hat.
Gewiß hat er recht, daß in unseren heutigen Kulturstaaten eine starke Tendenz der Demokratisierung kommen mußte. Alle großen Staatsmänner des 19. Jahrhunderts haben dies erkannt und danach gehandelt, von Napoleon I. bis zu Bismarck, von Stein und Hardenberg bis zu Bülow, von Sir Robert Peel und Gladstone bis zu Lloyd George. Die Ursachen sind einfache. Sie liegen natürlich nicht darin, daß alle Menschen von Natur gleich wären; noch weniger darin, daß in den unteren Klassen, in den Arbeitern, Kleinbürgern und Kleinbauern mehr politisches Verständnis zu finden wäre als in den oberen Klassen; auch nicht darin, daß die bisher regierenden Stände vorwiegend schlechte Kerle seien, daß nur korrupte egoistische Männer in die leitenden Stellen kämen, daß umgekehrt die unteren Klassen von Tugend und Weisheit trieften, also unendlich besser zu regieren fähig seien. Wohl aber darin, daß allerdings die von alters her allein und ohne rechte Kontrolle regierenden Aristokratien, Bureaukratien, Fürstenhäuser notwendig da und dort nicht mehr ausreichen, teilweise entartet sind, daß es keine Menschen gibt, die ohne Kontrolle nicht in Mißbräuche verfallen. Unsere Zeit hat in der Presse ein Organ der Kontrolle geschaffen, das früher fehlte; es hat die unteren Klassen durch Schulbildung, Presse, Vereinswesen, Selbstverwaltung, allgemeine Wehrpflicht, technische Fortschritte emporgehoben, wie es nie früher die unteren Klassen erlebten. Der Jahrhunderte alte politische Schlummer der Mittel- und unteren Klassen ist beseitigt. Sie sind erwacht und verlangen mit Recht eine Teilnahme am Staatsleben, die ihren Eigenschaften entspricht. Die oberen Klassen können nicht mehr regieren ohne Einrichtungen, die ihre Tätigkeit offen legen, diese zu beaufsichtigen gestatten. Das Mißtrauen gegen die vorhandenen oder möglichen Mißbräuche der Regierenden ist in einer Weise erwacht, daß kein Staat ohne Selbstverwaltung, ohne Parlamente, ohne die Möglichkeit, für die Talente und großen Charaktere in den Mittel- und unteren Klassen, an dem Ämterwesen, der Volksvertretung, der Selbstverwaltung Teil zu erhalten, bestehen kann. Denn jeder Staat muß das Vertrauen der großen Majorität des Volkes haben und es sich immer wieder neu erwerben. Er kann nicht mehr bloß durch Gewalt bestehen.
Auf diesen großen Veränderungen der letzten zwei Jahrhunderte beruht die Notwendigkeit einer Demokratisierung unserer öffentlichen Institutionen. Es handelt sich nun aber darum, die Vorbedingungen und Grenzen zu erkennen, innerhalb deren diese Demokratisierung sich halten muß, wenn nicht der politische Unverstand der Massen schädlich sein soll. Denn es gibt keine Einrichtungen, es dahin zu bringen, daß die ganze Masse des Volkes gleiches politisches Verständnis erhalten könnte, daß die natürlichen egoistischen Motive der Menschen nicht immer wieder gewalttätig in das öffentliche Leben einzugreifen suchten. Seit Jahrtausenden arbeitet das Verfassungsrecht aller Kulturvölker deshalb daran, die Teilnahme an der Staatsgewalt zu einer kompliziert abgestuften zu machen. Auch heute ist die Demokratie wahnwitzig und unmöglich, welche sämtlichen Bürgern gleichen Anteil an der öffentlichen Gewalt, an allen Ämtern geben will.
Wir fragen, was die Erfahrung über die Grenzen aller Demokratisierung sage.
Wie wir schon bemerkten, können kleine, gegen das Ausland gesicherte Staaten in der Demokratisierung weiter gehen als große, von starken Feinden umgebene. Schon Rousseau betonte, nur in einem Kleinstaate wie Genf seien seine Ideale möglich. Ein kleiner Arbeiterverein von 100 Personen wird ganz gut ultra-demokratisch sich regieren können, die Ämter reihum gehen lassen, der Generalversammlung alle wichtigen Entscheidungen anvertrauen können. Die heutige deutsche Sozialdemokratie hat aus sich heraus eine Aristokratie und Bureaukratie geschaffen, die sie mehr oder weniger beherrscht. Jede ganz große Versammlung von Hunderten und Tausenden ist vom Zufall, von einzelnen Rednern, von Gemütserregungen, statt von Einsicht und Verstand beherrscht. An der Souveränität ihrer Volksversammlungen sind die antiken Republiken zugrunde gegangen; die modernen haben die einst den Volksversammlungen überlassenen Entscheidungen den Parlamenten, Ministerien, Königen und Präsidenten übertragen.
Die moderne großstaatliche Demokratie kann keine wichtigen politischen Dinge in ihrer Masse richtig beurteilen; sie muß damit zufrieden sein, Führer, Vertreter, Delegierte zu wählen, die ihr Vertrauen haben, die für sie handeln. Diese Führer müssen sich dieses Vertrauens würdig zeigen, müssen die Masse aufklären, erziehen, aber sie dürfen der Masse und deren Leidenschaften nicht blind folgen.
Im Staate wie in der Volkswirtschaft können nicht die Massen regieren und befehlen; sie können nur indirekt auf die Befehlenden wirken; aber sie müssen im gewöhnlichen Laufe der Dinge in der Regel teils der Staatsgewalt, teils den Unternehmern, teils den selbstgewählten Führern gehorchen. Jede Volkswirtschaft und jeder Staat hört auf, richtig zu funktionieren, wenn die Massen ihren Führern nicht mehr gehorchen. Und das ist heute häufig der Fall; da liegt die Gefahr der anarchisch-demokratischen Zustände. Gewerkschaften, die gute Führer haben, denen gehorcht wird, sind von Segen; Gewerkschaften mit kurzsichtigen leidenschaftlichen Führern, mit solchen, denen im entscheidenden Augenblick nicht gehorcht wird, sind vom Übel für die Arbeiterinteressen wie fürs Gesamtwohl. Der augenblickliche Kampf um die Verfassung der sozialdemokratischen Partei ist die Revolte der Masse gegen die gewählten Führer, die Revolte der Leidenschaft gegen die ruhige Vernunft.
Die Lehre von der Volkssouveränität ist ein Unding, so wie sie bisher meist aufgefaßt wird: jede jeweilige Majorität des Volkes, des Parlaments könne beliebig das Eigentum neu verteilen, sie dürfe und solle die oberen Klassen von der Volksleitung ausschließen. Sie ist dann in Wirklichkeit nichts als die Klassenherrschaft der Arbeiter. Es entständen Zustände, denen gegenüber unser alter deutscher Beamtenstaat, trotz aller Fehler, noch ein Muster der Gerechtigkeit und der Vernunft wäre. Solche Zustände könnten sich nur ganz vorübergehend halten; sie würden in dem Maße auch unwahrscheinlicher, als die Sozialdemokratie fortfährt, in sich selbst eine Aristokratie und Bureaukratie auszubilden, als diejenigen Arbeiterführer zurücktreten, die durch Lungenkraft, heiße Leidenschaft, blinden Glauben an die Revolution riesige Massenversammlungen fanatisieren, aber keine große Partei mit weitem Blicke leiten können.
Bekommt die Sozialdemokratie einstens ausschließlich Führer und Beamte wie Bebel und Vollmar, wie Auer und Bernstein, und folgt diesen die Masse, so ist die Gefahr für unser Staatsleben und unsere Volkswirtschaft so ziemlich beseitigt. Es wird aber noch lange dauern, bis dieser innere Erziehungsprozeß vollendet sein wird. In der Zwischenzeit können revolutionäre Ausbrüche und unterdrückende Reaktionen kommen und diesen Prozeß stören; aber wir wollen hoffen, daß sie ihn nicht dauernd hindern werden.
Ist er erreicht, dann werden die Arbeiter gelernt haben, daß sie nicht allein regieren können. Naumann spricht in seinen Schriften den Arbeitern die Regierungsfähigkeit in den wirtschaftlichen Dingen ab, will sie ihnen aber in der Politik einräumen. Das ist sein Irrtum.
Im übrigen bleibt er einer der bedeutenden Propheten und Führer in das gelobte Land einer besseren sozialen Zukunft. Aus einem Propheten des Evangeliums ist er einer der Propheten der sozialen Reform geworden. Wer als Prophet sich fühlt, muß mehr verheißen, als das harte historische Schicksal bringen kann.
Ohne idealistische Illusionen gibt es kein Prophetentum! Sollte die Menschheit deshalb wünschen, daß es keine Propheten mehr gebe?
(Oberbozen, 30. August-2. September 1912.)