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Neue Freie Presse (Wien) Nr. 18 065 vom 8. Dezember 1914.
Die großen Ideen und Gedankensysteme, welche wie die Reformation und das Naturrecht, die Naturwissenschaften und die moderne Philosophie, die Volkswirtschaftslehre und der Sozialismus, die europäische Kulturwelt von 1500 bis 1900 umgestaltet haben, sind naturgemäß alle bei ihrem ersten Auftreten als revolutionär empfunden worden; viele ihrer ersten Bekenner sind mit heftigen Anklagen und überstürzenden Plänen aufgetreten. Nur im Kampf der alten mit den neuen Ideen konnte der notwendige und heilsame Fortschritt sein Ziel erreichen. Daher die bekannte Erscheinung, daß die neuen Systeme vielfach himmelstürmend und übertreibend die zum Fortschritt Geneigten um ihre Fahne sammelten; nach einer bis drei Generationen aber lernte man diese Systeme als beschränkte Teilwahrheiten einreihen in den Zusammenhang der berechtigterweise die menschliche Gesellschaft ordnenden Ideen. Und nicht bloß die fortschrittlichen, auch die neuen konservativen Gedankengebäude, vor allem die größten derselben, traten zuerst übertreibend, einseitig, für praktische Verwirklichung ganz ungeeignet auf. Erst langsam wurden sie, wie die fortschrittlichen Ideensysteme, so weit eingeschränkt, daß sie mit Teilen ihrer Forderungen in der Wirklichkeit Aufnahme finden und Segen stiften konnten. Anders als durch den Kampf der Geister, durch Läuterung und Erfahrung, durch Beschränkung des zu viel Geforderten kommen wir armen Sterblichen nicht voran.
Diese Wahrheiten muß man im Auge behalten, wenn man den Sozialismus, zumal seine extremeren Formen, richtig beurteilen will. Die Gedanken von Karl Marx und Friedrich Engels haben in Deutschland und Österreich eine Bedeutung erreicht, welche die älteren sozialistischen Systeme weit hinter sich gelassen hat. Man hat gesagt, die deutsche Sozialdemokratie habe mehr Bekenner als die Sozialisten aller anderen Länder zusammen. Einige ihrer fanatischen Führer und noch mehr ihrer ängstlichen Gegner glauben noch immer, sie werde in naher Zeit die politische Herrschaft und damit die Aufrichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung erreichen. Das Marxsche System entstand 1850-1867, wurde zur Fahne der deutschen sozialistischen Arbeiterpartei 1869-1891. Aber schon Bebels parlamentarische Taktik von 1869 bis zu seinem Tode war eigentlich ein Aufgeben des schroffen Revolutionsgedankens. Seit 1890 haben die gebildeten und geistig hochstehenden Führer der Sozialdemokratie einen der Marxschen Glaubensartikel nach dem anderen fallen lassen. Der Zahl der sozialdemokratischen Reichstagswahlstimmen gehörten zu drei Vierteln Nichtsozialdemokraten an; die Zahl der Partei umfaßt noch nicht viel über eine Million Mitglieder, die der freien Gewerkschaftsmitglieder, von denen nicht ein Drittel Mitglieder der Partei sind, ist langsam auf zwei bis drei Millionen gestiegen; die Jahreseinnahme der Partei beläuft sich auf etwas über eine Million Mark, während die deutschen Gewerkschaften jährlich 80-90 Millionen einnehmen. Die politische Partei hat in sich eine Aristokratie und Bureaukratie von 5-10 000 gut bezahlten Führern ausgebildet, welche in der Partei das ultrademokratische Prinzip, ohne es zu wollen und zu wissen, ad absurdum führten. Auch die normale Entwicklung der Konsumgenossenschaften wird auf die Dauer ihre Mitglieder vom Klassenkampfideal entfernen. Kurz, die marxistische deutsche Arbeiterpartei ist in einem Auflösungsprozeß, respektive bürgerlichen Umbildungsprozeß begriffen, so sehr sie dies auch leugnet.
Und dieser Prozeß hat seine eigentliche Ursache nicht bloß in den Schriften der Revisionisten, sondern vor allem und speziell in den immer zahlreicheren Publikationen über die Geschichte, die Entstehung, die Entwicklung der Marxschen Lehren, wie sie seit dem Tode von Marx (1883) einsetzten. Eines der wichtigsten Bücher in dieser Beziehung sind die vier Bände: »Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx 1844-1883« (Stuttgart, 1913, Oktav), herausgegeben von A. Bebel und E. Bernstein.
Auf den 1943 Seiten wird uns zum erstenmal ein ebenso intimer als unverfälschter Einblick in das Wesen des großen sozialistischen Freundespaares, in ihre Beziehungen untereinander und zur deutschen Sozialdemokratie, zu Lassalle, zu Wilhelm Liebknecht, in ihr tägliches politisches und soziales Urteil über die Zeitereignisse, über das Entstehen des ersten Bandes des »Kapitals« gewährt, daß man das Vertrauen der Herausgeber auf den Erfolg nur bewundern kann.
Freilich, sehr viel Schönes, Großes zieht bei der Lektüre an unserer Seele vorbei, zumal für Engels, der den Briefwechsel besaß und die Herausgabe anordnete. Aber auch für Marx. Wir sehen zwei selten begabte Männer, mit einer Arbeitskraft und Lernfähigkeit ohnegleichen. Engels sitzt von morgens bis abends in seinem Kontor in Manchester, lang in verantwortlicher Stellung, und arbeitet dann jeden Abend von 7-2 Uhr nachts, lernt immer wieder in ein paar Wochen eine neue Sprache, schreibt für sich und Marx Zeitungsartikel, verfolgt neben der politischen und sozialen die militärische und militärtechnische Bewegung, schreibt Broschüren (z. B. Po und Rhein 1859), die in ganz Europa für das Werk eines eingeweihten und begabten Generals gehalten werden. Und dabei ist er ein lebensvoller Rheinländer, der Wein, Weib und Gesang liebte, möglichst viele Fuchsjagden mitritt, um sich frisch zu erhalten, auf seinen Reisen lebensvolle Schilderungen von Land und Leuten entwarf, bis in sein Alter sich gern der Tage erinnerte, da er in Berlin als Einjähriger der Gardeartillerie das preußische Heer hochschätzen gelernt hatte. Aber fast noch mehr müssen wir über Marx' Fleiß und gelehrte wissenschaftliche Aufnahmefähigkeit staunen, ob er gesund oder krank ist. Er sitzt durch Wochen täglich stundenlang im Britischen Museum »mit der Leidenschaft einer unersättlichen Schlange die Bücher verschlingend«. Einmal schreibt Marx von der Zeit einer ernsten Erkrankung: »gelesen: Carpenters Physiologie, Lord Ditto Köllikers Gewebelehre, Spurzheims Anatomie des Hirns und Nervensystems, Schwann und Schleiden über die Zellen«. Wie jubelt er, als er Maurers sämmtliche Bände über deutsches Agrarwesen gefunden und durchgelesen hat, oder wenn er ihm bisher unbekannte englische soziale Enquetebände für ein paar Pfennige beim Antiquar erwirbt. Das Interesse beider Freunde umfaßt ganz Europa und die Kolonien; sie verfolgen atemlos die Tagespolitik in wirtschaftlicher, sozialer und politischer Beziehung, auf neue Krisen, auf die heißersehnte Revolution wartend, die ihren Überzeugungen den endlichen Sieg bringen soll, und teilen sich gegenseitig alles Wichtige mit. Marx muß dies schon tun, da er ganz überwiegend von der Tätigkeit als Zeitungskorrespondent lebt, wobei Engels steter stiller Mitarbeiter ist.
Beide sind sehr verschiedene Naturen und ergänzen sich so. Gefunden haben sie sich im philosophischen und sozialen Radikalismus der vierziger Jahre, in der auf Menschenkenntnis und realistischen Scharfblick wurzelnden Verachtung für den älteren Sozialismus, in dem Bewußtsein, daß sie beide zusammen eine große gemeinsame sozialhistorische Mission hätten. Beide fast mehr Männer der Tat als der Feder; aber durch ihre Verbannung, durch ihr Flüchtlingsleben doch mehr auf schriftstellerische Wirksamkeit und auf stille Beeinflussung der in Deutschland und in den anderen Staaten lebenden Gesinnungsgenossen angewiesen. Immer in Verzweiflung, daß alle diese Leute bis zu Lassalle, Proudhon, Bakunin, Mazzini usw. eigentlich für die sozialistische Mission unfähig seien, alles verderben, mit denen aber nicht ganz gebrochen werden könne, da man sie doch benützen, leiten, zum Handeln bringen müsse, wenn überhaupt etwas geschehen solle.
Engels eine durchaus erfreuliche, sonnige, warme Natur, immer liebenswürdig, opferbereit für Marx, sich ihm unterordnend als dem großen Schriftsteller und Denker, der größeren Willenskraft. Noch an seinem Grabe, 1883, bekannte er sich bedingungslos mit den Worten zu ihm: »Wie Darwin die Gesetze der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der Geschichte.« Marx eine kühle, kritische Verstandesnatur, von ungemessenem Selbstgefühl; nur selten und für wenige hat er einen warmen Ton übrig. Er sieht überall und in erster Linie das Schlechte, in Zuständen und Menschen, hat in der Kritik anderer fast nur verächtliche, verkleinernde, oft bissige Worte zur Verfügung. Selbst über einen Mann wie A. Smith spricht er empörend als von einem ärmlichen Plagiator. (»Kritik d. pol. Ökonomie«, 1859, S. 149.) Oncken sagt von ihm: »Er gehörte zu jenen streitbaren Naturen, die ihren Kraftüberschuß bis in die geringsten Dinge rechthaberisch entladen.« Er war eine gallige, bissige Natur, es fehlten die weicheren, die Gemütstöne fast vollständig. Seine Begabung läßt sich vielfach aus dem Briefwechsel erschließen. Er war mehr ein mathematisch-naturwissenschaftlicher als ein historischer Kopf. Er spricht sich selbst das Anschauungsvermögen mit den Worten ab (III., S. 113): »Es geht mir mit der Mechanik wie mit den Sprachen. Die mathematischen Gesetze verstehe ich, aber die einfachste technische Realität, wozu Anschauung gehört, ist mir schwerer wie der größte Knoten.« Der Staat und seine Einrichtungen sind ihm ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln. Ein neuerer Kritiker (Jäger) sagt mit Recht: »Marx hat den Staat verloren, im Herzen vielleicht nie einen besessen.« Daß der reaktionärste Minister, den Preußen 1840 bis 1890 hatte, Westphalen, sein Schwager war, hat ihn von der vollen Unkenntnis und dem Hasse gegen diesen Staat natürlich nicht befreit.
Marx' Gedankenwelt und geistige Entwicklung ist nur zu verstehen aus seiner jüdischen Herkunft heraus, aus seiner in Trier verlebten Jugendzeit, wo man damals noch in den gebildeten Kreisen überwiegend Französisch sprach, dann aus dem Studium Hegels und Feuerbachs, weiter aus der Tatsache, daß er schon 1840-1850 (22-32jährig) überwiegend in Paris und Brüssel den französischen Sozialismus und das schlechte Bourgeoisregiment Louis Philippes kennen lernte; endlich daraus, daß er 1850 bis 1883 bis zu seinem Tode wesentlich nur noch englische Eindrücke empfing, die englische Chartistenliteratur las, sich über die Einzelheiten der englischen Baumwollindustrie und die Lage ihrer Arbeiter von Engels aus Manchester berichten ließ. Da er die englische Rechtsgeschichte nicht näher kannte (es fehlten damals auch die heutigen Hilfsmittel dazu), aus der englischen Politik sich nur von den englischen Radikalen belehren ließ, so war diese Basis seiner Erkenntnis viel zu schmal, um von ihr aus die Entwicklung des Kapitalismus und der Arbeiterfrage ganz allgemein für West- und Mitteleuropa zu konstruieren. Er umfaßte nur einen Teil dieses Prozesses, die Verelendung gewisser Teile der Baumwollarbeiterschaft, und machte aus ihr eine Tragödie, die weder der Größe noch der Lebenswahrheit entbehrte; aber es war doch ein Bild, dessen Hälfte falsch oder übertrieben war und dessen Schlußfolgerungen zum großen Teile ihre letzte Ursache nicht in den Tatsachen, sondern in der Galle des Verfassers hatten.
Das Leben von Karl Marx von 1850-1883 in London war selbst eine herzzerreißende Tragödie, wie wir hier zum erstenmal erfahren. Marx hatte den Rest seines kleinen Vermögens hingegeben, um die Schulden der »Rheinischen Zeitung« zu zahlen. In London unterstützte er vielfach deutsche Flüchtlinge, so lange er selbst noch einen Penny hatte. Seine Korrespondententätigkeit gab ihm fast nie so viel, daß er auch nur zur Hälfte davon leben konnte. Er und seine Familie hungerten Jahrzehnte für seine Überzeugung: sein Söhnchen starb infolge der Not, die Frau verkümmerte; er selbst wurde krank und kränker. Er litt an schwerem Leberleiden und periodischer Wiederkehr von monatelangen Karbunkeln, die den Körper bedeckten, bis wochenlanges Arseniknehmen endlich wieder Linderung schuf. Einen erheblichen Teil seiner Zeit war er arbeitsunfähig; jahrelang war ein großer Teil der Kleider und Haushaltsgegenstände im Pfandhaus, bis auf die der Dienstboten herab. Fünfzigjährig schrieb er an seinem Geburtstage: Ein halbes Jahrhundert auf dem Rücken und immer noch pauper! Er wäre an all dem schon in den fünfziger Jahren zugrunde gegangen, wenn sein Freund Engels ihm nicht das nötige Geld immer wieder geschickt, ihm zuletzt von 1869 an eine feste Jahresrente von etwa 7000 Mark gezahlt hätte.
So kann man von Marx sagen: In tormentis scripsit. Er blieb dabei der aufrechte Mann. Als ihn Bismarck 1867 für sich gewinnen wollte, wies er es stolz ab. Aber naturgemäß sind seine Werke von seinem Schicksal beeinflußt. Er sah im Arbeiterelend zugleich das eigene, in beiden das Unrecht der heutigen Gesellschaft, die er nun mit steigendem Haß darstellte, die er vernichten wollte, an deren Stelle er bessere Institutionen setzen zu können meinte.
Das schöne uneigennützige Verhältnis der beiden Männer zueinander aber ist ein Denkmal seltenster Freundschaft, die auf einem großen Hintergrunde, dem beiderseitigen Bewußtsein einer weltgeschichtlichen Mission, ruhte.
Auch abgesehen von Marx' Gesundheit und steter Geldnot ist das Leben desselben eine fortgesetzte Enttäuschung; es gehörte ein seltener Optimismus dazu, den Stein immer wieder vergebens bergaufwärts zu rollen. Der Kleinkrieg der Londoner Flüchtlingsschaft war aufs höchste unerbaulich, voll Enttäuschung, Narrheiten, Streitereien und Taktlosigkeiten. Ebenso die Leitung der internationalen Arbeiterassoziation. Die Herausgeber sagen, Marx drängte sich nicht an die Spitze derselben, aber sein Wissen und sein scharfes Urteil drängten ihn an die erste Stelle; ich möchte hinzufügen, seine Diktatornatur, seine Überzeugung, diese Herde von unpolitischen Weltverbesserern turmhoch zu überragen. Um so größer sind die inneren Händel persönlicher und nationaler Art, die nicht enden und die schon allein jeden großen Erfolg dieser Assoziation hindern mußten. Immer wieder schleppt sich Marx, auch krank, in die Vorstandssitzungen, um Ordnung zu schaffen. Die innere Geschichte dieser Assoziation, wie sie aus dem Briefwechsel sich ergibt, weckt eine Idee davon, was aus der von Marx erhofften und nach seinen Gedanken einstens in seine Hand zu legenden Diktatur des Proletariats geworden wäre.
Ein erheblicher Teil des großen Interesses, den der Leser an den Briefen gewinnt, beruht auf der zu erschließenden Erkenntnis über das Urteil der beiden Freunde über die anderen führenden Sozialisten.
Vielleicht am schlechtesten kommt Lassalle weg. Die Freunde wußten, daß er schon (1848-1849) vom Kommunistenbund, in den er aufgenommen werden wollte, einstimmig wegen seines Rufes zurückgewiesen wurde; es handelte sich, wie Oncken betont, wohl um seine Tätigkeit als Anwalt und Liebhaber der Gräfin Hatzfeld; er hatte ihr ein großes Vermögen gerettet und sich damit eine große Rente geschaffen, die ihm erlaubte, als Grandseigneur von da an zu leben. Engels bezeichnet ihn als einen Menschen, dem man höllisch aufpassen müsse; er sagt, »als echter Jud von der slawischen Grenze war er immer auf dem Sprunge, unter Parteivorwänden jeden für seine Privatzwecke zu exploitieren«. Als Lassalle Marx 1857 seinen Heraklit übersandte, findet er das Zeug zu dick, um es durchzulesen, er nennt es eine posthume Blüte einer vergangenen, der Hegelschen Epoche. Er spottet über den philologischen Flitterstaat, mit dem Lassalle sich drapiert, »mit der Grazie eines Kerls, der zum erstenmal in seinem Leben fashionable Dreß trägt«. Immer brachen die Freunde mit Lassalle nicht ganz ab, in der Erwartung, ihn nochmals brauchen zu können. Sie verhandelten mit ihm 1860 über eine gemeinsame Wiederaufnahme der »Rheinischen Zeitung«; Lassalle machte 1861 einen Besuch in London. Das Zusammengehen zeigt sich als unmöglich; Marx schreibt: »Seine Rechthaberei, sein Stehenbleiben im spekulativen Begriff, seine Infektion mit älterem französischen Liberalismus, seine breitspurige Feder, seine Zudringlichkeit, Taktlosigkeit würde uns blamieren;« höchstens als Redakteur unter strenger Disziplin wäre er zu brauchen. Bald darauf erscheint Lassalle dem Marx als von Größenwahn befallen: »Er ist ausgemacht nicht nur der größte Gelehrte, tiefste Denker, genialste Forscher, sondern außerdem Don Juan und revolutionärer Kardinal Richelieu.« Er sah in ihm einen ihn bestehlenden und verschlechternden Plagiator und einen politischen Rivalen, was sich 1863/64 natürlich noch steigerte. Erst nach seinem jähen Tod fängt Marx an, wieder milder zu urteilen. Engels blieb stets bei harter Abweisung des Lassalleschen Tory-Chartismus; er schreibt 1865: »Subjektiv mag seine Eitelkeit ihm die Sache plausibel vorgestellt haben, objektiv war es ein Verrat der ganzen Arbeiterbewegung an die Preußen.« Oncken hat diese Beziehungen in den »Preußischen Jahrbüchern« (Band 155, 211-288) näher dargestellt.
Kaum erfreulicher gestaltete sich dann das Verhältnis der beiden Freunde zu den Führern der deutschen sozialdemokratischen Partei, Bebel und Wilhelm Liebknecht. Bebel wird freilich kaum erwähnt im Briefwechsel; ich füge nur bei, daß sein Besuch bei Marx Anfang der achtziger Jahre von Bebel selbst als Canossagang bezeichnet wird. Der eben erschienene dritte Band seiner »Lebenserinnerungen« zeigt die vorausgegangenen Kämpfe. Um so häufiger wird Liebknecht im Briefwechsel behandelt. Er wird im ganzen als politisch urteilsloser und unzuverlässiger Sanguiniker und Phantast bezeichnet. Am meisten wird er verurteilt, weil er sich damals ganz an die süddeutsche föderalistische Volkspartei angeschlossen hatte, die Wiederherstellung des politischen Zustandes von Deutschland, wie er vor 1866 gewesen, auf seine Fahne geschrieben hatte. Marx ist in steter Entrüstung, daß er seinen ersten Band »Kapital« nicht anzeige. Engels schreibt: »Er lockt mit seiner Volkspartei und seiner Restaurationswut des blinden Welfen und des biederen Kurfürsten von Hessen bei den norddeutschen Arbeitern keinen Hund vom Ofen.« Engels freut sich, daß er ihm sein Blättchen nicht mehr schicke, es sei nicht zu lesen. Marx ist wütend, daß er sich zu seinem Kurator ernannt habe, ihm Befehle für die Leitung der Internationale schicke. Beide kennen die Fehler des Herrn v. Schweitzer wohl; aber in seinem Kampfe mit Liebknecht finden sie immer, daß er Liebknecht an politischer Fähigkeit und Klugheit turmhoch überrage. Daß Liebknecht vor allem durch seine hypernervöse Exaltiertheit immer wieder fehlgriff, dies zu verstehen war ihnen wohl versagt, weil sie ihn nicht nahe genug persönlich kannten.
Von ganz besonderem Interesse ist das jeweilige Urteil von Marx und Engels über die politischen Tagesereignisse. Dabei ist es stets ein eigenes Gemisch von großen historischen und sozialen Gesichtspunkten und vom Einflusse falscher Nachrichten, gefärbter Berichte und einseitiger Parteidoktrinen. Beide erfahren aus allen möglichen Ländern sehr viel, aber natürlich stets sehr einseitig Gefärbtes, während sie anderseits von den leitenden Männern in Berlin und Wien, in Petersburg und Washington, in Paris und London sehr unvollkommene, teilweise grundfalsche Vorstellungen haben. Sie glauben die törichtsten Nachrichten von der Bestechung aller möglichen Staatsmänner durch Rußland; David Urquhardts vielfach ganz falsche Meldungen finden fast stets Gehör. Palmerston, Napoleon III. und seine Minister werden noch mehr heruntergerissen als die deutschen Fürsten und Staatsmänner. Von dem alten Kaiser Wilhelm, den sie stets verächtlich den »schönen Wilhelm« nennen, sprechen sie so despektierlich, als es ja auch sein Bruder Friedrich Wilhelm IV. zeitweise getan; die meisten Zeitgenossen haben erst sehr spät seine großen Charaktereigenschaften erkannt. Auch von Bismarcks Größe haben sie keine entfernt richtige Vorstellung. Immer hat Engels eine über Marx und vollends über Liebknecht weit hinausgehende Einsicht in seine weltbewegende Rolle, wie er 1866/67 und noch mehr 1870 zeigt. Er betont, daß Bismarck Anlehen bei der Demokratie macht, daß die Mainlinie nur zum Schein, um Frankreich zu besänftigen, eingerichtet sei, daß kein Stück deutschen Bodens nach den deutschen Siegen an Napoleon kommen könne. Im August 1870 schreibt er: »Siegt Napoleon, so ist der Bonapartismus auf Jahre gefestigt, vielleicht auf Generationen. Von einer selbständigen deutschen Arbeiterbewegung ist dann auch keine Rede mehr. Siegt Deutschland, so ist der französische Bonapartismus jedenfalls kaput, der ewige Krakeel wegen Herstellung der deutschen Einheit endlich beseitigt, die deutschen Arbeiter können sich auf ganz anderem nationalen Maßstab als bisher organisieren. Die ganze Masse des deutschen Volkes aller Klassen hat eingesehen, daß es sich eben um die nationale Existenz in erster Linie handelt, und ist darum sofort eingesprungen.« Jetzt sei es unmöglich, wie Liebknecht totale Obstruktion zu predigen. Jetzt den Antibismarckismus zum leitenden Prinzip erheben, sei absurd. »Bismarck tut jetzt wie 1866 ein Stück unserer Arbeit, in seiner Weise, ohne es zu wollen, aber er tut es doch.« Er schafft reinen Boden; die Allianz mit Rußland wird verschwinden. Die Süddeutschen treten in den Reichstag, und damit erwächst ein Gegengewicht gegen das Preußentum. Es ist Blödsinn von Liebknecht, daß er auf den Sieg Napoleons gerechnet, der uns den neuen Rheinbund gebracht hätte. Ein Volk, das nur Hiebe und Tritte bekommt, macht auch keine soziale Revolution.
Der Briefwechsel von Engels und Marx reicht bis zum Tode von Marx 1883. Aber er hat von 1870 an, da Engels in London in der Nähe von Marx wohnte, nicht mehr dasselbe Interesse. Er bezieht sich nur noch auf die kurzen Epochen der Trennung, der Reisen; die allgemeinen Fragen treten zurück gegenüber den persönlichen. Engels hat Marx so lange überlebt, daß er die folgenden Bände des »Kapitals« fertig machen und herausgeben konnte. Er hat es auch noch erlebt, daß das deutsche Sozialistengesetz aufgehoben wurde, daß der reine Marxismus im Parteiprogramm von 1891 siegte, daß der große Aufstieg der deutschen sozialdemokratischen Partei einsetzte.
Ob er an diesen Erfolgen reine Freude empfand? Daß er nun nicht mehr an alle Lehrsätze seines Freundes glaubte, hat er selbst noch öfters ausgesprochen oder angedeutet.
Marx ist mit der Überzeugung geschieden, daß seine Lehren siegen werden, obwohl er nach Erscheinen seines ersten Bandes, von dem er rasch weitere Auflagen und große Einnahmen erwartete, darüber sehr enttäuscht war, daß er so sehr langsamen Absatz fand. Alle Mühe Engels' für die Reklame nützte nicht viel. Auch heute wird die Zahl derer, welche die wenigen anziehenden Kapitel des Buches lasen, nach Hunderttausenden zählen, die, welche das Ganze studierten, nur nach Hunderten. Die scholastische Studierstubenkonstruktion überwiegt zu sehr.
Die Größe von Marx und Engels liegt in ihren Werken und ihrem kühnen Idealismus, in der Aufopferung ihres Lebens für die Sache der Arbeiter. Mögen sie in vielem noch so sehr geirrt, übertrieben, gefehlt haben: sie sind und bleiben die größten Apostel der sich organisierenden Arbeiterklasse. Und diese Organisation ist eine historische und soziale Notwendigkeit gewesen und ist es heute noch. Aber der Geist in ihr, der schon nicht mehr der von 1890/1900 ist, der ebenso durch Marx' Leidenschaften und Irrtümer in falsche Bahnen kam, wie durch unrichtige Behandlung derselben seitens ihrer Gegner und der Regierungen, er wird weiterhin sich wandeln. Teils durch das bessere Verständnis in den höheren Klassen für die Arbeiterinteressen, teils durch die steigende Einsicht der Arbeiter selbst. Schon sind die Gewerkschaften in Deutschland mächtiger als die politische sozialdemokratische Partei, schon wachsen neben dieser andere Arbeiterparteien heran. Es wird wie in England eine Zusammenfassung dieser Parteien gelingen. Die Idee der Revolution wird zurücktreten hinter der der Reform, die des gewaltsamen Klassenkampfes hinter der der Verständigung und des Klassenfriedens.
Sollten die Marx-Schüler wirklich so hyperkonservativ sein, sich nicht mehr, wie bisher, wandeln zu wollen, sich versteifen auf den Satz der äußersten Reaktion: Sint ut sunt aut non sint, so wird der Strom der Geschichte sie beseitigen, über sie hinweggehen.
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