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Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche. 34. Band, 3. Heft, S. 1261-1279. (1910.)
Inhaltsverzeichnis
I. Das preußische Junkertum in Geschichte und Gegenwart. Gegenwärtige Lage (Anfang März) der inneren Politik in Preußen-Deutschland. Landesherr und Junker in Preußen von 1415-1858. Bismarck und die Junker. Ära Caprivi-Hohenlohe. Der heutige junkerliche Einfluß in der Regierung und seine Gefahren; die politische Erziehung des Junkertums und der anderen Parteien. – II. Die preußische Wahlrechtsreform von 1910, ihr Fall und die Notwendigkeit neuer Reformen. Die parlamentarischen Schicksale der Vorlage Bethmann Hollwegs. Die Notwendigkeit einer Wahlrechtsreform in Preußen: Die Stellung Bethmanns früher und jetzt, die zur Reform zwingenden Tatsachen. Die einzelnen Verbesserungsvorschläge der Regierung und deren Würdigung. Vernichtung der Bethmannschen Pläne durch den Bund von Konservativen und Zentrum. Vergeblicher Vermittlungsversuch des Herrenhauses. Hoffnung auf eine Verjüngung und innere Wandlung des Junkertums zugunsten einer ruhigen Entfaltung preußisch-deutscher Macht.
Die innere Lage Preußens ist im Augenblicke (Anfang März) noch beherrscht vom Rücktritt des Fürsten Bülow, von der Auflösung des Blocks, das heißt des Zusammenwirkens der konservativen und liberalen Parteien (ohne Zentrum und Sozialdemokraten) und von der gegenseitigen Verärgerung dieser bürgerlichen Parteigruppen über die Reichsfinanzreform, welche die Konservativen mit dem Zentrum und nicht, wie es Bülow geplant, mit den Liberalen zustande brachten. Diese Verärgerung erschwert jetzt nicht bloß die Stellung des neuen Ministerpräsidenten Herrn v. Bethmann Hollweg, sondern auch die Möglichkeit, eine halbwegs befriedigende Reform des Wahlrechts zum Abgeordnetenhause durchzusetzen. Sie wäre auch Bülow, wenn ihm geglückt wäre, den Block zu erhalten, nicht leicht gefallen, denn die Majorität des Herrenhauses und des Abgeordnetenhauses widerstreben jeder bedeutenderen Änderung des bestehenden konservativ-plutokratischen Wahlrechtes. Immer wäre dem Ansehen eines erprobten, seit zehn Jahren von Erfolg zu Erfolg schreitenden, eminent klugen und in der Behandlung der Parlamente sehr geschickten Taktikers vielleicht eher die Überredung oder Überwindung des Landtages gelungen; vielleicht auch ihm nicht ohne einen Herrenhausschub und ohne die Neuwahl der Abgeordneten unter starkem Regierungsdruck. Für seinen Nachfolger ist die Einlösung dieses königlichen Versprechens doppelt schwierig. Das Versprechen wurde von Bülow im Ministerrate nicht ohne Schwierigkeiten durchgesetzt, um die Liberalen an den Block zu fesseln, um zu zeigen, daß er mit dem Block eine gerechte Parteiregierung über den Parteien und sozialen Klassen anstrebe. Ob er weiter gegangen wäre, als die jetzige bescheidene Vorlage, weiß man nicht; hätte er es getan, was vielleicht denkbar ist, so hätte er wahrscheinlich sein Ziel nicht ohne ernste parlamentarische Kämpfe erreicht.
Die konservative Partei ist zu liberalen Konzessionen heute weniger bereit als vor einem Jahre. Sie hat gegenwärtig das Gefühl, den Ministerpräsidenten, der mit einer Wahlrechtsreform eine Karte gegen sie ausspielte, beseitigt zu haben; sie erwartet, daß der neue Minister ihr gefügiger sei. Man munkelt, daß sie hoffe, ihren geschickten, klugen Führer Herrn v. Heydebrand bald auf dem Ministerstuhl v. Moltkes sitzen zu sehen. Ihre Politik in der Reichsfinanzreform war diktiert nicht sowohl von der Abneigung gegen die Erbschaftssteuer als von der Erwartung, daß sie mit dem Kampf gegen sie und Bülow ihre Parteigenossen besser zusammenschweiße als durch großzügiges Eintreten für die Finanzpläne der Bundesregierungen. Das ist ja der dunkle Punkt aller heutigen Parteileitungen in Staaten ohne große Parteivergangenheit und Parteidisziplin! Jede Parteileitung soll für die großen Zwecke des Staates sich einsetzen und doch zugleich die Partei zusammenhalten, was sie meist nur kann durch Nachgiebigkeit gegen kurzsichtige Velleitäten und Klasseninteressen der Parteigenossen. Die Liberalen haben bei der Finanzreform in ähnlicher Weise gesündigt. Unsere gesamten deutschen Parteien sind noch zu jung und politisch zu unerzogen, um über solche Schwäche hinwegzukommen.
Der jetzige Ministerpräsident ist der von Bülow dem Kaiser vorgeschlagene, vom Kaiser berufene Nachfolger. Er ist weitaus der beste und fähigste unter den beim Kanzlerwechsel möglichen Kandidaten. Er ist ein konservativer Beamter, aber kein feudaler, kein extrem agrarischer; nach den Traditionen seiner Familie (sein Großvater war ein großer Rechtshistoriker, Bonner Professor, Freund Niebuhrs), nach seiner umfassenden wissenschaftlichen Bildung ist er ein ganz moderner Mensch; ein Führer der süddeutschen Volkspartei sagte zu mir: »Man kann mit ihm reden, man kann mit ihm unterhandeln.« Wäre er ein Junker, so hätte er unter irgendwelchem Vorwand die Wahlreform verschoben. Daß er sie in so homöopathischer Verdünnung vorlegte, hatte ich auch nicht erwartet. Ich hatte gehofft, er werde versuchen, ähnliche Wege zu wandeln, wie die im ganzen so gelungene sächsische Reform. Aber darin hat er recht, eine solche weitergehende Vorlage wäre zunächst glatt in beiden Häusern durchgefallen, nur eine liberale Minorität des Abgeordneten- und Herrenhauses wäre dafür gewesen. Und dann war die weitere Frage, ob er den Kampf fortsetzen und siegen werde? Gelingt die jetzige Reform in dem allerdings ungewöhnlich bescheidenen Umfang, so ist der Kuchen wenigstens angeschnitten. Später kann und wird weiteres folgen.
Bethmann hat in seiner ersten großen Einführungsrede die Alternative für Preußen so gestellt: königliche Regierung über den Parteien oder parlamentarische Regierung. Bis tief in das Lager der gemäßigten Liberalen und Freikonservativen hat er damit Zweifel und Achselzucken heraufbeschworen. Ich glaube allerdings, sehr weite Kreise der Gebildeten und politisch Sachkundigen geben Bethmann recht, daß wir heute noch nicht reif für eine parlamentarische Regierung seien, daß unsere Parteien vorher etwas ganz anderes werden müßten; ebensoviele glauben überhaupt nicht an eine nahe Umbildung unserer Parteien zur Regierungsfähigkeit; sie sehen, falls wir derartiges versuchten, zunächst nur eine Junkerregierung und, wenn diese verbraucht ist, ein sozialdemokratisches Experiment vor sich; sie glauben daher, eine unparteiische königliche Beamtenregierung sei das für uns zunächst und für lange Gegebene. Aber wie dem auch sein mag: im Augenblicke handelt es sich darum, ob Bethmann mit seiner Berufung auf das königliche Regiment recht hat oder seine Gegner, die im jetzigen Zustande nur eine Junkerregierung und keine königliche sehen. In ganz Deutschland wird die Phrase wiederholt: »Preußen muß von der Herrschaft der kleinen Gruppe ostelbischer aristokratischer, rückständiger Großgrundbesitzer befreit werden; das sei der Zweck, das Ziel, das die Wahlrechtsreform zu erfüllen habe, sonst tauge sie nichts.«
In dieser Phrase ist Wahres und Falsches wunderbar gemischt und zu einem Knäuel von Schiefheiten und Halbwahrheiten zusammengebunden. Ich habe nun seit fünfzig Jahren die führenden Männer dieses preußischen Junkertums ziemlich nahe beobachtet, habe viele, habe ihre Vorzüge und Mängel genauer kennen gelernt; ich bin aber im Grunde ein süddeutscher Liberaler geblieben, und mein Urteil ist wesentlich davon bestimmt, daß ich den großen Teil meiner wissenschaftlichen Studien der preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte widmete. Deshalb glaube ich ein objektives Urteil in dieser Frage zu haben.
Die ganze preußische innere Geschichte von 1415 bis heute hat ihren weitaus wichtigsten Inhalt in dem Kampfe der Monarchie und des von ihr geschaffenen Beamtentums mit dem Junkertum. Ein Teil der Territorien, aus denen der Staat sich bildete, hatte von 1400 bis 1700 fast mehr die Form ständischer Adelsrepubliken als die monarchischer Fürstentümer, wie ja fast alle Länder des europäischen Nordostens, von England, Skandinavien bis Rußland, Böhmen, Ungarn usw. Einzelne Länder wurden ganz, wie Polen, andere zeitweise, wie Schweden, durch ein kurzsichtig-egoistisches Adelsregiment vernichtet oder zurückgeworfen. Wieder andere sind, wie England und Ungarn, mit ihrer Adelsherrschaft emporgekommen. Es hing davon ab, ob der Adel des betreffenden Landes patriotisch, weitsichtig, politisch fähig war oder nicht, ob ein kräftiges, großes Fürstengeschlecht mit dem Adel um den Vorrang kämpfte, ob dem Fürstentum die Bildung eines tüchtigen Beamtentums gelang, ob und inwieweit die Aristokratie die Rechts- und Steuergleichheit anerkannte, die großen Ämter im hohen Stile zu führen mehr erstrebte, als dem Genuß, dem Besitz, dem Kleinherrentum auf der Scholle, der Mißhandlung der städtischen Interessen nachzugehen.
In Brandenburg waren die Hohenzollern mit vieler Mühe, mit Hilfe fränkischer und sächsischer Ritter, Geistlicher und Beamten von 1411-1640 soweit Herr über ihren Adel geworden, daß sie die Kraft hatten, sehr gegen den Wunsch ihrer heimischen Junker Cleve-Mark, Ostpreußen, Pommern und Magdeburg zu erwerben. Und mit Hilfe dieser Erwerbungen haben dann der Große Kurfürst und Friedrich Wilhelm I. die Stände und die Adelsrechte soweit beseitigt und eingeschränkt, daß der Militär- und Beamtenstaat, der aufgeklärte zentralistische Despotismus über dem zu Boden geworfenen Ständetum möglich geworden ist. Die widerspenstigen Junkerfamilien zwang Friedrich Wilhelm I., ihre Söhne Offizier werden zu lassen; den Schulenburgischen, Alvenslebenschen und Bismarckschen Familien wirft er in seinem Testament vor, sie seien die schlimmsten seiner ungehorsamen Vasallen, die nach dem Kondominat strebten. Seine Nachfolger ermahnt er, ihnen den Daumen auf die Augen zu halten und mit ihnen nicht gut umzugehen. Die eiserne harte Faust des Soldatenkönigs hat den Adel so erzogen, das heißt ihn auf der einen Seite zu Paaren getrieben, auf der anderen in dem Dienste des Heeres und der Verwaltung so mit Staatsgesinnung erfüllt, daß nun Friedrich II. die Großmacht mit ihrer Hilfe herstellen konnte, daß er dem Adel auch wieder große Rechte, wie die Landratswahl, unbedenklich einräumen konnte. Er sagte bekanntlich: es gebe auf der Welt wohl einen reicheren, aber kaum treueren und tapfereren Adel; »diese Rasse ist so gut, daß sie auf jede Weise erhalten werden muß.« Die von ihm begonnene Begünstigung des Adels hatte zur Folge, daß nach seinem Tode die Junker wieder in die alte Stellung zu kommen suchten. Einiges erreichten sie auch. Aber der einzige ganz liberale König Preußens, Friedrich Wilhelm III. (1797-1840), rief zum Schmerze des ostelbischen Adels die liberalen Minister, den Rheinländer Stein und den Hannoveraner Hardenberg, und mit ihnen schuf er den bürgerlichen Rechtsstaat. Als aber Hardenberg altersschwach geworden war, gelang es der feudalen Reaktion, nicht bloß die Verfassung zu hindern, sondern auch eine zeitgemäße Reform der Landgemeinde- und Kreisordnung. Sie setzte die ganz feudal-reaktionäre kreis- und provinzialständische Verfassung (1823-28) durch, die das preußische Verfassungsleben für 50 Jahre lahm legte, die politische Bildung des Adels hinderte und nur deshalb erträglich bis 1872-75 blieb, weil das liberale Beamtentum (1823-28) als Gegengewicht gegen die falsche Privilegierung des Adels die weitgehendste Einschränkung der Befugnisse der Kreis- und Provinzialstände durchsetzte. Kreis- und Provinzialstände hatten 1823-72 in der Hauptsache kein Besteuerungsrecht. Der romantisch-feudale Sohn Friedrich Wilhelms III., Friedrich Wilhelm IV., war ganz anderer Art als sein Vater; er war der echte Schüler der romantisch-feudalen Reaktion der Marwitz usw. Und doch konnte er nie den Mut finden, einem seiner romantischen Freunde je die Zügel der Regierung anzuvertrauen; er sah doch bis 1848, daß seine liberalen Beamtenminister, wie Arnim und Bodelschwingh, fähiger seien, den Staat zu regieren. Mit ihnen hat er die ständische Verfassung von 1847 beraten, die im ganzen sein persönlichstes Werk ist, d. h. seinen phantastischen Jugendträumen von 1815 bis 1840 entspricht; die Verfassung wäre viel besser, haltbarer ausgefallen, wenn er dem Rat der Minister gefolgt wäre. Die Revolution von 1848 hat dem König dann eine liberale Verfassung abgerungen, aber innerhalb derselben suchte er nun in jeder Beziehung wieder den Adel zu bevorzugen. Durch eine Art Staatsstreich wurde Mitte des Jahres 1849 das Dreiklassenwahlsystem auf den Rat Hansemanns oktroyiert – als Kopie aus der rheinischen Gemeindeverfassung. Es war immerhin den damaligen Verhältnissen nicht unangemessen; es war eine Brücke von dem feudal-reaktionären absoluten Staate zum halb bürgerlichen, halb aristokratischen Verfassungsstaate. Der leitende Minister Friedrich Wilhelms IV. (vom Dezember 1848-58), Manteuffel, hatte den König dadurch zu Danke verpflichtet, daß er ihm die Krone gerettet hatte. Es war diesem aber jetzt ebenso schwer, wie vorher Arnim und Bodelschwingh, mit dem König auszukommen. Denn Manteuffel war in seinem innersten Herzen mehr zentralistischer Bureaukrat als Feudaler, er kam bald mit der Hofkamarilla, den frommen und feudalen Generalen der Umgebung des Königs und dem extrem-reaktionären Minister des Innern v. Westphal so in Gegensatz, daß es 1852-58 gleichsam zwei Regierungen in Berlin gab. Die Ärgerlichkeit dieser Zustände machte aus dem stockkonservativen Prinzen von Preußen, dem späteren Kaiser Wilhelm, fast einen Liberalen. Die Bevorzugung unfähiger Adliger war 1840-57 so schlimm im Offizierkorps, daß der Feldmarschall Manteuffel mir oft erzählte, wie er 1850-67 als Chef des Militärkabinetts die Armee von ihnen reinigen mußte. Er sagte oft: »Das war meine größte politische Tat; ohne diese Reinigung wären die Siege von 1864, 1866 und 1870 nicht erfolgt; das Offizierkorps war Anfang der fünfziger Jahre viel schlechter als 1806.«
Im Haß gegen die liberale Hardenbergsche Gesetzgebung, im Bann der feudalen Romantik ist auch Bismarck groß geworden. Aber sein Realismus, sein politisches Genie und seine Erfahrungen in Frankfurt, Petersburg und Paris befreiten ihn bald von den feudalen Torheiten seiner Jugend und seiner konservativen Freunde. Nachdem er die kindlich liberale Staatsauffassung, welche Preußens Machtstellung durch Versagung der Militärreform heben wollte, durch seine starke innere und äußere Politik überwunden hatte, nachdem er Preußen drei schöne Provinzen erworben und das Deutsche Reich gegründet hatte, sah er die Notwendigkeit eines Bundes der Krone mit dem Liberalismus ein und regierte 1867-1878 im Geiste der antifeudalen Reform. Durch diese Tat hob er die Monarchie zu einer Höhe, wie sie sie kaum im 18. Jahrhundert gehabt; er schuf damit wieder eine wahrhaft königliche Regierung über den Parteien; er hatte gleichmäßig über die Velleitäten des Liberalismus wie des Feudalismus Herr zu werden gewußt. Ein Teil der Junker, voran die »Kreuzzeitung«, ersparte ihm damals keine noch so empfindliche Schmähung. Erst als die Liberalen für ihre Unterstützung zu hohen Preis forderten, ließ er auch sie wieder fallen und regierte nun wieder (1879 bis 1890) mit Zentrum und Konservativen. Und in dieser Zeit ließ er leider den Minister des Innern, Herrn v. Puttkamer, über die Ernennung der sämtlichen Landräte, Regierungspräsidenten und Oberpräsidenten so schalten, daß das von 1810-1870 überwiegend liberale oder politisch indifferente Beamtentum eine stark feudal-reaktionäre Richtung bekam.
Seine Mißstimmung aus der Jugendzeit gegen liberale Geheimräte und Minister hatte ihn nie ganz verlassen. Er hat stets das tüchtige preußische hohe Beamtentum unterschätzt; er traf im Ministerium neben sich noch zahlreiche bornierte liberale Minister und Geheimräte, die ihn ärgerten. Das war auch eine der Ursachen, daß er die besten Beamten seinerzeit nicht als Ministergehilfen zu gewinnen vermochte. Dabei war sein Wunsch, die übermäßig geschäftige, in alles sich mischende Bureaukratie durch Selbstverwaltung zurückzudrängen, ganz berechtigt. Es bleibt ein Ruhmestitel für ihn, daß er Fritz Eulenburg als Minister des Innern und Gneist die großen Selbstverwaltungsreformen im Kreise und in der Provinz in den siebziger Jahren durchführen ließ, daß er 1872 nicht zögerte, den Widerstand der feudalen Reaktion im Herrenhaus durch einen Pairsschub zu brechen. Aber wie er das doch auch nur zögernd tat, so blieb sein Mißtrauen gegen das ältere Beamtentum stets vorhanden und blieb ein Verhängnis. Dieses Mißtrauen hat ihn dazu verführt, in der Zeit von 1880-1890 eine junkerliche Umbildung der inneren Verwaltung zu gestatten, die nun noch viele Jahre nachwirkte und welche die Hauptschuld bis auf den heutigen Tag daran trägt, daß der Glaube im Lande sich festsetzte, wir hätten in Preußen ein Junkerregiment.
Dieser Glaube war gewiß nicht ganz ohne Grund. Wer die Instruktionen Puttkamers über Annahme von Regierungsreferendaren in der inneren Verwaltung, über die weitere Karriere derselben usw. kennt und unparteiisch urteilt, ist erfüllt von dem Schaden, den sie angerichtet haben. Als der 1890 mit Caprivi eintretende liberale Minister des Innern, Herrfurth, nach zwei Jahren abtrat, sagte er zu Miquel, aus dessen Munde ich es weiß, er habe die feudale Cliquenwirtschaft trotz aller Mühe nicht beseitigen können. Hohenlohe hat als Ministerpräsident gegenüber den renitenten feudalen Landräten und Regierungspräsidenten einmal den Plan erwogen, einige Dutzend Landräte und Präsidenten auf einmal abzusetzen und seinen Sohn zu diesem Zwecke zum Minister des Innern zu machen. Er meinte, er könnte als großer süddeutscher Standesherr den Haß des östlichen Adels wohl ertragen; nach ihm werde nie mehr ein preußischer Ministerpräsident dazu den Mut haben. Er konnte den Plan nicht durchsetzen, dieser verwandelte sich in die Außerdienststellung einiger Beamten, die als Abgeordnete gegen den Kanal gestimmt hatten und dafür nach einigen Jahren eine um so glänzendere Karriere machten. Daß Hohenlohe diesen Plan nicht durchführen konnte, ist wohl doch ein Glück. Selbst Schwerin hat 1858-1859 als Minister des Innern sich einer ähnlichen Massenabsetzung, welche die Liberalen forderten, widersetzt. Wir sehen in Frankreich die schlimmen Folgen des Umstandes, daß jeder Ministerwechsel einer so großen Zahl Präfekten die Stellung kostet. Eine langsame, in der Stille sich vollziehende Veränderung, wie sie Manteuffel im Offizierskorps vornahm, ist vorzuziehen. Unter Umständen freilich ist auch solche Gewaltkur nicht zu vermeiden.
Ich plaudere hier mit dem Erzählten einige weltkundige Geheimnisse aus dem hohen Beamtentum aus, nicht aus Liebe zu sensationellen Nachrichten, sondern nur als Beweis, daß die vorhin erwähnten Klagen nicht ganz unbegründet waren. Ich möchte aber ebenso sehr meine Überzeugung aussprechen, daß es seither viel besser geworden ist. Ich könnte die Personalreferenten aus dem Ministerium des Innern nennen, welche einst die Schuld trugen, aber auch die neueren, die mit jenen Puttkamerschen Grundsätzen ganz gebrochen haben. Und deshalb gehört heute der Vorwurf des preußischen Junkerregiments, der vor allem gegen die Landräte sich richtet, mehr der Vergangenheit als der Gegenwart an.
Freilich haben wir im Osten noch heute viel konservative Landräte und Regierungspräsidenten, und manche mögen dem Bunde der Landwirte näher stehen als der Regierung. Aber dafür überwiegt in den mittleren und Westprovinzen der liberale oder neutrale Charakter. Eine möglichst große Zahl Mitglieder der ländlichen Aristokratie aber in den Staats- und Heeresdienst zu ziehen, ist richtig, ist ein notwendiges politisches Erziehungsmittel für diese Aristokratie. Denn für Dutzende, ja Hunderte gilt, was neulich ein hoher preußischer Beamter sagte: »Wir kommen fast alle konservativ ins Amt, und nach zwei Jahren hat uns die Logik der Tatsachen liberal gemacht.« Die staatswissenschaftliche Bildung der Beamten ist sehr im Wachsen. In der Schule der Selbstverwaltung – im Kreise und in der Provinz – lernen die Beamten die verschiedenen Interessen kennen, lernen abwägend, gerecht darüber zu stehen. In gewissem Sinne hat die neue Provinzial- und Kreisverfassung allerdings die Macht und den Einfluß des Junkertums gesteigert, aber sie hat auch den Erfolg bedeutsamer amtlicher Schulung der Aristokratie gehabt. Und überall in der Selbstverwaltung sieht der Junker kluge liberale Bürgermeister neben sich, mit denen er auskommen, paktieren muß. Mögen heute noch da und dort einseitige Junker im Beamtentum vorkommen – eine Junkerherrschaft haben wir nicht. Männer wie Bethmann, Tirpitz, Delbrück, Dernburg, Sydow, Wermuth sind von jedem Verdacht einseitiger Junkertendenzen frei; Moltke mag konservativ sein, für die Reform der Selbstverwaltung im liberalen Sinne hat er viel Stimmung.
Was uns also not tut, ist Schutz gegen den Rückfall in Puttkamersche Zeiten, und dazu ist gewiß eine modernere Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses erwünscht, eine Verstärkung der liberalen Elemente sowie der Sozialdemokraten. Die Rettung vor den Gefahren der Sozialdemokratie liegt in starker politischer Mitarbeit ihrer Führer. Die teilweise Berechtigung der Demokratisierung unserer Wahlen in Staat und Selbstverwaltung liegt für mich nicht darin, daß ich damit sofort ein höheres Niveau dieser Vertretungskörper kommen sehe, sondern darin, daß man heute auf die Dauer nicht gut anders regieren kann, als durch Erweckung politischer Interessen in den breiten Schichten des Volkes. Mit den Interessen, mit der Teilnahme an der Selbstverwaltung, mit der Erfüllung politischer Pflichten wächst dann auch die politische Urteilsfähigkeit, der politische Sinn, die Staatsgesinnung. Der Schwerpunkt unseres politischen deutschen Lebens liegt heute im Reiche und in den Selbstverwaltungskörpern. Und gerade weil wir im Reiche das allgemeine Stimmrecht haben, halte ich es für gut, wenn es im Staate nicht auch Platz greift. In den Vereinigten Staaten finden sogar die Kongreßwahlen nicht nach gleichem Wahlrecht statt. Der Fanatismus der Gleichmacherei ist überall vom Übel. Gewiß hat es einzelne Schwierigkeiten, wenn im Reiche und im Staate die Regierungen nicht den gleichen Majoritäten gegenüberstehen. Aber diese Schwierigkeiten sind doch nicht allzu groß.
Unser deutscher Osten ist so grundverschieden vom Südwesten, daß es falsch sein muß, ihn nach dem Rezept von Baden, Württemberg und Hessen regieren zu wollen. Wir müssen uns als Bundesstaat darauf beschränken, die Einheitlichkeit für das Notwendige herbeizuführen, sonst aber Verschiedenheit zu dulden.
In West- und Süddeutschland ist keine erhebliche, keine einflußreiche, politisch ins Gewicht fallende Grundaristokratie. Und die Kapitalaristokratie hat noch in keinem Lande der Welt große politische Pflichten übernommen; sie erzeugt nicht leicht große politische Talente. Deshalb haben die süddeutschen Staaten und das westliche Preußen eine viel stärkere und reinere Beamtenherrschaft und Beamtenallmacht als der Osten. Es ist nicht erwünscht, auch im Osten durch Ausschaltung der Grundaristokratie zu ganz gleichen Resultaten zu kommen. Das Ziel einer gesunden Politik kann nicht sein, unsere östlichen Rittergutsbesitzer aus dem Beamtentum, dem Heere, der Selbstverwaltung zu vertreiben, sondern nur, sie politisch auf die Höhe zu heben, daß sie über den engen Horizont ihres Rittergutes und Kreises sich erheben. Und das geschieht heute vielfach. Einer unserer Magnaten sagte mir unlängst: »Vom 18. bis zum 30. Jahre war ich Offizier in Potsdam, dann mußte ich meine Güter übernehmen; ich habe blutwenig gelernt; meine Söhne werden ganz anders gelernt haben.« Und der Mann hat eine große staatswissenschaftliche Bibliothek jetzt noch im Alter gesammelt.
Knapp hat einmal darauf hingewiesen, daß der etwas beschränkte Horizont vieler unserer Junker mit dem großen Vorzug zusammenhängt, daß sie seit Jahrhunderten in harter Arbeit auf der Scholle sitzen geblieben, nicht in der Stadt lebende Rentenbezieher geworden sind, wie der Adel vieler anderer Länder. Darin liegt eine große Wahrheit. Viel körperliche Kraft, starke Energie, bodenständige Gesundheit, unerschütterlicher Patriotismus steckt im größeren Teil dieses Junkertums. Es ist ein unentbehrliches Element Preußens. Wichtiger, als daß man den Junkern rasch Wahlrechte und Wahleinfluß nehme, ist, daß Königtum und gebildetes Beamtentum die Herrschaft über sie behalte. Dazu gehört allerdings auch ein liberaleres Wahlrecht als wir es jetzt in Preußen haben. Die jetzigen Kämpfe werden dazu beitragen, dem fortgeschritteneren Teil des Junkertums die Augen darüber zu öffnen, daß, je länger sie jeder vernünftigen und billigen Reform widerstreben, desto größere Konzessionen sie zuletzt machen müssen. Die Weisheit aller Reformpolitik besteht darin, daß man nicht zu spät kommt. Allerdings auch darin, daß man im rechten Moment kommt. Ob der jetzige Moment ganz der richtige für das Gelingen einer preußischen Wahlrechtsreform war, kann man bezweifeln.
Die vorstehenden Zeilen hatte ich Anfang März für die Osternummer der »Neuen Freien Presse« geschrieben, wo sie (27. März) erschienen sind. Mannigfach aufgefordert, sie der Vergessenheit durch Wiederabdruck im Jahrbuch zu entreißen, tue ich dies hiermit, füge aber einige Worte hinzu. Der im März geschriebene Artikel hatte den Zweck, in einer liberalen Zeitung dem liberalen Publikum die Schwierigkeit der Reform im jetzigen Momente zu zeigen, das nichtpreußische Publikum aufzuklären darüber, daß der Ministerpräsident Bethmann Hollweg zwar im Augenblick keine erhebliche Reform durchsetzen könne (wie das auch nicht seinem Wesen entspräche), wie aber doch auch diese bescheidene Änderung als Anfang einer Besserung Wert haben könne, und wie man ihren innersten Kern nur verstehe auf dem Hintergrunde des jahrhundertelangen Kampfes um die Vorherrschaft zwischen Königtum und Adel in Preußen.
Damals hatte die erste Lesung im Abgeordnetenhause stattgefunden, die zweite stand vor der Tür, aber man übersah noch nicht die ganze Tragik, die sich an das weitere Schicksal der Vorlage knüpfen werde. Seither hat sich ihr Kreislauf vollendet. Durch ein Handelsgeschäft der Konservativen mit dem Zentrum war die Vorlage ganz wesentlich verschlechtert ins Herrenhaus gekommen. In ihm fand sich der linke Flügel der Konservativen und der rechte der neuen (liberalen) Fraktion zu einer gewiß anfechtbaren Korrektur zusammen, von der man aber hoffte, sie werde es den Freikonservativen und Nationalliberalen im Abgeordnetenhause ermöglichen, dem so geänderten Entwurfe zuzustimmen. Ich hatte wegen Krankheit an den ersten Debatten im Herrenhaus nicht teilnehmen können, stimmte zuletzt schweren Herzens dem so durch den Antrag Schorlemers abgeänderten, an das Abgeordnetenhaus zurückgehenden Entwurf zu, um wenigstens einen kleinen Schritt vorwärts nicht zu hindern. Hier ist die Fassung des Herrenhauses in einem Hexensabbat von neuen Anträgen und gegenseitigen Vorwürfen begraben worden. Aber umsonst ist der Kampf nicht gewesen. Und eben weil der Streit über kurz oder lang wieder beginnen wird, möchte ich zu der Regierungsvorlage und der Stellung der Parteien zu ihr noch einige Worte der Erläuterung für weitere Kreise hinzufügen.
Ich beginne mit ein paar Sätzen über die Notwendigkeit der preußischen Wahlrechtsreform. Die Schwäche des Regierungsstandpunktes lag mit darin, daß Zweifel entstehen konnten, ob die Krone und die Minister die Vorlage gemacht hatten, bloß um ein formales Versprechen einzulösen, das unter anderen Voraussetzungen gemacht worden war. Die Konservativen lieben es jetzt, Fürst Bülow als den Schuldigen darzustellen, der seinen Block befestigen wollte, daher leichtsinnig ein Versprechen der Krone veranlaßt habe. Die »Kreuzzeitung« schreibt: »Die Liquidation ist beendet, die neue Firma muß zeigen, was sie will.« Das soll heißen: eine neue Regierung ist an das Wort der alten nicht mehr gebunden. Das ist ein Satz, den ein Theoretiker der parlamentarischen Regierungsweise schreiben durfte, aber nicht ein Verteidiger des Königtums. Die »Kreuzzeitung« verriet mit diesen Worten, daß ihr nicht sowohl die königliche Regierung, als der Einfluß der Konservativen am Herzen liegt.
In Wirklichkeit hat freilich Bethmann Hollweg noch vor wenigen Jahren jede Reformbedürftigkeit des preußischen Wahlrechts geleugnet, und seine Einführungsrede klang fast ebenso sehr wie eine Verteidigung des bestehenden als wie eine Betonung der Notwendigkeit der Änderung. Und doch ist sicher ein so ernster gewissenhafter Staatsmann wie er, heute von dieser überzeugt und wird den Versuch wiederholen. Warum? Weil Preußen als Staat mit dem reaktionärsten Wahlrecht Europas auf die Dauer die größte politische Gefahr läuft, mit dem Wahlrecht, wobei nur 32,8 % der Wähler zur Wahlurne zu bringen sind.
Jede Verfassung braucht die Zustimmung, die innere Teilnahme der großen Majorität des Volkes; kein Recht der Krone, der Regierung ist auf die Dauer haltbar, wenn nicht der größere Teil der Bürger innerlich, mit Herz und Geist auf ihrer Seite ist. Über Augenblicksbewegungen kann jede starke und kluge Regierung Herr werden; keine kann dauernd der Zustimmung, des Beifalls der großen Majorität der Regierten entbehren. Die demokratische Strömung unserer Zeit mag zu einem erheblichen Teil übers Ziel schießen; sie ist eine Macht, der man gewisse Konzessionen machen muß, weil sie einen sehr berechtigten Kern hat. Das Dreiklassenwahlrecht setzt 82,3 % der Wähler in die dritte Klasse und erklärt sie so für eine quantité négligeable. Die politische Bildung bleibt damit zurück; ein Teil der Bürger verfällt in politischen Stumpfsinn, ein anderer hält sich für verletzt, wird extremen Parteien zugetrieben. Das preußische Klassenwahlrecht steht nicht so sehr weit von dem französischen Wahlrecht ab, das 1830 und 1848 zur Revolution führte, und ebensowenig vom englischen, das 1832, 1867 erst zu den großen Wahlreformen führte. Wer diese großen historisch-politischen Tatsachen verkennt, ist blind; wer an verantwortlicher Stelle verkündet, das heutige preußische Wahlrecht sei vollendet gut, macht sich mitverantwortlich für künftige große Katastrophen. Wer sagt, es habe 1849-1900 gut gewirkt, es habe ebensogut fortschrittliche als konservative oder mittelparteiliche Majoritäten geliefert, behauptet nur einen Teil der Wahrheit, aber nicht die ganze; er behauptet einen Vorzug, der wohl in der Vergangenheit bestand, heute unter ganz veränderten Verhältnissen nicht mehr besteht. Auch wer die Einführung des Reichstagswahlrechts für Preußen bekämpft, wie ich, muß, wenn er über historische Bildung verfügt, eine maßvolle Reform des Dreiklassensystems wünschen.
Auf diesen Standpunkt hat sich die preußische Regierung gestellt, und man muß Bülow wie Bethmann danken, daß sie so viel Weitblick und Mut hatten. Daß zunächst beide Häuser des Landtags große Schwierigkeiten machen würden, war klar. Deshalb konnte man nur mit bescheidenen Vorschlägen kommen; man durfte nicht gleich den ganzen Hochdruck, über den eine Regierung nur im äußersten Fall verfügen kann, anwenden. Was beschloß das Staatsministerium?
Die Regierung hatte vor ganz kurzer Zeit die Zahl der Wahlkreise um zehn vermehrt, um die schlimmsten Fehler der bestehenden Wahlkreiseinteilung zu beseitigen. Diese Frage, so sehr sie weiterer Änderung bedarf, jetzt mit anzufassen, wäre unpolitisch gewesen, hätte die ganze Aktion unendlich erschwert, noch vielmehr die Leidenschaften heraufbeschworen. Sie muß auch angefaßt werden, aber getrennt von dem Wahlgesetz.
Im übrigen wollte sie organisch verfahren, d. h. möglichst am bestehenden System, d. h. an der Basierung des Wahlrechts auf die Steuerzahlung der Wähler, an der gleichen Verteilung der Wahlrechte an drei Klassen, deren jede gleichviel Steuern zahlt, festhalten: es ist das System, das den Hauptsteuerzahlern, denen der ersten Klasse, ein 20-100- und mehrfaches, den Wählern der mittleren Abteilung wenigstens ein doppeltes bis fünffaches Wahlrecht, wie denen der dritten Abteilung gibt. Das System tritt da in seiner Eigenart am deutlichsten hervor, wo in der ersten Abteilung nur ein bis zwei, in der zweiten nur 10-20, in der dritten Abteilung 80-150 Wähler sind. Im Osten erscheint es noch heute als das natürliche – einige sagen das gottgewollte – System, daß der Gutsherr allein so viel Einfluß habe wie seine sämtlichen Bauern in der zweiten, seine Tagelöhner in der dritten Abteilung. Den Verteidigern dieses Zustandes erscheint schon das Einrücken des Pfarrers oder einiger Großbauern in die erste, einiger Tagelöhner in die zweite Abteilung als falsch, ungerecht. Die konservativ-feudalen Verteidiger des Systems haben sich die Theorie zurecht gemacht: es garantiere eine gesunde Mittelstandspolitik; denn die zweite Abteilung, in der der Mittelstand stimme (in der Stadt die Leute mit etwa 3000 Mk. Einkommen, auf dem Lande die mit etwa 1400 Mk.), gebe entweder durch Zutritt nach oben oder nach unten den Ausschlag. Diese Argumentation wäre doch nur richtig, wenn alle Wahlberechtigten gleichmäßig zur Wahl kämen; es pflegen aber meist in der dritten Abteilung nur wenige, in der zweiten ein Teil, in der ersten fast alle abzustimmen; so gibt überwiegend die erste und nicht die zweite Abteilung den Ausschlag. Es bestehen jetzt 4115 Bezirke mit ein bis zwei Wählern erster Klasse.
Als beabsichtigte Milderung dieses Systems hatte die Regierung zwei wichtige Änderungen vorgeschlagen: 1. die Maximierung, d. h. die Nichtanrechnung der Steuern über 5000 Mk., und 2. die Versetzung einer Anzahl Steuerzahler von der dritten in die zweite, und von der zweiten in die erste Abteilung auf Grund bestimmter Eigenschaften der Bildung, der Erfahrung, der Betätigung im öffentlichen Leben. Damit sollte die erste und zweite Wählerabteilung eine wesentlich reichere und weniger einseitige Besetzung erhalten. Nach der Statistik handelte es sich bei der Maximierung um 13 000 reiche hierdurch betroffene Wähler, die hauptsächlich in einer Anzahl städtischer Wahlkreise durch diese Schranke etwas eingeschränkt, andern Wählern einen etwas größeren Wahleinfluß geben sollten.
Außerdem hatte die Regierung die Beseitigung der indirekten Wahl vorgeschlagen: das Gesetz von 1849 halte entsprechend den damaligen Bildungs- und Verkehrsverhältnissen die Urwähler an ihrem Wohnort Wahlmänner wählen zu lassen verordnet, die dann gemeinsam in freier Weise, als Vertrauensmänner der Wählerschaft, sich über einen Abgeordneten einigen sollten. Ich habe seit 1864 viele preußische Wahlen als Urwähler und Wahlmann mitgemacht: die Wahlmänner sind heute Puppen in der Hand der politischen Parteien, die bei ihrer Wahl auf einen von der Partei bestimmten Kandidaten verpflichtet werden. Die Einrichtung hat nun die Folge, bei den Urwählern das Interesse zu mindern; am künftigen Abgeordneten hat jeder ein Interesse, am gewählten Wahlmann fast niemand: also geht man nicht zur Wahl. Mit Recht betonte Minister von Moltke, eine wesentliche Belebung des politischen Interesses und eine ganz andere Sicherung der Fühlung zwischen dem Volke und der Volksvertretung werde eintreten. Die konservativen Gegner dieser Bestimmung wollen teils diese Belebung nicht, teils gehören sie Gegenden und Verkehrsverhältnissen an, wo heute noch die Zustände nicht viel anders sind als 1849, wo deshalb das Zwischenglied zwischen Urwähler und Abgeordnetem vielfach noch angezeigt ist. Daß mit der Beseitigung der indirekten, der Einführung der direkten Wahl die politische Agitation zunimmt, ist richtig. Das fürchtet man bis in die mittleren Parteien hinein. Man übersieht nur, daß ohne Agitation auch das politische Interesse und Verständnis nicht wachsen kann. Als ich mit dem Präsident Hadley von der amerikanischen Yale-Universität einmal die Schattenseiten der dortigen Demokratie besprach und er die großen Mißstände der beispiellos erregten Präsidentenwahl zugab, fügte er bei: »Und doch ist diese Aufrüttelung in einem freien Lande nötig. Nur diese Agitation bringt ins ganze Volk bis in die untersten Klassen Interesse und Verständnis für die Verfassung, für die großen Fragen des Landes. Es ist unglaublich, was die Leute dabei lernen.«
Hatte die Regierung bei dem Zugeständnis der direkten Wahl so ein großes zeitgemäßes Entgegenkommen gezeigt, so lehnte dagegen der Entwurf die wichtigste Forderung des Liberalismus und des Zentrums, die geheime Wahl, ab und blieb bei der öffentlichen Stimmabgabe, um nur nicht zu weit vom bestehenden Recht sich zu entfernen, um jedenfalls die Konservativen zu befriedigen, auf die die Regierung mit ihrem Entwurf am sichersten rechnete. In der Forderung der öffentlichen Stimmabgabe liegt sicher ein gewisser vornehmer Idealismus: wer Wahlrechte ausübt, soll auch den Mut seiner Überzeugung haben. Anderseits ist im tiefsten Kämmerlein der Anhänger der öffentlichen Wahl natürlich die Hoffnung lebendig, und sie gibt den Ausschlag, daß die aristokratischen herrschenden Kreise so besser die Führung behalten. Die »gottgewollten« Abhängigkeiten sollen wirken, nicht durch das künstliche Mittel der geheimen Wahl beseitigt werden. Und doch hat die neuere Gesetzgebung geheime Wahlen für die Landgemeinden, die Kreistage, die Provinziallandtage auch in Preußen angeordnet. Der Idealismus, der öffentliche Wahl fordert, ist gänzlich unrealistisch; er überschätzt die Möglichkeit mannhafter freier Stimmabgabe, er unterschätzt den unheilvollen Terror der Partei- und Arbeiterführer, der wählenden Kunden auf die Geschäftsleute, der Arbeitgeber auf ihre Leute usw. Die heutigen psychologischen und sozialen Verhältnisse fordern die geheime Wahl, garantieren mit der geheimen Wahl nicht bloß freie Entschließungen, sondern auch vernünftigere. Die englischen Gewerkvereine haben, seit sie über alle wichtigen Fragen jedes Mitglied schriftlich, also geheim, zu Hause abstimmen lassen, eine gute und vernünftige Leitung bekommen, während die frühere öffentliche Abstimmung in der Versammlung unter dem Druck der Demagogen überwiegend unheilvolle Beschlüsse zeitigte.
Auf alle übrigen Punkte der Vorlage, die in zweiter Linie stehen, muß ich mir – der Kürze wegen – versagen, einzugehen.
Man wird von jedem eigentlichen Parteistandpunkt aus an der Regierungsvorlage manches auszusetzen finden; man wird leicht tadeln können, daß die Regierung nicht durch stärkere Bearbeitung und Beeinflussung der Parteiführer ihrem Plane eine halbwegs günstige Aufnahme sicherte. Das wird der objektiv Urteilende aber jedenfalls sagen müssen: gegenüber den Reden, Plänen und Verabredungen hauptsächlich der beiden führenden Parteien und ihrer Führer steht die Regierungsvorlage als ein durchdachtes, nach gerechter Ausgleichung und besonnenem Fortschritt strebendes Werk musterhaft da. Überall spürt man durch die Reden der Abgeordneten und Parteiführer, daß in erster Linie die Berechnung der zu gewinnenden und zu verlierenden Sitze steht, daß die Vorlage nicht genügend im großen historischen Zusammenhang unserer Entwicklung beurteilt wird. Auch die Vorzüge der Vorlage werden nur zerpflückt. Der glückliche Gedanke, daß, wenn man die Steuerzahlung als Grundlage belasse, nur dadurch ein billiges Gegengewicht zu schaffen sei, daß man Bildung und politische Erfahrung als ebenbürtig mit dem Geldbeutel zulasse, wird fast von allen Seiten verständnislos angegriffen, als neues Privilegium, als Steigerung des Beamteneinflusses verhöhnt und lächerlich gemacht. Ein gut Teil der Debatten und der Anträge ist bemüht, die vernünftigen Reformgedanken der Vorlage, wie die Maximierung, nicht offen anzugreifen, aber durch kleinliche Änderungen zugunsten der besitzenden Klassen etwas einzuschränken; der spätere Verfassungshistoriker wird diese Versuche des Abhandelns nicht als Zeichen einer großzügigen und gerechten Beurteilung preisen können. Und das Ungeheuerliche tritt in die Erscheinung: die Konservativen wollen eigentlich überhaupt keine Änderung, die Zentrumsleute wollen das allgemeine gleiche Wahlrecht des Reichstags; aber die beiden fallen sich gerührt in die Arme; sie vereinigen sich über indirekte Wahl, geheime Wahl der Wahlmänner, öffentliche der Abgeordneten, Verstümmelung der Maximierung. Und dann sind die Konservativen über sich selbst gerührt, daß sie angeblich ein großes Opfer gebracht, ein Stückchen geheimen Wahlrechts konzediert hätten, das Zentrum, daß es, auf alle seine Ideale verzichtend, die indirekte Wahl annehme für das in Wirklichkeit gleichgültige halbe Stückchen geheimen Wahlrechts. Beide Parteien freuen sich, dem Ministerium ein Schnippchen zu schlagen, seine Vorlage ins volle Gegenteil zu verkehren. Beide Parteien sind im innersten Herzen froh, daß so das letzte Resultat ihres klüglich ausgesonnenen Kompromisses das sein werde, dem Zentrum im katholischen Westen, den Konservativen im Osten ihre politische Herrschaft zu erhalten. Über den Ministerpräsidenten und den Minister des Innern geht man ebenso wie über die Mittelparteien zur Tagesordnung über. Sie haben zu gehorchen; sie sollen sehen, wer die Macht hat.
Aber die Rechnung war ohne den Wirt gemacht. Herr von Bethmann Hollweg unterschrieb den Schein nicht, auf den Herr von Heydebrand und Herr Herold die wenigen Worte geschrieben hatten: Laudabiliter se subjecit. Er erklärte den unfreundlichen Machenschaften der beiden herrschenden Parteien gegenüber nicht schon im Abgeordnetenhause, ihre Projekte seien unannehmbar, weil er die Vorlage nicht bereits in diesem Stadium begraben wollte, weil er noch die Hoffnung hatte, im Herrenhaus eine wesentliche Korrektur herbeizuführen, eine solche, der die beiden Mittelparteien, die Freikonservativen und die Nationalliberalen, zustimmen könnten. Mit ihrer Zustimmung glaubte er am Ende doch den verstümmelten Plänen das Placet der Regierung aufdrücken zu können.
Bei der Zusammensetzung des Herrenhauses war natürlich auch hier keine große Stimmung für eine Wahlrechtsreform. Aber einmal ist dort das Zentrum als Partei nicht vorhanden; und dann ist ein erheblicher Teil der Rechten (die Standesherren, die früheren Minister und hohen Beamten, der modernere Teil des Adels) realpolitischer und einer Verständigung mit der Regierung immer geneigter als die Konservativen des Abgeordnetenhauses. Sehr häufig gelingt es hier klugen Realpolitikern, den rechten Flügel der Liberalen und den linken der Konservativen zu gemeinsamem Beschluß zu einigen. Das war auch jetzt der Fall. Freilich um den Preis, daß man in der Hauptsache die Beschlüsse des Abgeordnetenhauses akzeptierte und nur für die Städte, die großen Wahlbezirke, im Amendement Schorlemer die Bildung etwas größerer Urwahlbezirke in Aussicht nahm, was die Besetzung der ersten und zweiten Abteilung etwas reichlicher machte, auch von den rheinischen Großindustriellen gewünscht wurde; eine Maßregel mit zweifelhaftem Erfolge; sie konnte da und dort den plutokratischen Charakter des Wahlrechts steigern, statt ihn zu mindern.
Die Hoffnung, daß die beiden herrschenden Parteien derartiges im Abgeordnetenhaus annähmen, war irrig. Der Ministerpräsident zog am 28. Mai die Vorlage zurück.
Scheinbar bleiben die Konservativen und das Zentrum Sieger. Aber nur scheinbar. Die Konservativen täuschen sich darin, daß Herr von Bethmann Hollweg nun auf eine Wahlreform verzichten werde, sich zum negotiorum gestor der Konservativen hergeben werde. Das wäre ein moralisch-politischer Selbstmord des Ministerpräsidenten; dazu ist er viel zu klug, zu vornehm und zu weitsichtig. Er muß mit einer neuen Vorlage kommen; und sie wird wahrscheinlich weiter gehen als die jetzige. Wenn Herr von Bethmann freilich nicht mit dem entschlossenen Mut an die Aufgabe herantritt, eventuell auch gegen die Konservativen (wie einst Bismarck) zu handeln, so überläßt er besser die Aufgabe einem neuen Ministerpräsidenten.
Die Zentrumsleute haben auch nicht große Ursache, ihres Sieges froh zu sein; sie wollten sich den Konservativen verpflichten, aber sie mußten dazu ihre Prinzipien verleugnen; sie haben den Scheinerfolg, daß bei der Wahlmännerwahl geheim, durch verdeckte Stimmzettel abgestimmt werden sollte, erreicht; aber die Wahl der Abgeordneten durch die Wahlmänner sollte doch öffentlich bleiben: § 25. »Die Stimmen der Wahlmänner werden zu Protokoll abgegeben.« Das Zentrum bleibt mit den Konservativen vor ganz Deutschland dafür verantwortlich, daß sie beide den großen Fortschritt der Vorlage, die direkte Wahl des Abgeordneten durch die Wähler, zu Fall gebracht haben. Das Zentrum kann ja seinen populär-demokratischen Anhängern viel bieten; so hat es, trotz aller Wünsche ihres populären Teils, gegen die Erbschaftssteuer gestimmt, um Bülow zu stürzen. Aber solche Zumutungen haben eine Grenze.
Konservative und Zentrum haben manches gemein; aber sie sind anderseits durch vieles auch weit getrennt. In den Wahlrechtsfragen steht zuletzt das Zentrum den Liberalen und Demokraten näher als den Konservativen und Feudalen. Und der Masse des deutschen Volkes wird eine Herrschaft der Konservativen über Königtum, Beamtentum, Parlament und Volk nicht schmackhafter durch eine Versicherungsgesellschaft zu gegenseitigem Vorteil, die unter der Firma Heydebrand und Herold im Handelsregister eingetragen wird, wie Schiffer scherzend diese Gemeinschaft nannte.
Der erste Teil meiner Ausführungen hat gezeigt, daß ich den politisch-sozialen Wert unserer preußischen Grundaristokratie wohl zu schätzen weiß. Ich will sie durch keine ultrademokratische Wahlreform ausschalten, ich beklagte es tief, wenn sie aus Heer und Beamtentum verschwände. Aber eine vernünftige Wahlreform wird auch nicht dieses Ergebnis haben, so wenig als die von ihnen einst gefürchtete und vielfach bekämpfte liberale Kreisordnung von 1872. Eine Reform des Wahlrechts wird unseren Adel in seinen besseren Elementen nur nötigen, noch mehr als bisher durch persönliche Eigenschaften sich die Führerstellungen zu verdienen, die er jetzt als selbstverständliches Privileg und Herrenrecht glaubt fordern und einnehmen zu dürfen. Die Reform wird, wenn sie gelingt, zu seinem eigenen Segen ausschlagen. In dem Maße, als der preußische Adel lernt, daß es nicht mehr gelingen kann, wie bis 1660, wie 1823-1858 das Königtum zu beherrschen, sondern ihm und den Gesamtinteressen zu dienen, wird er den größten Beruf einer großen Aristokratie erfüllen.
Aber immerhin, der Weg bis dahin kann und wird ein schwieriger sein. Er geht an Abgründen und Gefahren vorbei. Nicht ohne Sorge sieht der Patriot in die Zukunft. Die Wahlrechtsreform aber muß kommen. Wenn die Monarchie mit einem gebildet-gemäßigten, über den Parteien und Klassen stehenden Beamtenministerium sie nicht durchführt, so wird die demokratische Flut sie in die Hand bekommen. Nur diese beiden Möglichkeiten stehen zur Wahl. Tertium non datur. Das alte Wort, das auch Lassalle der Reaktion entgegenschleuderte, kommt einem unwillkürlich in Erinnerung:
Flectere si nequo superos, Acheronta movebo.