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Graf Posadowsky als Sozialpolitiker.

Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. 33. Band, 3. Heft, S. 1241-1245. (1909.)

Bei der Unhandlichkeit unserer offiziellen gedruckten Parlamentspapiere hat sich seit langem die Notwendigkeit herausgestellt, die Reden unserer erheblichen Staatsmänner gesondert, mit kurzen Anmerkungen versehen, herauszugeben. Und es ist ein gutes Zeichen unseres erwachenden politischen Interesses, wenn Derartiges von unseren großen Verlagsbuchhandlungen ausgeht. Und ebenso ist es natürlich, daß dann der Sammler, resp. der wissenschaftliche Herausgeber, nicht bloß die Parlamentsreden, sondern auch die auf Synoden, Handelstagen usw. gehaltenen Reden hinzufügt. Dieser Aufgabe hat sich Johannes Penzler Graf Posadowsky als Finanz-, Sozial- und Handelspolitiker. 1907 und 1908. in trefflicher Weise unterzogen. Es liegen bis jetzt die ersten zwei Bände vor, die von 1882-1902 reichen. Ihre Anzeige würden wir verschoben haben, bis das ganze Werk vorliegt, wenn nicht die Arbeit von Prof. Wiese Graf Posadowsky als Sozialpolitiker. Köln 1909. uns heute veranlaßte, der vorzüglichen Publikation schon heute zu gedenken. Der Gegenstand des Penzlerschen Werkes ist viel umfangreicher, er umfaßt auch die Finanz- und Handelspolitik; Wiese behandelt nur die Sozialpolitik. Vielleicht ist später Gelegenheit, auf die beiden erstgenannten Gebiete der Posadowskyschen Tätigkeit näher einzugehen.

Die Veranlassung zu Wieses Buch über Posadowskys Sozialpolitik gaben die deutschen organisierten, nicht sozialdemokratischen Arbeiter, welche nach dem Rücktritt des Grafen von seinem Amte eine populäre Darlegung seines Lebens und Wirkens, vor allem als Sozialpolitiker, wünschten. Dieser Aufgabe ist L. v. Wiese in zweckentsprechender Weise gerecht geworden. Die heranwachsende Generation wird den Staatssekretär, der 1897-1907 die deutsche Sozialpolitik leitete, in dem wahrheitsgetreuen Bilde kennen lernen, das dieses Büchlein zeichnet. Und wir älteren Sozialpolitiker, die seit 1872 auf der Schanze standen und sie verteidigten, auf welche Graf Posadowsky von 1899 und 1900 an trat und ihr bester amtlicher Verteidiger wurde, werden zugestehen, daß es wenige erfreulichere Bilder aus dem preußisch-deutschen Beamtenleben gibt, sowie daß es mit sachkundiger Hand und mit gerechter Objektivität gezeichnet ist.

Nach einem kurzen Rückblick auf die Bismarcksche und die Berlepsch-Böttichersche Ära der deutschen Sozialpolitik, wobei die letztere nach meiner Empfindung vielleicht ein klein wenig zu schlecht wegkommt, wird die Zeit des Sieges von Stumm und Genossen (1895-1899) geschildert (Kap. I), und nun die Biographie von Posadowsky bis 1897 erzählt (Kap. II). Wir lernen den streng konservativen und positiv christlichen Landrat mit seiner Rechtlichkeit und Pflichttreue, mit seinem Fleiß und seiner Sachlichkeit kennen; wir sehen ihn in die parlamentarische Tätigkeit und in die wichtige Stellung als Landeshauptmann von Posen eintreten, wir sehen ihn endlich bei Abgang Herrn von Maltzahns in das wichtige Amt des Reichsschatzsekretärs eintreten; der Kaiser, der ihn persönlich kannte und schätzte, zog ihn den vorgeschlagenen Herren v. Huene, Schraut, Aschenborn vor. Wie die meisten Preußischen Minister, brachte Posadowsky in dieses und in das noch bedeutsamere Amt des Staatssekretärs des Innern nicht eine spezielle Fachvorbereitung mit, sondern in erster Linie die reifen praktischen Erfahrungen der durchlaufenen Amtskarriere.

Damit hängt es nun auch zusammen, daß Posadowsky eine so große Wandlung in volkswirtschaftlichen und sozialen Fragen während seiner Ministertätigkeit durchmachte. Er war teils scheinbar, teils wirklich als der starke ostelbisch-agrarische Mann ins Amt gekommen, der nach der damals vorherrschend konservativ-agrarischen Meinung der Reichstagsmajorität die Sozialdemokratie zertreten, der Landwirtschaft helfen sollte; er wurde von Stumm und Genossen mit Beifall begrüßt. Und er schied als offenkundiger Gegner dieser Richtung, als Gönner der christlich-organisierten Arbeiter aus dem Amte, dessen Gerechtigkeit auch die Sozialdemokraten anerkannten, geschmäht von denselben Agrariern, Industriellen und Konservativen, die ihm einst Hosianna zugerufen hatten. Die Erklärung dieses Umschwungs bildet den eigentlichen Kern des Wieseschen Buches. Wiese sucht vor allem eine psychologische Erklärung zu geben. Er weist nach, wie der tiefe, sittlich religiöse Ernst, die starke Staatsgesinnung Posadowsky stets von denjenigen trennte, die ihn 1897-1900 fälschlich als den ihrigen ansahen, die ihn 1904-1907 mehr und mehr haßten und angriffen. Das ist gewiß richtig. Aber ich möchte hinzufügen, daß andere Momente mitspielten. Bis zur Übernahme des Reichskanzleramtes durch Bülow waren die leitenden Männer im Staatsministerium und im Bundesrat wirklich für die törichte Zuchthausvorlage gewesen; man war von einer neuen Ausnahmegesetzgebung gegen die Sozialdemokratie nicht weit entfernt. Bülows weiter Blick, der die anderen entwickelteren europäischen Staaten besser kannte, für die sozialen Möglichkeiten ein richtigeres Augenmaß hatte, erkannte sofort, welch ungeheurer Fehlgriff mit der Vorlage geschehen war: in einem Augenblick, da man sehr große Mittel für die Flotte wollte, hatte man dem ganzen Liberalismus und der Arbeiterschaft ins Gesicht geschlagen. Er stellte das Fallenlassen dieser Vorlage als Bedingung seines Eintritts in das Amt. Er hat von da an, während seiner ganzen Amtstätigkeit, mit Posadowsky, wie nach dessen Abgang, an einer arbeiterfreundlichen Politik festgehalten, sich stets dem Wunsche nach Ausnahmegesetzen gegen die Sozialdemokratie versagt.

Mag das nun mit dem Umschwung in Posadowskys Urteil zusammengefallen sein oder diesen befördert haben, den letzten Grund für denselben sehe ich neben den großen persönlichen Eigenschaften des Staatssekretärs in seiner Beamtenlaufbahn, in dem geistig-sittlichen Horizonte, den bedeutende Beamte in großen verantwortlichen Stellungen haben resp. erwerben; in der Beamtentätigkeit an hoher Stelle muß der Betreffende immer Neues lernen, sich selbst korrigieren, während Parlamentarier und Parteimänner, wenigstens die auf gewisse Interessen eingeschworenen und von ihnen abhängigen, nur selten und viel weniger diese Bildsamkeit haben. Das gilt vor allem für die Parteimänner, die dem praktischen Geschäftsleben entstammen, wie zum Beispiel Stumm. Sie haben natürlich andere erhebliche Vorzüge vor dem Beamten voraus; sie kennen bestimmte Teile des praktischen Lebens besser als jeder Beamte, aber dafür oftmals das übrige praktische Leben um so weniger; sie halten zu leicht und zu oft ihre speziellen wirtschaftlichen Interessen für die Staatsinteressen, haben viel seltener die Fähigkeit gerechter Erfassung der ihnen gegenüberstehenden Klassen- und Wirtschaftsinteressen, sowie der neutralen Gesamtinteressen. Sie mögen als Individuen so patriotisch fühlen, so uneigennützig denken, so edle Familienväter, so gute Gemeinde- und Kreismitglieder, so opferbereite Reserveoffiziere usw. sein. Für die Regierungsgeschäfte fehlt ihnen doch oft der weite Horizont und diejenige höhere Lebenserfahrung, die mit der Geschäftskenntnis der ganzen Staaten- und Sozialwelt sich verknüpft.

Daß deshalb jederzeit bisherige Beamte zu Ministerstellen besser passen als Geschäftsleute mit parlamentarischer Erfahrung, will ich nicht damit behaupten. Unter den preußischen Finanz- und Handelsministern von 1835-1890 waren viele ungenügende ältere Beamte, die besser Oberpräsidenten geblieben wären, während der Geschäftsmann von der Heydt sehr Großes leistete. Wer als Beamter zu alt in gehorchenden Stellungen wird, verliert die Fähigkeit, umzulernen und in größerem Stil zu handeln. Bismarck ist der große Staatsmann geworden, obwohl er in seiner Jugend mehr als Rittergutsbesitzer wie als Beamter sich fühlte; aber er hat doch auch nur durch seine Beamtenlaufbahn (1850-1862) die junkerlichen Vorurteile und Marotten abgestreift, die er früher hatte; er hat sich von dem politischen Credo seiner konservativen Parteifreunde damals gründlich befreit. Und welcher politisch und historisch Gebildete sieht heute nicht ein, daß er mit seinen älteren feudal-konservativen Anschauungen Preußen 1862-1870 nicht zu seiner Höhe geführt hätte.

Und einen ähnlichen Wandel auf Grund ähnlicher Ursachen sehe ich bei Posadowsky. Was Bismarck in Frankfurt, St. Petersburg und Paris an schiefen romantischen Vorurteilen wie die Gerlachs und an engen ostelbischen feudalen Anschauungen wie die Stahls abstreifte, das gelang Posadowsky durch seine ersten Ministerjahre in Berlin: er lernte die Industrie, die Arbeiterwelt, die großen sozialen Umbildungen der Neuzeit überhaupt jetzt erst kennen und verstehen; und da er ein großzügiger Mann war, da ihn Parteibande als Beamtenminister nicht einschränkten, so stieg er vom ostelbischen Agrarier in die reine höhere Luft der Staats- und Gesamtinteressen empor. So wurde er in der Tat ein Minister großen Stils in den wirtschaftlichen und sozialen Fragen der Gegenwart. Seine Größe zeigt sich gerade in seiner Umbildung, in der Tatsache, daß er aus einem Minister gegen die Sozialpolitik ein solcher für dieselbe, aus einem von Herrn Bueck begönnerten Minister ein Gegner des Zentralverbandes der Großindustriellen wurde.

Die einzelnen Phasen seiner Tätigkeit als Staatssekretär des Reichsamtes des Innern hier nun an der Hand von Wieses Buch in allem Detail zu verfolgen, kann nicht unsere Aufgabe sein. Es handelt sich um das III. und IV. Kapitel desselben. Das erstere (III.) reicht bis 1900, das zweite (IV.) von da bis 1907; im ersteren tritt er noch mehr im Sinne der Konservativen auf, im letzteren verfolgt er eine fortschreitende Sozialpolitik. Im Mittelpunkt des ersteren steht die Reform der Invalidenversicherung; es schließt mit dem Scheitern der Zuchthausvorlage. Im letzteren spielen der beginnende Kinder-, Frauen- und Heimarbeiterschutz, die Entwürfe zu den Gesetzen über Arbeitskammern und Berufsvereine die vorherrschende Rolle. Die Darstellung stützt sich auf die fortlaufenden Berichte der Sozialen Praxis und die Reichstagsverhandlungen. Die eindrucksvollsten Reden Posadowskys sind in ihren Hauptstellen wörtlich angeführt; und mit Recht; sie geben das beste Bild der Persönlichkeit: wir bemerken stets die gleichen Züge: vollendete Beherrschung eines riesengroßen Materials, geschickte Gruppierung desselben, objektive, gerechte Abwägung aller mitwirkenden politischen, volkswirtschaftlichen und sozialen Elemente und Ursachen, und das Ganze durchleuchtet von dem Geiste idealer, sittlicher Wärme, von dem Glauben an einen Fortschritt des Guten. Die Versenkung in das große Verwaltungsdetail zeigt stets zugleich alle möglichen und wahrscheinlichen Schwierigkeiten; man glaubt oft, daß die Gewissenhaftigkeit des verantwortungsreichen Beamten die Entschlußkraft des Staatsmannes etwas hemme; man vermißt ab und zu den Optimismus, ohne den große Entschlüsse nicht oder nur schwer gelingen. Aber im ganzen gehören diese Reden zu den bedeutendsten und wirkungsvollsten, die in deutschen Parlamenten im letzten Jahrhundert gehalten wurden.

Es ist natürlich, daß das Büchlein von Wiese weder näher auf die anderweite amtliche Tätigkeit Posadowskys (zum Beispiel auf seinen Einfluß auf unsere neueste Handelspolitik), noch überhaupt auf sein Verhältnis zum Reichskanzler, zum Kaiser, zu den einzelnen politischen Parteien, – auch nicht auf die Ursachen seines Abganges eingeht. All das gehörte nicht zum Zwecke, dem die Schrift dient, und vieles, ja das Wichtigste aus diesen Gebieten ist heute auch noch nicht so offenkundig, daß man Abschließendes darüber sagen könnte.

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