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Neue Freie Presse (Wien) Nr. 17 827 vom 12. April 1914.
So fragte in den letzten Wochen jedermann; die verschiedensten Antworten schwirrten durch die Luft. Etwas Bestimmtes wußte niemand zu sagen.
Daß Rußland an seiner westlichen Grenze gewaltig rüstet, ist weltkundig; daß gewisse russische Elemente Galizien in russischem Interesse zu unterwühlen suchen, ist gerichtskundig. Daß die letzten französischen Anlehen an Rußland gegeben wurden mit der Weisung, ernst zu machen mit antiösterreichischen und antideutschen Vorbereitungen, zweifelt niemand. Ebensowenig daran, daß der russische Panslawismus mit den letzten Veränderungen auf dem Balkan nicht zufrieden ist, daß das alte Ziel der russischen Politik, freie Durchfahrt durch die Dardanellen und die Besitznahme von Konstantinopel, noch immer im Herzen von Volk und Regierung schlummert. Der Deutschenhaß ist im Steigen. Aber – Rußland versichert, es müsse nur die Rüstungen der anderen Staaten wett machen; der russische Kaiser und Sasonow dächten nicht an Krieg. Die Eingeweihten versichern, die französischen und russischen Rüstungen würden erst in zwei oder drei Jahren fertig. In der Diplomatie weiß jedermann, daß ein russischer Krieg mit dem Ziele »Konstantinopel« die russisch-englischen, mit so vieler Mühe hergestellten Abmachungen bedrohen oder zerreißen würde. Kurz, das Ende der Überlegung ist: »Nix G'wiss's weiß mer net.«
Das Eine bleibt: Rußland rüstet in kolossalem Umfang; es will sein Gewicht verstärkt in die Wagschale der Völkerstreitigkeiten werfen. Deutschland und Österreich-Ungarn haben alle Ursache, auf der Hut zu sein, wenn auch für die nächste Zeit die Gefahr viel geringer ist, als die Zeitungsnachrichten über die russischen Rüstungen es erscheinen ließen. Da ist es vielleicht am Platze, einige allgemeinere Betrachtungen anzustellen über die Ursachen, die heute und in der Vergangenheit im Zusammenhang mit der Staatenbildung und mit den Versuchen zu völkerrechtlicher Friedensarbeit doch immer wieder zu Kriegen führten.
Seit es etwas größere, kultivierte, gefestigte, auf national einigermaßen zusammengefaßte Volksgruppen basierte Staaten gab, bildete sich auch das völkerrechtliche Ideal aus, sie sollten sich gegenseitig friedlich respektieren: Ich erinnere, was das Altertum betrifft, nur an die großen Prinzipien des Scipionischen Hauses, die römische Herrschaft auf Italien einzuschränken, einen friedlichen Staatenbund der Mittelmeerstaaten herzustellen. Diese große, schöne Idee wurde überrannt von der römischen Händler- und Kapitalistenpartei, die die Weltherrschaft der Römer und des römischen Kapitals anstrebte und erreichte. Das römische Weltreich hat dafür einem riesenhaften Gebiet Frieden und Gedeihen für Jahrhunderte und die vollendete Ausbildung der Rechts- und Wirtschaftsinstitutionen gebracht, auf denen unsere westeuropäische Zivilisation noch heute ruht.
Auch später sehen wir immer wieder Anläufe zu der Idee einer friedlichen Völkergemeinschaft sich ausbilden. Die römische Kirche hat solches im Abendland versucht, später erstrebte das Völkerrecht im Gleichgewicht der größeren europäischen Staaten derartiges. Immer aber haben vor und nach 1500 die kräftigeren, rascher vorangekommenen Staaten über dieses Gleichgewicht hinweg zu einem Übergewicht oder gar zu einer Weltherrschaft gestrebt. Und als seit 1500 die europäischen Staaten über unseren Erdteil hinaus Handelseinfluß und Kolonien erwarben, war dies für die führenden Staaten Veranlassung und Mittel, noch kräftiger sich über ihre Nachbarn zu erheben.
Sie strebten nun nach der Doppelaufgabe, sich im Innern zu konsolidieren, ihre Volkswirtschaft zu höheren Formen zu führen, so ihre Nachbarn durch ihren Handel zu beherrschen, eventuell zu Hause ihre Grenzen auszudehnen und daneben in den anderen Weltteilen mit den Stützpunkten ihres Handels Kolonien zu erwerben, teils als Ackerbaukolonien für ihren Bevölkerungsüberschuß, teils als Plantagenkolonien mit einer unfreien Eingeborenenbevölkerung. Diese überseeische Ausdehnung war notwendig, um auf die Höhe der heutigen menschlichen Kultur zu kommen. Aber sie hat noch mehr als das erstgenannte Ziel zu unendlich viel Mißbrauch und Klassenherrschaft, zu Kriegen, zu Störungen des europäischen Gleichgewichts geführt. Hauptsächlich die Spanier, die Holländer, die Franzosen, zuletzt die Engländer kamen so empor, strebten nach einer Art Welthandelsherrschaft und mit ihr nach einer Vergewaltigung der anderen europäischen Staaten, denen so große Ziele nicht gelangen. Sie mußten in anderer Weise versuchen, zur Großstaatsbildung zu kommen. Österreich-Ungarn kam zu ihr durch den Kampf gegen die Türken, Preußen durch die Notwendigkeit, Deutschland nach Ost und West durch eine Vereinigung einer Anzahl Territorien und ein einheitliches Kriegsheer zu schützen. Wo die Kleinstaaterei sich erhielt, wie in Italien, dem größeren Teil Deutschlands, blieb die wirtschaftliche und politische Kultur zurück. Daher überall gewisse Ansätze zu größeren Staatenbildungen, zur Grenzhinausschiebung, was immer wieder das Gleichgewicht störte, ohne die Tendenz steter Neubildung dieses Gleichgewichts aufzuheben. Jede Störung desselben erschien immer mehr als ein gewisses völkerrechtliches Unrecht. Die großen wie die kleinen europäischen Staaten konsolidierten sich vom sechzehnten bis achtzehnten Jahrhundert immer mehr. England gliedert sich Schottland und Irland an; Polen verschwindet durch die politische Unfähigkeit seiner Aristokratie als selbständiger Staat ganz. Die Zeit von 1792-1815 bringt nochmals ganz große Veränderungen. Mit den Friedensschlüssen von 1814-15 tritt nun Ruhe ein. Es nimmt fast den Anschein an, die europäische Staatenwelt sei jetzt für immer festgelegt. Großbritannien hat die unbestrittene Welthandelsherrschaft. Erst von 1860 an zeigen sich wieder große Veränderungen. Die letzte Teilung der Erde, von England (Disraeli) und Rußland ausgehend, und ein ungeheurer technischer Fortschritt leiten eine ganz neue Epoche ein. Die beginnende Nationalitätenbewegung führt zur staatlichen Einheit von Deutschland und Italien.
In der Zeit vor 1792 und seit 1860 sind es wesentlich nur zwei Ursachen, die es gegenüber der überlieferten Verteilung Europas für die einzelnen Staaten als einigermaßen berechtigt erscheinen lassen, nach einer innereuropäischen Änderung zu streben: einerseits die militärische Schutzlosigkeit gewisser Grenzen, die vom Standpunkte der Staatssicherheit als einer Korrektur, einer Verstärkung bedürftig erschienen, anderseits die Nationalitätenfrage, welche für große Kulturnationen die vollste Berechtigung hat, für kleine Splitter von Rassen- und Sprachgruppen, für Nationen ohne große Kulturmission überwiegend zu falschen Ansprüchen geführt hat.
Eine halb bewußte, halb unbewußte Übereinkunft innerhalb der europäischen Staatenwelt hat von diesem Standpunkte die erstrebten und die mißlungenen Versuche der Neubildung beurteilt und bewertet. Es ist nun vor allem merkwürdig, von diesem Standpunkte aus die französische Staatsbildung und ihre Weltmachtsbestrebungen zu überblicken.
Frankreich gelangt 1460-1700 durch seine Monarchie, seine Beamten, sein Heer, seine Zentralisation auf den Höhepunkt seiner Macht. Und diese Macht sucht es nun damals, wie später unter Napoleon I., ja in gewisser Beziehung auch noch unter Napoleon III., dazu zu benützen, zugleich seine europäischen Landesgrenzen auf Kosten aller seiner Nachbarstaaten hinauszurücken und Holland sowie England als Kolonial- und Welthandelsmacht zu überholen. Es hat von 1500 ab immer wieder größere Teile Spaniens, Italiens, Deutschlands, Belgiens und Hollands einverleibt, und es hat daneben in Ost- und Westindien, in Kanada und im Mississippigebiet ein großes französisches Kolonialreich teils gegründet, teils zu gründen versucht. Aber die Folge war, daß England in immer neuen Kriegen das zu hindern suchte, und daß immer neue große Koalitionen der europäischen Staaten Frankreich zu Lande entgegentraten: Frankreich verblutete sich daran, der Ruin seiner Finanzen führte endlich zur Revolution, in der England ihm dann auch den Rest seiner Kolonien nahm. Napoleon I. versuchte, den zweihundertjährigen Kampf mit England um die Welthandelsherrschaft wieder aufzunehmen und zugunsten Frankreichs zu beendigen. Er unterlag, weil er mit diesem Zweck, ähnlich wie die französischen Könige früher, eine unnatürliche Einverleibungspolitik deutscher und anderer Nachbargebiete betrieb, und die Staaten, die ihm gegen England hätten helfen können, zu sehr mißhandelte und ausraubte. Napoleon III. war in dieser Beziehung klüger und vorsichtiger als sein Oheim; aber auch er konnte dem französischen Chauvinismus zu wenig widerstehen. Er riß Savoyen und Nizza von Italien ab, spielte lange mit dem Gedanken, deutsche Gebiete zu erwerben; statt der Rheingrenze erreichte er nur seinen Sturz und den Verlust von Elsaß-Lothringen für Frankreich, das Deutschland wesentlich nur zur Sicherung seiner Grenze erwerben mußte. Der französischen Republik ist dann der Erwerb eines großen Kolonialreiches gelungen, weil sie trotz aller deutschfeindlichen Revanchegedanken im ganzen doch die falsche europäische Ausdehnungspolitik Ludwigs XIV. und der Napoleoniden aufgab.
Ich erwähne diese Ereignisse aus der französischen Geschichte, weil sie mir sehr lehrreich für die neueren russischen Expansionstendenzen erscheinen. Es will mir scheinen, daß das neuere Rußland in ähnliche Fehler verfalle wie das ältere Frankreich. Sein innerer Konsolidationsprozeß im 17. und 18. Jahrhundert verband sich mit dem Vordringen an die Ostsee und an das Schwarze Meer; dies und der Erwerb der von einer deutschen Aristokratie beherrschten, aber im ganzen von Letten bewohnten Ostseeprovinzen war Lebensfrage für den Staat. Ohne Meeresküsten blieb Rußland ein mongolisch-asiatischer Barbarenstaat. Das sah Peter der Große ein und verlegte deshalb die Residenz von Moskau nach seiner Gründung »Petersburg«. Ob die Teilung Polens, die von Rußland ausging und die Hauptteile dieses Staates an Rußland brachte, ebenso heilsam und berechtigt war, lasse ich dahingestellt. Österreich und Preußen konnten sie jedenfalls nicht hindern und nahmen deshalb lieber auch ihren Teil an polnischem Gebiet, freilich einen sehr kleinen im Vergleiche zu Rußland. Im Anfang des 19. Jahrhunderts schloß Rußland die Ausdehnung seiner Ostseelande durch die Besetzung Finnlands ab.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wendete sich Rußland wesentlich nach dem Osten. Es gliederte sich ungeheure Gebiete an: erst den Kaukasus, dann ganz Nordasien bis ans Japanische Meer, neuerdings besetzte es Nordpersien, erwarb ganz Turkestan. Es sind Eroberungen, die teils durch die Konkurrenz mit England und seinem asiatischen Vordringen, teils durch die Beziehungen zu China nahegelegt waren; vielfach erschienen sie nötig, um die eigene Bedrohung durch kriegerische Barbarenstämme abzuwenden. Alle hatten die Bedeutung einer großen, riesenhaften Kulturmission. Die russische Herrschaft brachte hier überall ruhige Zustände, wirtschaftlichen Fortschritt, eine geordnete europäische Verwaltung. Gelingt die Bewässerung Turkestans, so entwickelt sich da eine der amerikanischen gleiche oder überlegene Baumwollproduktion.
Im europäischen Rußland vollzog sich im 19. Jahrhundert ein wirtschaftlicher Fortschritt ohne gleichen: Rußland wurde ein europäischer Staat mit Eisenbahnen, Banken, Großindustrie; seine Bauern wurden befreit; in neuerer Zeit begann eine innere bäuerliche Kolonisation, die eine der größten Kulturtaten der Neuzeit überhaupt ist. Rußland bemüht sich, Rechtsstaat und konstitutioneller Staat zu werden; es ist daneben der größte Beamten- und Militärstaat Europas, zwar noch behaftet mit vielen Fehlern der Vergangenheit, aber eifrig bemüht, sie abzustreifen, um nicht mehr militärische Mißerfolge zu erleiden, wie in den Türkenkriegen von 1828, 1854, 1878 und im japanischen Krieg. Die inneren Aufgaben, die in Rußland noch der Lösung harren, sind ebenso große und schwere, wie die Schwierigkeiten der Einverleibung und Organisation der neuen asiatischen Gebiete und Länder.
Um so mehr sollte man erwarten, daß eine weise Staatskunst den russischen Staat davor bewahre, sich aufs neue in die europäischen Händel mit Erweiterungsgedanken nach Westen zu mischen, wie es jetzt den Anschein hat. Man fürchtet in Skandinavien, daß Rußland im Norden Erwerbungen plane, um an der Nordsee Fuß zu fassen. Man spricht von dem Angriff auf Österreich-Ungarn; die außerrussische panslawistische Bewegung schürt und hofft auf Rußland. Frankreich ebenso. Und so gewiß Rußland berechtigte Interessen auf der Balkanhalbinsel hat, so möchte ich doch sagen, eine richtige Einsicht müßte in Petersburg an das alte Sprichwort erinnern: Qui trop embrasse, mal étreint. Zu keiner Zeit hatte Rußland mehr Ursache zur Ruhe als jetzt. Seine großen Erfolge nach Osten und seine riesenhaften Aufgaben im Innern müßten es belehren, daß Machts- und Gebietserweiterungen nach Westen ein Anachronismus sind, daß man nicht zu gleicher Zeit einen großen Teil Asiens sich angliedern und West- und Mitteleuropa bedrohen darf.
Der Kaiser und die weitsichtigeren regierenden Kreise in Rußland werden das wohl auch einsehen. Aber die absolute Monarchie, wie es Rußland doch noch in der Hauptsache ist, pflegt zeitweise Volksstimmungen und Kamarillabewegungen mehr zu erliegen als konstitutionelle Monarchien, zumal wenn auswärtige Pressionen, wie die französische, jetzt die Politik in falsche Bahnen drängen wollen.
Immer wollen wir hoffen, daß es nicht zu dem Angriff Rußlands kommt. Er könnte Rußland sehr schlecht bekommen. Der Dreibund, respektive das feste Zusammenhalten zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, würde sicher auch diese Probe bestehen. England kann nicht wie Frankreich einen Sieg Rußlands wünschen. Man wird dort vielleicht längst wissen, jedenfalls durch die neuesten Publikationen erfahren haben, daß der 1905 vom Grafen Witte geplante Bündnisvertrag zwischen Rußland, Frankreich und Deutschland, der seine Spitze gegen England richten sollte, wohl vor allem deshalb von Deutschland abgelehnt wurde, weil er zugleich eine Preisgabe Österreich-Ungarns von seiten Deutschlands in sich geschlossen haben würde.
Rußland müßte sich klar sein, daß seine Ausdehnung jener Größe nahe ist, die meist nur kriegerischen Barbarenstaaten etwas länger zu erhalten gelang, im übrigen stets leicht wieder zur Auflösung in seine Teile führte. Jedenfalls sind die inneren Aufgaben dieses Staates so große, daß zunächst ihre Bewältigung in allererster Linie stehen muß. Es sollte sich klar bleiben, daß es bei seiner asiatischen Mission die ganze übrige Staatenwelt mehr oder weniger, jedenfalls die öffentliche Meinung der unbeteiligten Kulturstaaten, auf seiner Seite hat. Dagegen steht ihm bei seiner Ausdehnung nach Westen nicht bloß England entgegen, sondern – von Frankreich abgesehen – das Rechtsgefühl von ganz Europa und die mehrhundertjährige Tradition der europäischen Staaten, die Grenzverrückungen in Europa aus einseitigen brutalen Machttendenzen verurteilt. Wenn man in Petersburg sagt, der Erwerb Konstantinopels sei notwendig, so könnte es Deutschland ebensogut einfallen, die Rheinmündungen zu verlangen. Und nie hat man an solches gedacht. Einseitige Macht- und Gebietsausdehnungen sollte kein europäischer Kulturstaat mehr auf Kosten der anderen anstreben; das ist der berechtigte Kern aller heutigen Friedensbestrebungen. Vor allem sollten die kleinen und schwachen Staaten von jeder solchen Bedrohung frei sein.
Dazu gehört freilich, daß sie, wie die Großstaaten, selbst das Nötige militärisch tun, um sich zu schützen. Es gehört, was Rußlands mögliche Angriffe betrifft, dazu, daß Deutschland und Österreich voll gerüstet sind. Es gehört endlich vor allem dazu, daß Österreich-Ungarn in seinem eigenen Innern endlich wieder Ruhe bekommt, daß der Nationalitätenhader beschwichtigt wird, daß eine große, starke Hand das Steuer des Staatsschiffes ergreife und leite. Wann und wie wird es dazu kommen?
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