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Mitten im Herzen des Hochgebirges zwischen der gewaltigen Kette des Grenzkammes und dem Gebirgsstocke des Arbers liegt in einem herrlichen Thalbecken am rechten Ufer des Regenbaches, unweit dessen Vereinigung mit dem Eisenbache, die Ortschaft Eisenstein, zu jener Zeit nur aus einem ganz kleinen Dorfe mit einer hölzernen Kapelle bestehend. Ihre Entstehung verdankt sie dem Günthersteige und dem von hier abzweigenden »Goldenen Steige« oder der Hochstraße nach Klattau, nebst dem aber auch in der Umgebung schwunghaft betriebenen Eisenbergbau. Der künische Wald oder der Hwozd, welcher damals wohl ohne Unterbrechung das ganze Gebiet vom Ossergebirge bis Zwiesel bedeckte, war bis zu Ende des 16. Jahrhunderts ein unbenützter Urwald, dem man bei seiner Unwegsamkeit keinerlei wirtschaftliche Bedeutung beilegte. Von da ab jedoch ist durch Glashütten und Köhlereibetrieb, durch Eisenhämmer und Schmelzhütten eine ersprießliche Benützungsweise zu verzeichnen. Außerdem haben sich auch in der Eisensteinergegend schon frühzeitig Freibauern angesiedelt, welche durch Rodungen die Waldwildnis urbar machten, namentlich im Grunde und an den Hängen des Eisenbachthales, sowie an den Ufern des Seebaches, welch letzterer am Teufelssee seinen Anfang nimmt, dessen hohe, 65 dunkelbewaldete Seewand im Verein mit dem rechts davon aufragenden Spitzberg und dem Panzer den Hintergrund des Thalbeckens von Eisenstein bildet. Daran schließt sich in südöstlicher und südlicher Richtung der Fallbaum, Lackenberg und der Falkenstein.
Südwestlich ragt der kahlköpfige, mit vier Zacken gleich einer Königskrone geschmückte Arber, des Böhmerwaldes König, majestätisch in die Luft.
Durch den Paß von Eisenstein geschah 1040 der Rückzug und 1041 der Einbruch Kaiser Heinrich III. mit seinem Heere von und nach Böhmen. Eisenstein und Umgebung war von altersher ein strittiges Eigentum zwischen der Böhmischen Krone und dem Kurfürstentum Bayern. Von 1563 bis 1713 gehörte es zu letzterem, also auch zur Zeit dieser Erzählung, erst im letztgenannten Jahre ward es endgültig Böhmen zugeteilt.
Seit die Säumer ihre Waren aus dem Reiche oder von Passau über Eisenstein nach Klattau und Gegenladungen zurück auf den mangelhaften Saumpfaden brachten, war in den hier errichteten Schenken ein besonders lebhafter Verkehr; Hunderte von ermüdeten Pferden lagerten da fast täglich, um für den beschwerlichen Steig über das Gebirge gestärkt zu sein.
An solchen Rastplätzen der Säumer stellte sich mit besonderer Vorliebe das »fahrende Volk« ein, um die ermüdeten Säumer durch Gesang und Spiel zu erheitern. Selbstverständlich waren es meist böhmische Musikanten, welche schon damals die ihnen angeborene Kunst von Ort zu Ort verwerteten. Heute bestand das Orchester aus einem älteren Manne mit weit über die Brust herabhängendem, ergrautem Vollbart, der höchst kummervoll aussehenden 66 Frau, einem etwa fünfzehnjährigen Sohn mit frischen Wangen und der einige Jahre älteren Tochter. Vater und Sohn führten als Instrument die Geige, die Mutter spielte die Harfe und die Tochter die Laute. Sie saßen etwas abseits von den Säumern, die sich an den mit Bierkannen besetzten Tischen in ungezwungener Lustbarkeit ergingen, sofort aber ihre Gespräche unterbrachen, sobald die Bänkelmusikanten zu spielen begannen. Dann jauchzten und sangen sie, tanzten auch und warfen den Spielern gern einige Pfennige zu. Noch freigebiger aber waren sie mit ihren Blicken nach dem schönen Mädchen, dessen dunkle Haare, nur durch ein rotes Band im Nacken gebunden, in üppiger Fülle über ihren Rücken hinabwallten. Ihre etwas dunkle Hautfarbe und ihre großen, kohlschwarzen Augen verliehen dieser seltenen Erscheinung etwas Zigeunerhaftes, ihr Blick zündete gleichsam, wohin er sich wandte, dabei hatte er etwas Achtunggebietendes, so daß selbst die rohen Säumer sich eines gewissen Respektes nicht erwehren konnten. Ihre Kleidung war die der böhmischen Mädchen: weite Hemdärmel, buntes Leibchen, der rote, kurze Rock und blaue Schürze.
Sahen die Säumer mit Bewunderung nach ihr hin, so that dies die Mutter mit wahrer Besorgnis, denn in den Zügen des Mädchens spiegelte sich eine große Traurigkeit.
»Heute – du wirst singen, Libussa,« sagte die Mutter, welche gleich ihrer Familie die deutsche Sprache verständlich, wenn auch mit etlichen Versetzungen der Wörter sprach:
Libussa schüttelte verneinend den Kopf.
»Heute, nein,« entgegnete sie sanft, aber bestimmt. »Ich muß erst haben Gewißheit, ob Josef –«
67 »Libussa, denke nicht immer das Schlimmste,« bat die Mutter.
»Ich würde sterben vor Elend, wenn er mich betrogen,« entgegnete die Tochter.
Der Vater, der sogenannte Geiger Antonin war schwerhörig und verstand nicht, was Mutter und Tochter leise mitsammen sprachen. Nur für die Töne der Musik war sein Gehör empfänglich. Da schwelgte er förmlich in Vergnügen und fühlte sich glücklich und reich, wenn auch nur ein schmutziger Leinenkittel seinen Leib umhüllte.
Er wußte nicht, was die Frauen seit heute Mittag so in Aufregung versetzte. Die Familie war im ganzen Prachiner Kreise herumgewandert und in allen Burgen und Schlössern spähte Libussa nach ihrem Josef, doch immer vergebens. Niemand kannte einen Herrschaftsjäger des Namens Josef Marcon. Heute waren sie von Schüttenhofen über Hartmanitz hiehergekommen, wo sie im nahen Girgalhof, einem großen Freibauerngute, stets gerne Nachtherberge fanden, wenn sie diese Gegend bereisten. In Hartmanitz war der fünfzehnjährige Bruder zurückgeblieben, da seine Geige einer kleinen Reparatur bedurfte.
Zu diesem Zwecke begab er sich zu einem Tischler, der nahe des Hauses der Freiherrn von Hrácin wohnte und sah hier Herrn Humprecht von Hrácin vorüberreiten. Der Bursche glaubte in ihm sofort und sicher Josef Marcon zu erkennen.
Sofort eilte er zu dem Hause, vor welchem wiederum neue Reiter ankamen und hinter dem stets wieder zugemachten Thore verschwanden. Auf seine Frage nach Josef Marcon lachte man den Knaben aus und als dieser versicherte, er hätte ihn vorhin hier einreiten sehen, erklärte 68 man ihm, daß nur Edelleute bis jetzt eingeritten seien und er solle sich zum Kuckuck scheren.
Der junge Stanislaus hatte nun nichts Wichtigeres zu thun, als den Seinen nachzueilen und ihnen von seiner Entdeckung Nachricht zu geben. Man schenkte ihm jedoch keinen Glauben, sondern war der Meinung, er habe sich getäuscht und sich durch eine Ähnlichkeit des Ritters mit Josef irreführen lassen. Stanislaus aber blieb fest bei seiner Meinung.
Die Vermutung des Bruders beunruhigte Libussa mehr und mehr. Seit vielen Wochen grämte sie sich um den Verlorenen, hoffte aber mit Zuversicht, ihn wieder zu finden. Er hatte ja geschworen, ihr ewig treu zu sein und daß ihn nichts von ihr zu trennen vermöge.
Doch überkam sie jetzt der Gedanke, daß Josef stets und in allem, was er sprach und that, nicht die Art eines niederen Bediensteten zeigte. Der Ring, den sie von ihm erhalten, war er nicht zu wertvoll für einen Jägersmann? Sie hatte den schönen glitzernden Stein für einen böhmischen Glasstein gehalten. Was lag ihr überhaupt an dem Wert oder Unwert einer Habe, die ihr der Geliebte reichte. Jetzt prüfte sie diese Gabe und sie erschrak bei dem Gedanken, daß der Stein echt sein könnte. Und wie schön wußte Josef seine Worte zu wählen, wie wahrhaft ritterlich war sein ganzes Benehmen. Gegen kein Edelfräulein hätte er sich galanter und ritterlicher zeigen können.
Diese Vorzüge, welche ihm ehedem ihr Herz gewonnen, beunruhigten sie jetzt in hohem Grade. Alles, alles war ja dann nur Schein, ein Spiel, das er sich mit dem armen Mädchen erlaubt, das er vielleicht verspotten und verlachen 69 würde, wenn er ahnte, daß sein Zeitvertreib ihr Lebensglück zertrümmert hätte.
Die Pause war vorüber, die Säumer wünschten Musik zu hören und Libussa mußte in die Saiten greifen. Bald aber war es Zeit zum Aufbruch. Die Säumer mußten sich auf den Weg machen, um noch vor Abend das Gebirge überschreiten zu können. Der Steig führt den Panzer hinan und dann auf dem Rücken des Brückel und Brennet fort gegen Neuern hin. Nicht einer der Reiter versäumte, den Musikanten noch ein Zehrgeld zu geben, dann trieben sie ihre mit Säcken und Körben bepackten und mit Schellengeläute versehenen Rößlein an und zogen fröhlich ins Böhmerland hinein.
Die Musikantenfamilie machte sich gleichfalls auf den Weg im Eisenbachthale aufwärts nach dem etwa dreiviertel Stunden entfernten Girgalhof, dem größten Freibauernhofe der Eisensteiner Gegend, in dessen Nähe sich der den Passauer Kaufleuten Fiedler gehörige Eisenerzbergbau befand. Die großartigen Baulichkeiten dieses Hofes zeugten schon beim äußern Anblick von der Wohlhabenheit des Besitzers, der als äußerst leutseliger Mann überall beliebt und ganz besonders für Musik eingenommen war.
Der »Girgalherr«, wie er allgemein angesprochen und genannt wurde, spielte selbst mehrere Instrumente und hatte eine schöne Stimme, die er gerne bewundern ließ. Er war ein noch rüstiger, etwas korpulenter Mann mit blondem, krausem Haar und einem gesund geröteten Gesichte mit Doppelkinn. Seine Hausfrau Eliska war gleichfalls das Bild der Zufriedenheit und Gutmütigkeit. Sie ließ keinen Armen ungetröstet von ihrer Thüre gehen und war gleich ihrem Manne stets heiteren Humors. Der 70 Himmel hatte diesem Paare alles beschert, was zum Glücke gehört, Gesundheit, Frohsinn und Reichtum – zudem noch einen braven Sohn, der, jetzt, zwanzig Jahre alt, ihr Glück vervollständigte. Er hieß Wenzel und war dem Vater in der Bewirtschaftung der Ökonomie behilflich.
Sobald der Girgalherr in den Ankommenden den alten Geiger Antonin mit seiner Familie erkannte, hieß er ihn freundlich willkommen, ließ ihm ein paar Kammern als Schlafgemach anweisen und die Familie in der Gesindestube mit Speise und Trank versorgen. Später wollte er dann mit ihnen in der Herrenstube musizieren, wobei sich auch sein Sohn Wenzel, der zur Zeit noch abwesend war, beteiligen sollte, der, wie er sagte, ebenfalls »auf der Geige kratzen« könne.
Die Freibäuerin sah mit vielem Wohlgefallen auf Libussa und konnte sich an dem schönen Mädchen, das sie Jahr für Jahr heranwachsen gesehen, nicht satt schauen. Sie fühlte mit demselben lebhaftes Bedauern, daß es keine Heimat hatte und ewig herumwandern müßte in der weiten Welt und sprach auch in diesem Sinne zu Libussas Mutter.
»Das macht mich auch oft unglücklich,« meinte die Geigersfrau, »aber wir müssen verdienen unser Brod. Hätten wir feste Herberge, könnten wir wohl wohnen, aber nicht essen, wir müßten denn sein reich, oder haben ein anderes Gewerbe, als die Musik.«
Sie erzählte ihr dann, daß es auch besser um sie stehen könnte, wenn Antonin seinem Bruder, der in Prag eine Gärtnerei besäße, gefolgt und mit diesem das Geschäft betrieben hätte. So habe er sich mit dem Bruder entzweit und dieser wolle von ihnen nichts mehr wissen. Sein nicht unbeträchtliches Vermögen habe der Schwager seiner 71 Haushälterin verschrieben, während sie heimatlos in der Fremde umherwandern müßten.
»O, wie schön müßte es sein, eine Heimat zu haben!« meinte Libussa seufzend. »Ich habe dieses Glück nie gelernt kennen!«
»Du wirst eine solche finden,« tröstete die Freibäuerin. »Du bist ein brav's Mädl, i seh dir's an, und kann i dazu beitragen, dein Los zu bessern, so darfst auf mi rechnen.«
Bei solch gastfreundlichem Entgegenkommen konnte es nicht wunder nehmen, wenn die ewig zum Wandern Gezwungenen eine Ahnung von dem süßen Glück eines eigenen Heims überkam. Libussas hätte sich hier gewiß auch eine glückliche Stimmung bemächtigt, wenn ihr Gemüt nicht durch die Nachricht ihres Bruders zu sehr verdüstert gewesen wäre.
Gegen Abend kam Wenzel, des Freibauern Sohn, nach Hause geritten. Er war im Auftrage seines Vaters bei der Freibauern-Versammlung in Gutwasser gewesen, denn obgleich zur Zeit der Girgalhof mit dem Eisensteiner Gebiet zu Bayern gehörte, so fühlten sich seine Besitzer doch eines Stammes mit den böhmisch-künischen Freibauern, zu denen sie von altersher gezählt worden und nahmen an deren Schicksal den lebhaftesten Anteil. Bevor aber der Sohn, ein von Gesundheit strotzender junger Mann, gleich dem Vater blond gelockt, in der kleidsamen Tracht der Böhmen, gelber kurzer Lederhose, Wadenstiefeln, gesticktem, blauem Janker und breitem Filzhut, über das Ergebnis der Beratung der Freibauern Bericht erstattete, teilte er die große Neuigkeit des Tages mit, nämlich daß das böhmische Königspaar übermorgen in Seewiesen 72 Nachtquartier halten und sich dann über Eisenstein nach Bayern begeben werde.
Er erzählte sodann, daß auf dem Wege von Gutwasser den heimkehrenden Freibauern ein reitender Bote mit dieser Nachricht entgegengeschickt worden wäre und diese sich alle bereit erklärt hätten, nach Seewiesen zu kommen, um dort dem König zu huldigen.
»Da geh i auch hin,« beschloß der Girgalherr, »und alle meine Leut' sollen mitkommen. Es gilt nit nur den König von Böhmen, sondern auch unsern künftigen Kaiser zu ehren. Eliska, wir reisen nach Seewiesen; so bequem wird 's uns nit so leicht wieder g'macht, die Majestäten z' sehen.«
Die Frau war sogleich damit einverstanden.
Dann berichtete Wenzel über den Verlauf der Versammlung, und der Girgalherr wünschte ebenfalls sein Scherflein zur Ablösung der Freibauern beizutragen.
Aber noch eine dritte Neuigkeit hatte Wenzel zu berichten,. was er denn auch in gewohnter Treuherzigkeit ohne lange Umstände that.
»Und noch was is passiert,« sagte er. »I hab was verlor'n.«
»Verlor'n? Was denn? Dein Geld?« fragte der Vater.
»Nein, 's Geld nit.«
»Vielleicht den Brief, den dir der Vater für'n Herrn Eisner mitgeb'n hat wegen der Pottaschenlieferung?« fragte die Mutter.
»Nein, den Brief auch nit – den hab i richti übergeben und er laßt Vater und Mutter grüßen.«
73 »Aber was is's denn, was du verlor'n hast?« fragte der Vater wieder.
»Mein Herz hab i verlor'n.«
»Ein lebzelterns?« lachte die Mutter.
»Nein – ein lebzelterns hab i in Gutwasser kauft für die jüngere Tochter vom Oberrichter. Jeß, Mutter, is die Paula ein Prachtmad'l worn! Wie i ihr das zuckerne Herz gieb, und ihr in die Augen schau – pumps di! da hab i mein anders Herz auch verlor'n; is schon wahr. Ja, lacht nur! Die Paula hat mi lang ang'schaut und i hab's g'merkt, i hab ihr auch ausnehmend gut g'falln. Jetzt wißt's, wie ihr dran seid, und also gratuliert mir.«
Der Freibauer mußte über diese Enthüllung derart lachen, daß er in einen Husten verfiel und gleichsam einen Stickanfall erhielt, weshalb sich Wenzel beeilte, ihn tüchtig auf den Rücken zu klopfen.
»No', no', Vater, deshalb brauchst nit z' ersticken,« meinte der Sohn. »Aber mi freut's, daß d' lachst drüber – es is auch zum Lachen, gel Mutterl?«
»I weiß nit, was i sag'n soll,« erwiderte diese. »Schlecht is dein G'schmack nit – aber 's Madel is ja noch viel zu jung –«
»Z'jung zum gern hab'n, meinst?« unterbrach Wenzel. »Schaug's nur an übermorgen, da wirst schon sehn, daß dies Bleaml grad in der schönsten Blüten is. Weißt, Mutter, so viel kenn i mi schon aus.«
Jetzt war es an der Mutter, zu lachen.
Der Freibauer aber meinte gutmütig:
»Wenzel, dazu hat's morgen Zeit.« Er wollte damit andeuten, daß es mit einer solchen Angelegenheit durchaus 74 noch nicht pressiere. Wenzel aber verstand es absichtlich falsch und entgegnete:
»Is recht; morgen is mir noch lieber als übermorgen. So was darf man nit auf die lange Bank schieben, denn die Paula hat mir noch zug'lacht vom Wagen runter und hat in das lebzelterne Herz einen Biß g'macht; damit hat's sagen woll'n, daß's mi zum Fressen gern hat. Also darf i schon morgen nüber nach Seewiesen?« fragte er dann.
»Warum nit gar!« versetzte der Freibauer. »Übermorgen darfst mit. Die Kinderei aber laß vorerst bei seiten.«
»So will i mi gedulden bis übermorgen,« gab Wenzel zu.
»Aber um Gotteswilln, was willst denn dann übermorgen?« fragte die Mutter.
»Das wirst schon sehn – oder auch nit. I weiß nit, wie du's g'halten hast mit dem Vater beim ersten Schmatz, ob unter vier Augen oder –. So viel is g'wiß einen Schmatz kriegt's von mir.«
»Und wenn du dagegen eine Ohrfeign kriegst?« fragte der Vater lachend.
»Das g'schieht nit!« behauptete Wenzel. »Soll's aber sein, dann kriegt's zur Straf noch mehr Bußln; dann werden's gar nimmer zählt. Jetzt schau i nach mein Pferd, ob's schon fressen mag.« Er entfernte sich.
Die Eltern wußten vor Verwunderung nichts zu sagen. Die Frau sah ihm mit gefalteten Händen nach, der Bauer kratzte sich hinter den Ohren. Endlich sagte die erstere:
»Daß doch die Kinder alle Lumpereien vom Vater erben! Grad so hast du's g'macht!«
75 »O – i bin schon um sechs Monat älter gwen. Aber du, Eliska, du warst kaum so alt, wie d'Eisner Paula und – so viel i mi erinnern kann – du hast mir keine auffi g'haut, wie i dir den ersten Schmatz geben hab –«
»G'stohln hab – mußt sagen –«
»No', so gieb i dir 'n nach einundzwanzig Jahren wieder ehrlich z'ruck. Da hast'n, du Neidkragen!«
Damit gab er der Bäuerin einen herzhaften Kuß.
»Geh zu!« erwiderte diese, ihm leicht die Wange tätschelnd und verließ dann die Stube, um in der Küche nachzusehen.
Abends wurden dann die Musikanten mit ihren Instrumenten ins Herrenzimmer gerufen. Wenzel, welcher bis jetzt die Gäste noch nicht gesehen, begrüßte sie freundlich. Lange sah er dabei Libussa in die schwarzen Augen.
»Merkwürdig,« sagte er, gewohnt, alles auszusprechen, was er sich dachte, kopfschüttelnd, »wenn i in deine schwarzen Augen schau, is mir's, als wenn i oben auf der Seewand wär und schauet nunter in den schwarzen Teufelssee. Wer in den stürzt, is verlor'n und i mein, wer si' in deine schwarzen Augen versenkt, der muß auch z'Grund gehn, ob er will oder nit.«
Libussa lachte über dieses zweifelhafte Kompliment laut auf, dann sagte sie:
»Da werd ich gleich morgen aufsuchen diesen See, damit ich weiß, wie meine Augen sind beschaffen.«
Wenzel aber sagte leise zur Mutter:
»Da g'falln mir der Paula ihre sanften, blauen Augen schon besser; da drin geh i nit z' Grund.«
Nun begann das Musizieren. Der Freibauer war, wie schon erwähnt, auf der Geige nicht ungeübt und hörte 76 mit Entzücken darauf, wie ihn Libussa und ihre Mutter mit Laute und Harfe begleiteten.
Dazwischen wurde dann gegessen und getrunken und geplaudert. Als der alte Geiger Antonin von dem Feste in Seewiesen vernahm, war er sofort entschlossen, mit den Seinen ebenfalls dorthin zu wandern, denn wo so viele Menschen zusammenströmten, warf es auch für ihn ein gutes Erträgnis ab, das durfte er mit Sicherheit annehmen.
Libussa sang, zum erstenmale wieder nach Wochen, einige Lieder und entzückte dadurch sowohl die Freibauernfamilie, wie das Gesinde, welches auf der Gred vor dem Hause bewundernd lauschte.
Als es Schlafenszeit war, trennte man sich. Der Freibauer, erfreut über den gehabten Genuß, erklärte der Musikantenfamilie, daß sie stets bei ihm Unterkunft finden würde, und falls sie ihr Wanderleben aufgeben und bei der Arbeit mithelfen möchten, wäre er gerne bereit, ihnen eine wohleingerichtete Schaluppe zur Wohnung zu geben. Aber das war nicht nach dem Geschmacke des alten Geigers, der nun einmal das Schlaraffenleben nicht lassen wollte, und das freie Herumirren vorzog.
Libussa freilich dachte anders. Sie sehnte sich nach einer festen Heimat. Bevor sie mit ihrer Mutter die ihnen angewiesene Kammer betrat, zog sie den Bruder noch einmal zur Seite und fragte ihn leise:
»Stanislaus – ich frage aufs Gewissen – du könntest dich getäuscht haben in Bezug auf Josef?«
»Nein,« sprach der Bruder beharrlich, »ich hab ihn erkannt trotz des Herrenkleides. Sein aufgedrehter Schnurrbart, die langen, blonden Haare, seine ganze Gestalt, 77 alles, alles stimmte. Es war Josef. Gute Nacht jetzt; ich bin müde.«
Auch Vater und Mutter waren müde. Es that ihnen wohl, nach langer Zeit wieder in einem gastlichen Hause zu ruhen, und bald schliefen sie ein. Libussa aber wachte lange. Die letzte Versicherung des Bruders machte es ihr fast zur Gewißheit, daß sie ihr Herz, ihr Glück einem Unwürdigen anvertraut. Sie grämte sich so sehr darüber, daß sie glaubte, diese Schmach nicht überleben zu können. Sie gedachte der Rede Wenzels vom Teufelssee. In seinen Fluten ließen sich all ihr Jammer und Elend begraben. In ihrer krankhaften Aufregung gab sie sich verzweifelnden Gedanken hin. Zwischen Halbschlummer und Weinen verging ihr die Nacht. Der Morgen fand sie zwar ruhiger, aber ein unerklärliches Etwas zog sie hin zum Teufelssee.
Ihre Eltern schliefen noch, als sie das Haus verließ. Die schon in frühester Morgenstunde thätigen Ehehalten des Hofes, welche sie um den Weg zur Seewand befragte, gaben ihr gerne Bescheid. Infolge einer Aschenbrennerei, welche im letzten Jahre in der Nähe der Seewand stattfand, war ein Weg durch die Urwaldbestände ausgehauen, welcher sich alsbald nach Betreten des Waldes kenntlich machte. Entwurzelte, dicht bemooste Stämme lagen wie gefallene Titanen übereinander und am Boden, und modernde, vom Windbruch niedergeworfene Baumstümpfe, vom Gewirre wilden Gesträuches umwachsen und überwuchert, erhoben sich aus dem grünen, weichen Moosgeflecht, auf welchem der Tau des Morgens perlte.
Libussa fühlte sich von der Majestät dieses Waldes eigentümlich beängstigt. Die Dämmerung ringsumher, 78 trotzdem es außerhalb desselben schon mehrere Stunden tagte, verstärkte noch den Eindruck der Einsamkeit. Doch eilte sie unaufhaltsam vorwärts. Der Weg führte immer höher hinan, zur Seite gähnte eine jähe, von mächtigen Steinblöcken erfüllte, tiefe Schlucht, in welcher es toste und brauste, wie ein herannahendes Gewitter. Bald jedoch vernahm sie es nur noch von ferne her, denn sie hatte die walddunkle, schroff abfallende, von Schluchten durchfurchte Seewand erreicht, welche an der westlichen Seite des Sees emporsteigt (1343 Meter.) Gegen Süden bedeckte eine weißgraue Nebelwand das Firmament.
Mit einem Ausrufe schauerlichen Erstaunens blickte Libussa hinab in das über dreihundert Meter unter ihr ruhende, stille, schwarze Wasser. Die tiefe Stille, die ringsum herrschte, verbunden mit dem Dunkel, das über dem schwarzen Grunde des Sees lag, erhöhte den Eindruck der Öde und des Verlassenseins, den Libussa hier empfand, wo selbst die Vögel, von dem schwarzen, regungslosen Wasserspiegel erschreckt, sich ferne halten. Außer dem Molch kommt kein lebendes Wesen in diesem Wasser vor. Das zum südlichen Abfluß des Sees abstürzende Ufer umragte ein unzugänglicher Urwald, dessen Stämme bis hart an den Rand des Wassers herantraten. Entrindete, weißleuchtende Skelette umgestürzter, abgestorbener Riesenbäume tauchten ihre Wipfel in die dunkle Flut; die Grabesstille rings umher wird nur selten unterbrochen durch das wilde Gekrächze eines in unabsehbarer Höhe dahinschwebenden Raubvogels. Schauerliche Sagen waren schon damals über den Teufelssee in Umlauf. Man erzählt sich, seine Flut dulde nicht, daß man Steine oder Holzstücke hineinwerfe. Er schäume sodann wildbrausend auf, schleudere 79 das Hineingeworfene ans Ufer und räche sich an dem Frevler durch Nebel und Regen.
Libussa hatte sich auf ein Felsenstück gesetzt und blickte sinnend hinab in die Tiefe, aus welcher der Bergsee gleich einem riesenhaften, dunklen Auge wieder zu ihr emporblickte. War es der merkwürdige Vergleich, den der Freibauernsohn gestern gemacht oder war es die Ruhe und der Friede, der hier herrschte und den ihr Herz seit kurzem so schmerzlich vermißte, sie fühlte sich von dem unheimlichen Gewässer mächtig angezogen. Es war ihr, als spräche es zu ihr: Komm herab und hole dir den Frieden, den dir die falsche Welt nicht bieten kann. Die Tochter des heimatlosen Bänkelmusikanten bleibt mißachtet, fortwährend ausgesetzt den frechsten Reden und Blicken, denen sie nicht einmal begegnen darf, wie es ihr oft empörtes Gemüt verlangte. Das Auge da unten, das so deutlich zu ihr herauf sprach, es verhieß Befreiung von alledem, vom Schmerze über den Verrat des Einzigen, den sie unter vielen sich erwählt, weil sie ihn für wahr hielt. Für wahr? Mit schmerzlichem Hohn lachte sie laut auf, aber sie erschrak darüber, denn schauerlich hallte es wieder, drei-, viermal in verschiedener Tonhöhe, es war ein teuflisches Lachen, welches das Echo erweckte, erst immermehr sich abschwächend, plötzlich aber wieder unheimlich hervorbrechend aus dem Grunde des Sees.
Schaudernd hatte sie sich erhoben und unwillkürlich nach dem Kreuzchen gegriffen, welches an einer Korallenkette an ihrem Halse hing. Hier fürchtete sie sich wirklich, zu sterben. Sie blickte auf zum blauen Himmel, und wie neues Hoffen drang es plötzlich in ihr Herz.
Südwärts über dem See hatten sich die Nebel 80 zerteilt, und von der Morgensonne magisch bestrahlt, erblickte sie jetzt die grünen Berge des Böhmerwaldes weit, weit hinaus in endloser Ferne.
Es war ihr, als riefen ihr tausend Stimmen zu: »Verzage nicht! Vom Himmel kommt das Licht, kommt der Friede. Vertrau auf ihn!«
Libussa überkam eine innige Andacht. –
Jetzt hörte sie ihren Namen rufen. Stanislaus war der Schwester nachgeeilt, sie aufzusuchen.
»Libussa,« sagte er, herzutretend, »Vater und Mutter sind in Sorge. Was thust du an diesem schauerlichen Ort?«
»Ich habe den Frieden gesucht,« entgegnete sie. »Laß uns heimwärts kehren, Stanislaus. Libussa hat sich selbst wieder gefunden!« 81