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Wir müssen die englische und die internationale Presse unterscheiden. Wenn es Hauptaufgabe der Presse, das Publikum zu unterrichten, so hat die englische Presse diese Aufgabe besonders im Anfang der Suffragettebewegung nicht erfüllt, die Auslandspresse erfüllt sie heute noch nicht. In vielen Fällen tut sie das strikte Gegenteil, sie mißleitet, führt irre und fälscht. Wohl sind die Suffragettes durch die Presse heute in der ganzen Welt bekannt, und das ist ein großer Gewinn. Die Presse betrachtet die Suffragettebewegung aber nur vom Standpunkt der Sensation. Sie schickt sensationelle Nachrichten in die Welt, die durch Übertreibung meist unwahr, in feindseligen Worten abgefaßt (Wahlrechtsweiber, wilde Weiber, rabiate Weiber, hysterische Weiber usw.), die Grundlagen der Bewegung, die treibenden Ideen, die Bedeutung der führenden Menschen, die dunklen Taten der Gegner völlig beiseite lassen. Daher herrscht außerhalb Englands und außerhalb der internationalen Kreise, die regelmäßig Votes for Women oder andere Frauenstimmrechtsblätter lesen, eine krasse Unwissenheit über und meist scharfe Feindseligkeit gegen die Suffragettes. Sie herrscht bei dem überwiegenden Teile des internationalen Lesepublikums, das sich die Suffragettes durchaus als »female howling dervishes« vorstellt.
Warum diese Haltung der Presse? Wären die Suffragettes Männer, die für Männerrechte streiten, ja stritten sie, selbst als Frauen, für der Männer Rechte – sie würden, wenigstens von einer der großen Parteipressen als das anerkannt, was sie sind: Freiheitskämpfer, Reformatoren, Helden, Märtyrer. Sie sind aber Frauen, die für Frauenrechte kämpfen, d. h. gegen die Species Mann, die in der Politik, Finanz und Presse den Durchschnittstypus bildet, den Herrenrechtler, der am Bestehenden nichts geändert wünscht. Er gießt also seinen Galläpfelsaft über sie aus.
Es wirkte dann noch folgendes mit, den Suffragettes die Presse feindlich zu machen: die Konservative, weil die Partei grundsätzlich gegen »militancy« ist, außer in Zeiten des allgemeinen Umsturzes; die Liberale, weil die Suffragettes gegen ein liberales Ministerium kämpften; die sozialistische, weil die W. S. P. U. nicht grundsätzlich das allgemeine Wahlrecht fordert; die Frauenpresse, weil die Suffragettes »unweiblich« waren. Nie ward ein Ideen- und Rechtskampf unter ähnlich ungünstigen Pressebedingungen gekämpft.
Der Umschwung begann zuerst in England, wo das irregeleitete Publikum durch Augenschein sich eines Besseren belehren konnte. Die Suffragettebewegung nimmt heute in der ganzen englischen Presse einen Raum ein, der weit über Sensationsdepeschen hinaus die eingehende Erörterung aller Beweggründe, aller Rechtsgrundlagen, aller sachlichen und persönlichen Seiten des Problems umfaßt. Wohl ist mehrfach, besonders Ende 1910, Anfang 1911, versucht, die Bewegung zu ignorieren, auszuschalten, totzuschweigen (Pressboycott), sie hat sich die Beachtung der Tagesblätter immer wieder erzwungen. Diese Beachtung ist teils zustimmend, teils ablehnend: gelegentlich des Umzugs am 23. Juni 1908 z. B. einstimmiger Lobgesang der Times, der Morning Post, des Daily Chronicle, Daily News, Morning Leader, Standard, Daily Mirror, Referee, Daily Expreß, der Provinzpresse. Votes for Women, 25. 6. 1908. Gelegentlich des Fenstereinwerfens vom 21. 11. 1911 ein gemischter Chor: eingehend und sachlich Standard, Daily Chronicle, Daily Telegraph, zustimmend Edinburgh Evening Dispatch, mißbilligend und racheheischend Morning Advertiser (man solle körperliche Züchtigung anwenden), Daily Expreß (these crazy riots, diese verrückten Aufstände), The Globe (die aufgeregten Damen sollten etwas verständiger und weiblicher sein). Votes for Women, 24. 11. 1911.
Nach dem Schaufensterzerschlagen vom 4. März 1912 und dem Vorgehen der Regierung: energisch für die W. S. P. U. Midland Evening News, Aberdeen Free Preß, Western Mail, Dublin Evening Herald; für die Regierung Times, Daily Graphic, the Tablet u. a. m. Votes for Women, 15. 3. 1911. Der Hauptgegner der Suffragettes, die Times, forderte während der Untersuchungshaft der drei Führer immer wieder ihre strenge Verurteilung, worauf Votes for Women stets antwortete, dies wäre Contempt of Court (Verhöhnung des Gerichts), dessen Spruch niemand vorzugreifen habe.
Ein Beweis der Doppelzüngigkeit der liberalen Presse: die Times mißbilligt die kämpfenden Suffragettes und billigt die gegen Homerule kämpfenden Männer von Ulster. (Ulster will fight and Ulster will be right.) Die liberale Presse billigt ihre Parteigänger, die konservative Versammlungen unterbrechen, und beschimpft die Suffragettes, die liberale Versammlungen stören. Votes for Women, 19. 4. 1911.
Durchweg für die Frauen treten ein der Manchester Guardian (liberal), The Christian Commonwealth (socialistisch). Eingehende, zustimmende Studien bringen die Zeitschriften The Nation, English Review, Contemporary Review u. a. m. – Die juristische und medizinische Seite werden erörtert in the Law Times und the British Medical Journal. Der Standard hat seit 1911 eine tägliche Woman's Platform eingeführt, die alle politischen und sozialen Frauenfragen behandelt und die Stelle einer Frauentageszeitung vertritt.
Denn Votes for Women, Oktober 1907 als Monatschrift gegründet, erscheint seit Mai 1908 als Wochenschrift. Es hat heute eine Auflage von über 30 000 Exemplaren. Votes for Women ist von völlig unterrichteten, kühl überlegenden Menschen geleitet, stets sachlich, auch in den kritischsten Augenblicken. In der Redaktion sind zwei Juristen (Mr. Pethick Lawrence und Christabel Pankhurst). Redaktion und Mitarbeiter kennen Geschichte, Gesetze, soziale Verhältnisse des Landes, stellen die Frauenforderungen stets in das gesamte nationale Leben, wissen stets Analogien aus der Geschichte anzuführen, kennen Parlament und Politik bis auf den Grund. Ein solches Blatt, das stets ruhig, selbstbeherrscht, seine Worte, sein Vorgehen, seine Feldzugspläne überlegen berechnet, ist an sich eine erstklassige journalistische Leistung. Es erschien drei Tage nach Verhaftung der Führer in ganz der alten Art, als sei nichts vorgefallen. Freilich enthielt es hier und da unbedruckte Stellen, weil der Drucker sich geweigert, das Manuskript zu setzen, es erschien ihm zu gefährlich. Unter diesen gefährlichen Stellen waren Zitate aus den Reden englischer Minister und Staatsmänner. Votes for Women, 8. 3. 1912. Votes for Women ist äußerst zuverlässig (es führt auch stets die Gegner an), reichhaltig, amüsant, humorvoll, manchmal spöttisch, vortrefflich geschrieben, bedeutend durch seine Redaktion, seine Mitarbeiter, die politische Satyre seines Zeichners (a Patriot) und ist das einzige Mittel, sich gründlich über die Bewegung zu unterrichten.
Die Engländer lesen es mit Leichtigkeit. Dem gewöhnlichen Zeitungsredakteur nicht englischer Zunge aber ist es ein Blatt mit sieben Siegeln. Und die englischen Verfassungs-, Parlaments-, Gesetzesverhältnisse sind so verwickelt, sich da auszukennen, fordert so viel Geduld und Zeit, und die vielgeplagten Korrespondenten haben schon so viel anderes und weit wichtigeres zu tun, und es sind doch nur Frauensachen, Weiberkram, minderwertig, inferior, und die eleganten Frauen und süßen Mädels sind so viel reizender und – sie sind die Männer, und sie haben die Macht. – – –
So entsteht aus Unwissenheit, Selbstsucht und Ärger das Zerrbild der »wilden Wahlweiber« in der internationalen Presse. Und da bisher der Mann allein nach seinem Sinne und nach seinen Maßen die Geschichte schrieb, vermögen wir aus obigem Vorgang zu ermessen, welche Gerechtigkeit die Vorgänger der Suffragettes (und deren gab es durch alle Zeiten) bei ihm gefunden haben.