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Die Thronreden der beiden Könige (Eduard und Georg VII.) haben sich bisher mit dem Frauenstimmrecht nicht beschäftigt. Das Ministerium (seit 1906 ein »liberales«) beschäftigt sich dauernd aber gezwungen und widerwillig damit. Ein Teil der Minister sind einstige Revolutionäre (J. Burns, Lloyd George), ein Teil der Minister und liberalen Parlamentarier verdanken ihre Wahl, ihre politische Karriere der aufopfernden politischen Arbeit der Liberalen Frauen. Selbst die sogenannten »Freunde« des Frauenstimmrechts im Ministerium aber treiben nur Lippendienst, sonst wären sie längst gegangen oder hätten ihre Kollegen überzeugt. Seit 45 Jahren wird mit dem Frauenstimmrecht im Parlament, von beiden Parteien, unwürdig gespielt. Den Frauen gegenüber gilt kein Versprechen und kein Ehrenpunkt. Ministerpräsident und Minister arbeiten mit Phrasen, Vertröstungen, Ausflüchten; die drei Minister des Innern (H. Gladstone, W. Churchill, R. Mac Kenna), denen nacheinander die Gefängnisse unterstanden, haben alles getan, um den Suffragettes das herkömmliche Recht politischer Gefangener zu verweigern, haben versucht die Bewegung durch falsche Anklagen, Insinuationen, durch offizielle Lügen Votes vor Women, 5. 7. 1912. »The prevalence of official lying.« Lord Lytton. – The Eye Opener, 29. 6. 1912. herabzusetzen, durch Gewalttat zu unterdrücken. Der Ministerpräsident hat die Frauen durch Polizeiaufgebot an der Ausübung ihres Petitionsrechts gehindert. Minister und liberale Abgeordnete haben Frauen, die in herkömmlicher Weise Fragen stellten, mit brutaler Gewalt entfernen lassen. Ein Teil der Liberalen ist gegen das Frauenstimmrecht. Die Iren, die eigentlich dafür sein sollten, haben es, um der Home rule Bill willen, verraten. Die Labour Party, die es für die Frauen fordert, entschließt sich, da sie die Liberalen braucht, trotzdem noch nicht, als Partei geschlossen gegen die Regierung aufzutreten. – Ministerworte, die die Suffragettes zu höhnen und verletzen, sie als überreizt, nervös, hysterisch, lügenhaft, ohnmächtig hinzustellen suchten, sind genug zitiert, um den gehässigen und kleinlichen Sinn zu bezeichnen, dem das ehr- und charakterlose Betragen der Liberalen entspringt. Minister Harcourt erklärte (Februar 1912), wenn alle Frauen wie Mrs. Harcourt, seine Frau, wären, würde er ihnen das Stimmrecht geben!
Diesen Politikern gegenüber stehen die parlamentarischen Kampfgenossen der Suffragettes, Mr. Keir Hardie, Mr. George Lansbury, Lord Lytton, »In der Politik wird ja viel gelogen (in bezug auf Mr. Lloyd Georges vielfältige Versprechungen), wir Männer, seit lange in der Politik, sind daran gewöhnt ... die Frauen aber sind neu und nicht so leicht zu täuschen.« die Parlamentarier, die Frauenstimmrechtsbills einbrachten, Mr. Dickenson, Stanger, Howard Sir George Kemp »Der wahre Grund, der so viele Männer zu Gegnern des Frauenstimmrechts macht, ist, daß sie ihre Macht nicht teilen wollen. Sie werden es nicht offen zugeben, aber diese mittelalterliche oder orientalische Anschauung, daß die Frau eine Sache ist, dem Mann zu Gefallen geschaffen, besteht nichtsdestoweniger. Die Männer möchten nicht das angenehme Gefühl ihrer Überlegenheit verlieren.« 28. 3. 1912. u. a. »Ich habe, sagt die amerikanische Frauenstimmrechtlerin Julia Ward Howe, gefunden, daß im ganzen immer die besseren Männer auf Seite der Frauen waren.«
Weshalb sperrt sich das liberale Ministerium im Grunde so eigensinnig und gewaltsam gegen die Frauenforderung? Das hat zwei Gründe, politische und psychische: Hätten die Frauen Wahlrecht, so hätten sie Macht; der männliche Politiker könnte sie dann nicht mehr kurzerhand von Berufen, guter Bezahlung und leitender Stellung ausschließen; es würde eine Neuverteilung aller guten Dinge der Welt erfolgen. Die liberale Regierung aber, die dauernd Arbeitsunruhen der Männer zu beschwichtigen hat (Ausstand, Arbeitslosigkeit, Gehaltsforderungen) denkt nur daran, die Männer zu befriedigen und zwar mit Vorliebe (denn irgend woher muß sie es doch nehmen) auf Kosten der Frauen, die den locus minimae resistentiae bilden, da sie politisch (und dadurch wirtschaftlich) wehrlos sind. – Die ganze Laufbahn des liberalen Ministeriums seit 1906 beweist dies, es hat dauernd die Männer bevorteilt und die Frauen geschädigt: Beschränkung der Frauenarbeit, Benachteiligung der weiblichen Arbeitslosen, Insurance Bill, Minimum Wage, Diäten der Abgeordneten, Manhood Suffrage etc. – Das Frauenstimmrecht erscheint den Parteipolitikern als eine lästige Störung.
Sie sind aber auch Männer und zwar Männer des alten Schlages, Liberale, deren Liberalismus bei der Frau aufhört. Die Frau ist ihnen ein hübsches oder ein nützliches Ding (womöglich beides), das man nimmt. Wurde doch eine der Frauendeputationen von dem Sekretär des Ministers wie folgt gekennzeichnet: »There is not one weekender amongst them.« (Weekend, die Zeit von Sonnabend nachmittag bis Montag früh, in der England sich elegant belustigt.) Sie haben also gar kein Verständnis für die moderne Frau, die ihnen als Suffragette entgegentritt. Freiheit und Rechte sind für den Mann. Will die Frau etwas, so muß sie lieblich sein, freundlich bitten und den »indirekten Einfluß« brauchen. Dann ist sie »weiblich«; dann bekommt sie vielleicht, was sie will. Vielleicht, wenn es dem Mann gefällt. Und wenn nicht? Dann muß sie sich bescheiden. Das ist »weiblich«, und etwas anderes gibt es für sie nicht. – Eine Frau, die sich dann nicht bescheidet, die weiter fordert, weiter begehrt, die widersteht, sich verteidigt, angreift, kämpft – ist keine Frau, ist keine Dame mehr; sie ist krank, überreizt, hysterisch, im Grunde also sehr »weiblich«. verächtlich oder bemitleidenswert. Ihr gegenüber fallen alle üblichen Rücksichten, die ihrem Geschlecht sonst gelten. Es fallen auch alle Rücksichten, die dem kämpfenden Mann gesichert sind. Denn die kämpfende, fordernde, nach Freiheit und Recht, nach Unabhängigkeit strebende Frau ist die Frau, wie sie nicht sein, ist die Frau, die gar nicht existieren soll, ein Monstrum, das ausgetilgt werden muß, das gar nicht zur Verbreitung kommen darf. – Das erklärt alle Brutalitäten und Treulosigkeiten gegen die Suffragettes.
Die Politiker und die Suffragettes stehen auf dem Boden ganz verschiedener Weltanschauungen. Die Politiker finden, die Welt könne ganz gut bleiben, wie sie ist; die Suffragettes, es sei höchste Zeit, sie von Grund aus zu ändern.
»Wir von der W. S. P. U. haben gewagt, die Gleichheit der Geschlechter vor Gott und Menschen zu behaupten, und dieser Behauptung sind wir bereit, unsere Ehre, unsere Freiheit, unser Leben zu opfern. An dieser Behauptung halten wir, allen Mächten der Finsternis gegenüber, fest. Stände unsere Seele toteneinsam gegen die ganze Welt, es erschreckte uns nicht. Wenn Sonne, Mond und Sterne donnernd »Nein« rufen sollten und wir in ewiger Nacht verschwinden, wir ständen aufrecht bis zum Letzten und riefen »Ja« zurück. Gegen diese Gleichheit kämpfen die Politiker.« Mrs. Pethick Lawrence. Votes for Women, 8. 12. 1911. Sie ist, mit Mr. Housman, die beste Feder der Suffragettes.
Zu diesen Grundsätzen des Ministeriums nun noch der gekränkte Mannesstolz, Ärger, Zorn, Wut, Grimm über die erlittenen Niederlagen. Das Gefühl, dunkel und nicht eingestanden, daß hier der größte Freiheitskampf der Welt gekämpft wird und das Ministerium dabei den Kürzeren zieht. Frauen zu weichen, ist für diese Männer ja eine Schande. So wehrt sich der alte Adam im 20. Jahrhundert noch in England, der Heimat des Parlamentarismus, des »gentlemen« und des »fair play« gegen die neue Frau und ihre Gerechtigkeit. Ein »angeekelter Liberaler« drückt das in den Worten aus: Das Vorgehen der Regierung gegen die Suffragettes ist »unmanly, ungentlemanly, unsportsmanlike und uncivilised«. Mr. Harben, Kandidat für Barnstaple, der die Kandidatur soeben abgelehnt hat. Votes for Women, 12. 7. 1912.