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Liber scriptus proferetur,
In quo totum continetur,
Under mundus judicetur.
Das Buch wird herbeigebracht werden, in dem alles enthalten ist, und aus dem die Welt gerichtet werden wird.
Thomas de Celano.
Voltaire, der, genauer angesehen, weit ernster gestimmt war als oberflächliche Betrachter von dem Verfasser der »Pucelle« wissen, hat eines Tages die Äußerung getan, daß einer, der sich anhaltend mit historischen Studien und Arbeiten befaßt habe, nicht mehr fähig sei, mit rechter Freude in das Leben zu blicken. In Wahrheit, es bedarf nur etwa noch eines Anflugs von Hypochondrie, um den Geschichtskundigen zu der pessimistischen Ansicht zu verleiten, die griesgrämig-religiöse Anschauung von unserer Erde als einem »Jammertal« sei doch nicht so ganz falsch, ja, dieses Jammertal sei geradezu nicht mehr und nicht weniger als eine Bühne, worauf Narren und Schurken das Drama agieren, das Weltgeschichte zu nennen sie miteinander übereingekommen sind. Auch wenn sich der Säure des Pessimismus die Süßigkeit des Humors beimischt, wird es der letztere kaum zu einem größeren Zugeständnis bringen als zu diesem, die Comoedia humana habe häufig bedenkliche Ähnlichkeit mit einer Comoedia diabolica, und Toren und Schelme spielten in ihr unbestritten die Hauptrollen.
Feste Nerven gehören dazu, und ein solid angelegtes Kapital von gesundem Menschenverstand ist erforderlich, um historisches Wissen mit unbeirrbarer Urteilskraft zu verbinden, mit einer Urteilskraft, die in dem ungeheuren Wirrsal ungleichartiger, in ihren Einzelheiten wenig erbaulicher oder auch geradezu anwidernder Erscheinungen das ewige Grundgesetz einer unendlich langsamen und schwierigen, aber stetigen und unaufhaltsamen Entwicklung nicht aus den Augen verliert. Der weltgeschichtliche Entwicklungsprozeß wäre aber keiner, könnte keiner sein, wenn er nicht ein sittlicher wäre. Die sittliche Idee ist demnach die Seele der menschlichen Zivilisation, das heißt der verschrottenden Vervollkommnung des gesellschaftlichen Zustandes. Der negative Motor dieses Vorschritts heißt Schuld, der positive Vergeltung. In der Tat, der ganze Verlauf der Weltgeschichte ist nur eine unendliche Notenfolge zum Texte des Jus Talionis (Recht der Vergeltung). Schiller, an dessen geschichtlichen Versuchen der gemeine Neid silbenstechender Kleinmeisterei früher schon und neuestens wieder den gewohnten Kitzel, »das Strahlende zu schwärzen«, geübt hat, Schiller, der mehr historischen Sinn besaß als Dutzende von zunftmäßigen Historikern zusammen, er sah mit Augen, wie sie eben nur Sehern, nicht aber Sitzfleischern von der Gattung der gedankenlos-gelehrten Wiederkäuer gegeben sind, die große »Vergelterin thronen mit des Gerichtes Waage«.
Solchen sehenden Augen sichtbar, thront sie auch an Orten, wo man sie wahrlich nicht vermuten sollte. Als im Sommer 1863 auf dem deutschen Fürstentage zu Frankfurt – diesem weltgeschichtlichen Armutszeugnis, dem sich an schneidender Schärfe nur etwa das in der Zeit von 1848 bis 1849 in derselben Stadt schwatzende deutsche Parlament gleichstellen läßt – der Kaiser Franz Joseph von Österreich es aussprach, daß »der deutschen Nation bislang die Mittel politischer Entwicklung entzogen gewesen seien«, da hat er wohl nicht daran gedacht, daß er das Sprachrohr der »Vergelterin« sei, welche ihn, den Erben der Lothringer-Habsburger, wenn auch in mildester Form, über seinen Großvater Franz und dessen Metternich, über Friedrich Wilhelm III. und dessen Hardenberg, über die deutsche Fürstenschaft der Vergangenheit und der Gegenwart, über die Heilige Allianzpolitik von Wien, Karlsbad und Olmütz das auf schuldig lautende Verdikt, den gerechten Verdammungsspruch fällen ließ.
»Gott heißt Vergeltung in der Weltgeschichte!« Dieses Wort, von dem unglücklichen Relejeff im Jahre 1825 am Strande der Newa gesprochen und wie ein slawisches Echo des bekannten Schillerschen klingend, tönt uns auch aus allen Akten und Szenen der ungeheuren Tragödie entgegen, welche Französische Revolution betitelt ist und immer und immer wieder die Blicke denkender Menschen auf sich zieht.
Es hat lange gewährt, bis eine allseitig unbefangene und gerechte, eine wahrhaft historische Anschauung und Würdigung des ungeheuren Ereignisses an die Stelle des blindeifrigen Für und Wider getreten ist. Denn obwohl in Wurzeln und Anfängen ein Produkt zwingender Notwendigkeit, wurde die Revolution mit einem Fanatismus, der dem christlichfrommen der Autos de Fé, der Bartholomäusnächte und der Dragonaden nichts nachgab, mit einer Leidenschaftlichkeit durchgeführt, welche rechts und links wiederum Leidenschaften entzünden mußte. Unmittelbar unter den Eindrücken der Schreckenszeit und ihrer Nachwehen wurde es guter Ton, die Revolution in Bausch und Bogen zu verdammen. Dann kam Napoleon, um mit seinem Gloirelack die verblaßten Züge der Liberté vollends zu überpinseln. Hierauf erfüllte das Heilige-Allianz-Elend die Welt, eine Zeit, wo die Menschen- und Völkerrechte förmlich in Acht und Bann getan wurden und eine zwischen Opiumrausch und Blödsinn schwankende Romantik den gesunden Menschenverstand als den ärgsten aller Verbrecher verfolgte. Da war es denn ganz in der Ordnung, daß die armseligstservilen Kapuzinaden gegen die glorreichen Ideen und titanischen Taten der Französischen Staatsumwälzung hergegeifert wurden. Nun aber erfolgte ein Umschlag. Die allmählich wieder sich sammelnde und kräftigende Vorschrittspartei in Europa und vorab in Frankreich griff – gerade wie die Reaktion ihrerseits auf das Mittelalter zurückgegriffen und es zweckdienlich schöngefärbt hatte – auf die Erinnerungen der Revolution zurück und stutzte sie zweckdienlich zu, die Lichtseite in die volle Beleuchtung rückend, die Schattenseite unter der Draperie achselzuckender Phrasen möglichst verbergend. So kam es, daß in den Händen der Parteien die Geschichte der Französischen Revolution zu einem bloßen »Phantom« ward, an welchem die einen die Gottgefälligkeit des Obskurantismus und Despotismus, die anderen die Vorzüge des Liberalismus und Demokratismus aufzeigen.
Endlich aber sind wir doch dazu gelangt, ohne so oder so gefärbte Parteibrillengläser uns das grandiose Revolutionstrauerspiel anzusehen, das den aristotelischen Satz, daß die Tragödie da sei, um durch Schrecken und Mitleid zu wirken und dadurch die Leidenschaften zu reinigen, welthistorisch veranschaulicht. Wir wissen jetzt, daß wir ein ungeheures Wechselspiel von Schuld und Sühne, von Frevel und Strafe vor uns haben, und unter allen gebildeten Nationen Europas sind Geschichtsschreiber von bedeutenden Gaben und lauterem Willen aufgestanden, um uns die einzelnen Akte und Szenen des beispiellosen Dramas bis ins einzelne hinein vor Augen zu führen. Auch ist eine bewundernswerte Geduld und Mühewaltung darauf verwendet worden, die tausendfach verschlungenen Fäden der Revolutionsursachen bloßzulegen. Gerade in dieser Richtung ist jedoch manches noch zu tun, um insbesondere der fortgesetzten bedientenhaften Schwarzmalerei des großen Ereignisses gegenüber deutlicher aufzuzeigen und klarer zu veranschaulichen, daß die Revolution mit allen ihren Schrecken nur die naturnotwendige, unausbleibliche Vergeltung der Verschuldung des Ancien Régime gewesen ist.
Für diesen Satz wird die nachstehende Episode aus der Geschichte der konstituierenden Nationalversammlung einen unwiderleglichen, einen sozusagen mathematisch strikten Beweis beibringen.
Ende November 1789 benachrichtigte der redliche, strenge, aufrichtig fromme Jansenist Camus die Nationalversammlung, daß ein geheimes Verzeichnis der höfischen Verschleuderungen der Staatsgelder existiere, das den Titel »Das rote Buch« führe. Dies hieß der Versammlung ein sehnlich begehrtes Wild zeigen und den Jagdruf erheben. Alsbald begann auch die Hatz.
Camus hatte es eigentlich nur darauf abgesehen, durch Einsicht in den » Livre rouge« dem Pensionenunwesen zu Leibe gehen zu können. Allein der Skandal nahm rasch viel größere Dimensionen an: es wurde ein tüchtiger Hebel zum Umsturz der Monarchie.
Die Nationalversammlung beschloß auf die erwähnte Anregung hin, es sollte die Liste sämtlicher Pensionäre des Hofes veröffentlicht und zu diesem Ende das rote Buch gedruckt werden. Dieser Beschluß jagte dem Finanzminister Necker, der die Geheimnisse des roten Buches gar wohl kannte, gewaltigen Schrecken ein, und er wußte seine Bedenken, so viel Schmähliches bekannt werden zu lassen, auch dem Finanzausschuß der Nationalversammlung einzuflößen. Minister und Ausschuß wollten die widerwärtige Sache durch parlamentarischen Hokuspokus, wie ja Minister und Ausschüsse solchen in derartigen Fällen immer bei der Hand haben, vertuschen. Aber das ging nicht. Der unerbittliche Camus gab keine Ruhe, und zudem waren die Ausflüchte, die Bekanntmachung des geheimen Ausgabebuchs zu unterlassen, gar zu dumm. Entblödete man sich doch sogar nicht, mit der kläglichen Lüge vor die Nationalversammlung zu treten, die Veröffentlichung des roten Buches sei fast eine Unmöglichkeit, da die Druckkosten kaum weniger als 280 000 Livres (!) betragen würden. Die Versammlung beantwortete diese ungeheuerliche Dummheit damit, daß sie das Anerbieten des Pariser Buchdruckers Baudoin, das Buch umsonst zu drucken, annahm.
Neckar stand auf glühenden Kohlen oder saß auf Nadelspitzen. Er hat eben auch in dieser Angelegenheit, wie auf seiner ganzen Laufbahn bewiesen, daß er nur in den Augen seiner Tochter ein großer Mensch und Minister gewesen ist. Die Tragweite seines Blickes ging im Grunde niemals über die Wände eines Bankierkontors hinaus. Statt den Argwohn, den die Existenz des roten Buches wachgerufen hatte, durch rasche Veröffentlichung desselben und durch den leicht erbringlichen Nachweis, daß es auch etliche für den Staatsdienst mehr oder weniger notwendige Ausgabeposten enthielte, zu dämpfen und zu mindern, mehrte und durchgiftete er vielmehr diesen Argwohn durch eine ängstliche Heimlichtuerei und setzte dem laut und lauter anschwellenden Rufe: »Das rote Buch! Das rote Buch!«, den die Nationalversammlung und die Presse alltäglich erhoben, wahrhaft kindische – Neckereien entgegen. Bald hieß es, das unselige Buch befände sich gerade in den Händen des Königs; bald, der Herr Minister habe keinen Augenblick Zeit, sich mit dieser Sache zu befassen; bald, der Herr Minister sei krank und gänzlich außerstande, seinen Drangsalierer Camus zu empfangen. Aber der hartnäckige Jansenist ließ nicht ab von der Fährte des Wildes, und da seine Geduld zu Ende war, so erhob er in der Sitzung vom 5. März 1790 so bestimmte und herbe Klagen gegen Necker, daß die Versammlung mittels eines ernsten und bündigen Votums dem Minister aufgab, das rote Buch ihrem Pensionsausschuß auszuliefern, dessen Obmann Camus war.
Noch zehn Tage zog Necker die Sache hin, dann aber, am 15. März, teilte er in Gegenwart seines Kollegen Montmorin dem genannten Ausschüsse das Buch mit, dessen Einband von rotem Maroquin so viele häßliche Mysterien umschloß. Die allerhäßlichsten sollten aber unbekannt bleiben. Ludwig XVI. hatte nämlich bei Auslieferung des Buches die Bedingung gestellt, daß der Inhalt der Blätter desselben, worauf die geheimen Ausgaben seines Großvaters verzeichnet waren, nicht bekannt werden sollte. Der Finanzausschuß ehrte diese einem Pompadour- und Dubarry-Louis gegenüber übelangebrachte Enkelpietät und ließ daher die betreffenden Blätter mit einem Papierbande verkleben. Das ganze Buch enthielt zweihundertzweiundzwanzig Blätter. Die ersten zehn waren mit Ausgaben während der Regierung Ludwigs XV., die folgenden zweiunddreißig mit Ausgaben während der Regierung Ludwigs XVI. angefüllt; die übrigen waren leer.
Am 18. März zeigte Camus der Nationalversammlung an, daß das rote Buch endlich ausgeliefert sei. In den ersten Tagen des Aprils schon war es gedruckt, und aus seinen Blättern ging ein Getöse hervor und über Frankreich hin, als wäre des alten Äolus bekannter Sturmsack geplatzt Livre rouge, Paris 1790. Der Inhalt dieser Separatausgabe des fatalen Buches wurde auch im Moniteur von 1790 veröffentlicht, in den Nummern 78, 97, 98, 101, 107, 109, 111, 113, 117..
»Endlich haben wir das rote Buch!« triumphierte Camille Desmoulins in der einundzwanzigsten Nummer seiner » Révolutions de France et de Brabant«. »Die Kommission der Pensionen hat die sieben Siegel gelöst, welche es verschlossen hielten, und erfüllt ist die furchtbare Drohung des Propheten: Revelabo pudenda tua! (Ich werde deine Scham aufdecken!) Du sollst nicht einmal ein Feigenblatt finden, um angesichts der Welt deine schmachvolle Nacktheit zu verhüllen, nein! Man wird deinen ganzen Aussatz erblicken und auf deinen Schultern die Brandmarke: Galérien – welche du, Ancien Régime, so wohl verdient hast.«
Noch nachdrücklicher und eindrucksvoller sprach sich in seinem Journal » Révolutions de Paris« der strenge Loustalot aus, wohl einer der tüchtigsten und ehrenhaftesten Menschen von damals. »Während der letzten Jahre Ludwigs XV. und seit der Throngelangung Ludwigs XVI. ist das Elend der Bevölkerung Frankreichs immer größer geworden. In den Städten verbarg ein sinnloser Luxus, der so ziemlich alle Klassen gleichmäßig verdorben hatte, nur notdürftig eine furchtbare Armut. Auf dem Lande waren die Bauern in der Nähe der Städte von allen Lastern der letzteren angefressen und von einer mit der Liebe zur Arbeit unverträglichen Raubgier besessen. Weiter in die Provinzen hinaus lebten die Landleute in zerfallenen Hütten, waren mit Lumpen angetan und nährten sich großenteils mit schlechtem Schwarzbrot, mit Wurzeln und Wasser. Nächst dem Los der Bauern war das des Soldaten das jammervollste. Um nicht daran zu zweifeln genügt es, das Kommißbrot ( pain de munition) gesehen zu haben. Die Hauptursache von allem diesem Elend war die Verschwendungswut eines schwelgerischen Hofes, wo Julien und Messalinen mit Klaudiussen und Neronen um den Preis der Infamie stritten, wo jedes Vergnügen die Ruhe einer Million Menschen kostete, wo Gold das Verbrechen und das Verbrechen Gold zeugte und wo die französische Nation weniger galt als ein Rennpferd oder sonst irgendein Spielzeug … Lest das rote Buch!«
Und man las es, man staunte, lachte, knirschte mit den Zähnen, schrie auf vor Entrüstung und Zorn. In Wahrheit, Camille hatte recht: die »Pudenda« der Monarchie waren entblößt. Wenig auch nützte es, daß die Unzuchtkosten des Dubarry-Louis mit einem Papierstreifen verklebt waren; denn die Lotterwirtschaft, wie sie unter des »sittenreinen« und »haushälterischen« sechzehnten Ludwig Regierung mit den Staatsgeldern getrieben worden und wurde, reichte gewiß allein schon aus, die revolutionäre Stabbrechung über ein solches Königtum vollständig zu rechtfertigen.
Um jedoch gerecht zu sein, muß man sagen, daß die Gesamtsumme der geheimen königlichen Ausgaben, die in dem roten Buche verzeichnet waren, an und für sich betrachtet, nicht als eine unmäßige sich darstellte. Sie betrug nämlich von 1774-1786 nicht mehr als 227 985 517 Livres, und es befanden sich darunter, wie schon erwähnt worden, etliche staatsdienstliche Kostenposten, obzwar nur wenige (» Affaires de finances« – » Affaires étrangères et postes«). Die öffentliche Entrüstung aber wurde wachgerufen durch die Entdeckung, wie, wofür und an welche Leute die Staatsgelder so schamlos vergeudet worden, auch unter und von dem »sparsamen« und »gewissenhaften« Sechzehnten.
Da waren zuerst die beiden Brüder des Königs, der Graf von Provence und der Graf von Artois. Diesen beiden Herren bezahlte der Staat zusammen jährlich für ihre Prinzenschaft 8 240 000 Livres, eine für damals gewiß sehr anständige Apanage. Allein sie genügte bei weitem nicht. Dem roten Buche zufolge hatte der liederliche Verschwender Artois nur während Calonnes Finanzministerschaft neben seinem regelmäßigen Einkommen nicht weniger als 14 550 000 Livres außerordentlich aus der Staatskasse bezogen, um die Schulden seines Lotter- und Lasterlebens zu bezahlen, was Calonne dem König als notwendig vorgestellt hatte, »um die Gemütsruhe des Prinzen zu sichern«, und Ludwig XVI. genehmigt hatte, weil die Gemütsruhe einer so hohen Person mit vierzehn Millionen, dem zerlumpten und hungernden Volke abgepreßt, denn doch nicht zu teuer erkauft war. Der »philosophische« und nur »seinen Studien lebende« Provence hatte sich begnügt, innerhalb derselben Frist nicht mehr als 13 824 000 Livres außerordentlich aus dem Staatsschatz zu beziehen. Sehr teuer kam das französische Volk auch das Kindbetten der Prinzessinnen zu stehen. Für ihre Mühewaltung, den Duc de Berry zur Welt gebracht zu haben, bezog die Gräfin d'Artois 24 078 Livres und sieben Jahre später abermals » pour son accouchement« wiederum 24 000; dazwischen hinein auch 24 078 Livres » comme simple cadeau«.
Die Rubrik » Dons et gratifications« enthielt überhaupt allerliebste Ausgaben. Zum Beispiel: dem Herrn von Croismard 50 000 Livres, um ihn »in den Stand zu setzen, das Gut Voisins zu kaufen«. Dem Herrn Gourdin 15 000 Livres, »damit er die Charge des Herrn Gaffe zu kaufen vermöge«. Dem Polizeigeneralleutnant Sartines »zur Bezahlung seiner Schulden« 200 000 Livres. Dem Herrn de Lamoignon 200 000 Livres. Der Madame de Maurepas 166 000 Livres. Der Gräfin von Albany, weil sie die Frau des Prinzen Eduard Karl Stuart, 60 000 Livres jährlich. Dem Herzog von Polignac ein Geschenk von 1 200 000 Livres zum Ankauf der Domäne Fenestrange. Derselbe Seigneur, notorisch eine der gefräßigsten und verderblichsten Hofwanzen, bezog eine jährliche lebenslängliche Pension von 120 000 Livres. Die verschiedenen Mitglieder der Familie Polignac, gemeinschädliches Geziefer allesamt, hatten zusammen Pensionen von mehr als 700 000 Livres.
Das Pensionskapitel war überhaupt ein absonderliches, märchenhaftes. Die Prinzen von Geblüt – o Himmel, was war das mitunter für »Geblüt«! – verschmähten es, obgleich mit Gütern und Reichtümern aller Art ausgestattet, keineswegs, noch jährliche Pensionen im Betrage von 2 555 000 Livres einzusacken. Mit ihnen wetteiferte die hochnoble Familie Noailles, deren Mitglieder in Form von Pensionen und Gratifikationen jährlich um nahezu zwei Millionen die Staatskasse erleichterten. Ein Herr Desgalois de la Tour hatte drei Pensionen, zusammen 22 720 Livres; die erste »als erster Präsident und Intendant«, die zweite »als Intendant und erster Präsident«, die dritte » pour les mêmes considérations«. Dem Marquis d'Autichamp waren vier Pensionen zugeteilt; die erste »für die von seinem verstorbenen Vater geleisteten Dienste«, die zweite »ebendafür«, die dritte »ebendeshalb«, die vierte »ebendeswegen«. Ein deutscher Prinz besaß gleichfalls vier Pensionen: die erste »für seine Dienste als Oberst«, die zweite »für seine Dienste als Oberst«, die dritte »für seine Dienste als Oberst«, die vierte »für seine Dienste als Nichtoberst ( pour ses services comme non-colonel)«. Dem Generalanwalt Joly de Fleury gab man eine lebenslängliche Jahresrente von 17 000 Livres dafür, »daß er seine Stelle an seinen Sohn abgetreten«. Die Gräfin d'Ossun, Staatsdame der Königin, war mit einer Pension von 20 000 Livres bedacht. Der Haarkräuseler Ducrot hatte eine lebenslängliche Pension von 700 Livres jährlich, weil er ein Prinzessintöchterlein des Grafen Artois »frisiert« hatte, welches gestorben, bevor es Haare gehabt. Es gab Pensionäre, die unter ihren eignen Namen, dann unter denen ihrer Frauen, ihrer Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern in den Listen figurierten. Nicht minder solche, welche wie zum Beispiel eine Marquise de la Force, längst gestorben und begraben, dennoch wunderbarerweise fortfuhren, ihre Pensionen zu beziehen. Mit welcher bronzestirnigen Schamlosigkeit die Minister zu ihren und ihrer Familie Gunsten dies Unwesen, diese ruchlosen Diebereien trieben, kann das Beispiel des Marschalls und Kriegsministers de Ségur zeigen. Obgleich vom Könige mit Gnadenbeweisen und Geschenken überhäuft, obgleich für seine Person an Besoldungen und Pensionen jährlich 98 622 Livres beziehend, obgleich in den Stand gesetzt, nicht weniger als elf Mitgliedern seiner Familie – darunter, wie er angab zehn Offizieren, von denen sich aber bei näherem Zusehen vier als Mädchen herausstellten – Pensionen zuzuteilen, hatte der Mensch noch die Frechheit, im Jahre 1787 von dem König weiter zu erbitten: ein erbliches Herzogtum, 60 000 Livres Pension, 15 000 Livres Pension für seine zwei Kinder und eine Barsumme, um seine Schulden zu bezahlen.
Also wurde unter des »gewissenhaften« und »sparsamen« Sechzehnten Regiment mit den Staatsgeldern gewirtschaftet. Vergleicht man mit diesen Summen und vergleicht man auch mit den weiteren, welche die Königin Marie Antoinette, die eine untertänige Spucknapfhistorik neuestens mit aller Gewalt zu einer Heiligen umschönfärben möchte, mit vollen Händen an die flüchtigsten Modetorheiten und Weiberlaunen, sowie an ihre Günstlinge, die Polignacs, Coigny, Dillon, Fersen, wegwarf, die winzigen Bagatellen, welche im roten Buche unter der Rubrik »Almosen« zu finden sind, so wird man auch wissen, was man von der vielgerühmten Christlichkeit und Barmherzigkeit Ludwigs und seiner Frau zu halten hat. Der Ausgabenetat für König und Königin persönlich wurde im Jahre 1789 auf fünfundzwanzig Millionen jährlich »beschränkt«, – ein Einkommen, womit, wie man denken sollte, ein »haushälterischer« Familienvater und eine »verkannte deutsche Frau« schon hätten auskommen können.
Es konnte nicht fehlen, daß da und dort ein Blick der Neugier auch hinter den Papierstreifen zu dringen suchte, womit im Originalexemplar des roten Buches die Schandausgaben des fünfzehnten Ludwig verklebt waren. Nur eine Probe von den Miasmen, welche von dort hervorstanken: Als die Dubarry in ihrer Stellung als neue Haupt- und Staatsmätresse feierlich bei Hofe eingeführt und vorgestellt wurde, gab sich Madame Katherine de Béarn dazu her, der » Maitresse en titre« bei dieser Einführung und Vorstellung zur »Patin« zu dienen, wie man das nannte, und erhielt für diese schmachvolle Gefälligkeit 20 000 Livres. Das französische Volk hatte demnach das Vergnügen, 20 000 Livres dafür zu bezahlen, daß eine ehrlose Dame eine aus dem Pfuhl der Pariser Gassenprostitution aufgelesene Dirne in das »Ochsenauge« des Versailler Schlosses begleitete.
Und da will man sich noch wundern, daß ein allezeit zwischen Extremen, zwischen Sokkus und Kothurn, zwischen Sklaverei und Empörung, zwischen Infamie und Gloire hin und her sich werfendes Franzosentum bei Enthüllung aller dieser Schändlichkeiten in Wut ausgeborsten ist? Der Terrorismus von 1792-1794 schrieb den roten Kommentar zu dem roten Buche von 1790.