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Dabei sucht meine Muse nicht zu dichten.
Nur Fakta sammelt sie von hier und dort.
Sie pflegt zu mäß'gen sich und gern zu sichten.
Doch singt sie gern der Menschen Tat und Wort.
Wohl ward an ihr getadelt dieses Richten,
Denn zuviel Wahrheit lockt nicht eben fort;
Und war' ihr Ziel, was Glorie sie benennen, –
Nach anderm Stoffe sollte sie entbrennen!
Lord Byron.
Donnerstag, den 12. April 1694 ging vom sogenannten fürstenbergischen Hause an der Elbbrücke aus ein prächtiger Leichenzug durch die Straßen von Dresden.
Schwarz gekleidet, mit Ober- und Untergewehr bewaffnet, bildete die Bürgerschaft der Hauptstadt von Kursachsen Spalier, wie ihr »bei Strafe« befohlen worden war. Sie mußten lange stehen und warten, diese guten, geduldigen, in echt lutherischer Gottes- und Fürstenfurcht gezeugten, geborenen und erzogenen Bürger von Dresden; denn erst zur achten Abendstunde setzte sich der Leichenkondukt in Bewegung in dem Scheine der an den Straßenecken lodernden Wachtfeuer und der von acht zu acht Schritten längs der Straßen brennenden Pechfackeln.
Den Zug eröffneten sechs Hofdiener in langen schwarzen Mänteln, weiße Wachsfackeln tragend. Folgten zwei Marschälle mit schwarzen Stäben. Diesen zweiundsechzig Schüler mit langen Flören und weißen Wachslichtern. Dann kam der Hausstand der Verblichenen: Hofmeister, Stallmeister, Kammerjunker, Pagen, Lakaien, der »Kammermohr« und der »Kammertürke«, alle langbemantelt und in einer wahren Wolke von Flor wandelnd. Hinter diesem Gesinde der sechsspännige Leichenwagen, mit fürstlichem Pomp geschirrt und geschmückt. Wappenschilde hingen an beiden Seiten des mit schwarzem Sammet überzogenen Sarges. Dem Leichenwagen zur Seite schritten Hofherren mit weißen Wachsfackeln, und hinterdrein ritten zwei Marschälle. Hierauf folgte die vergoldete Staatskarosse, in der der Kurfürst Johann Georg IV. in großer Trauer saß. Neben der Karosse gingen sechzehn Trabanten mit schwarzen Hellebarden, von denen silberne Troddeln niederhingen. Wieder zwei Marschälle. Dann der Bruder des Kurfürsten, der Herzog Friedrich August, später als August »der Starke« Europa mit dem Rufe seiner Laster erfüllend, in sechsspänniger Kutsche, von Wachslichtern tragenden Trabanten und Pagen umgeben. Abermals zwei Marschälle. Hierauf der Oberhofmarschall von Haugwitz in zweispänniger Kutsche, der Kammerherr von Neitschütz in einem schwarzüberzogenen Einspänner, vierundfünfzig zweispännige Wagen, angefüllt mit Kavalieren und Hofleuten; endlich zum Schlusse sechs Lakaien mit Fackeln.
Alle Glocken der Stadt begannen zu läuten, sowie die Prozession sich in Bewegung setzte. Bei ihrem Vorüberkommen präsentierten die Bürger das Gewehr. Sie ging über den Neumarkt und von da durch die große Frauengasse und die große Brüdergasse in die Sophienkirche. Hier wurde der Sarg vor dem Altar niedergesetzt, um unter Choralgesang »eingesegnet« zu werden. Dies geschehen, wurde er in das Gruftgewölbe hinter dem Altar gebracht, wo verschiedene Mitglieder der kurfürstlichen Familie bestattet worden waren.
Und wem zu Ehren wurde denn dieser Begräbnisprunk aufgewendet? Wer war die Tote, welche man so pomphaft in eine Fürstengruft geleitet hatte?
Eine Metze.
Wollen wir Deutschen an der Geschichte unseres Landes Freude haben, so müssen wir uns vorzugsweise an die kulturhistorischen Kapitel derselben halten. In diesen treten die herrlichen Gaben und edlen Eigenschaften unseres Volkes leuchtend hervor: die hohe Intelligenz, die rege Phantasietätigkeit, das reiche Gedankenleben, der stille Fleiß, die unermüdliche Arbeitslust, die pflichtbewußte Wirtschaftlichkeit und der strenge Ordnungssinn – alles durchzogen von jenem poetischen Hauch, der in dem vielverspotteten und doch einzigschönen Worte »Gemüt« seinen sprachlichen Ausdruck gefunden hat. Dieses Seelenvolle, dieses »Gemütliche« der deutschen Kulturarbeit war es auch, das dem Deutschtum im Hochsinne seiner Bedeutung einen wesentlich weltbürgerlichen Charakter verliehen hat. Alle unsere wahrhaft großen Männer, unsere wirklichen Helden waren Weltbürger.
Zu solchen sie zu machen half allerdings auch der Anblick der einheimischen staatlichen Zustände. Wen hätte das Bild des Heiligen-Römischen-Reichsweichselzopfes nicht anwidern sollen? Statt in dem Krähwinkel der engen Heimat Philister zu sein, wollten denkende, wissende und fühlende Menschen in dem Idealstaat der weiten Welt Bürger werden. Aus der jammerhaften Knechtseligkeit deutschkleinstaatlicher Wirklichkeit retteten sich die Lessing und Kant, Goethe und Schiller in die Freiheit eines kosmopolitischen Wolkenkuckuckheims.
Die Lesung der politischen Geschichte unseres Landes ist für einen Deutschen von Geist und Herz eine Marter. Falls der gute Abbé Grégoire diese Geschichte gekannt hätte, würde er seinen berühmten Spruch » L'histoire des rois est le martyrologe des peuples« – zweifelsohne also ins Deutsche übersetzt haben: – Die Geschichte der deutschen Staaten und Stätchen ist durchschnittlich nur die Skandalchronik der Laster und Frevel der deutschen Despoten und Despötchen. In den unendlichen Reihenfolgen von deutschen Fürsten und Fürstchen fällt das ermüdete Auge selten auf einen, auf dessen Person und Tun es mit Wohlgefallen ausruhen kann. Es ist denkwürdig, zu sehen und zu sagen, daß und wie in der Regel die guten Gaben, Vorzüge und Tugenden der deutschen Rasse auf den oberen und obersten Sprossen der sozialen Leiter mehr und mehr, ja ganz und gar sich verloren haben. Dem dünkelhohen und schamlosen Übermut droben entsprach dann die niederzüchtige und schamlose Untertänigkeit drunten. Zwischen diesen beiden Extremen mitteninne hielten sich in zwei unter sich wiederum scharf getrennten Abstufungen ein bettelhafter Hof- oder roher Krautjunkeradel und ein verkrähwinkeltes Spießbürgertum.
Die sogenannte Reformation des 16. Jahrhunderts hat auf das staatliche Leben Deutschlands keineswegs verjüngend und veredelnd eingewirkt. Das Luthertum ist von seiner dogmatischen Fixierung an, welche etwa mit dem Aufenthalt seines Stifters auf der Wartburg zusammenfällt, eine Doktrin der Knechtseligkeit gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben. Ein in der Wolle gefärbter Lutheraner kann niemals ein freier Mensch und Bürger werden. Die lutherische Bonzenschaft ist darum der Freiheit des Menschen und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker noch gefährlicher als die römische. Die Muckerei entmenscht, entbürgert und versklavt die Leute noch viel nachhaltiger als der Ultramontanismus.
Eine Vergleichung der protestantischen Höfe des 16. und 17. Jahrhunderts mit den katholischen zeigt die Fabel von dem veredelnden Einfluß der Reformation sofort als solche auf. Hat es jemals einen jesuitischeren Politiker gegeben, als der Hort des »Protestantismus«, Moritz von Sachsen, einer gewesen ist? Seine Tochter Anna, welche der schweigsame Oranier zu heiraten so unglücklich war, machte sich als die größte Säuferin ihrer Zeit berühmt. Die »alamodische Ausländerei«, das aus Sodom stammende »welsche« Laster, die rasende Vergeudung, das französische Mätressenwesen – alle diese Zuchtlosigkeiten fanden an den protestantischen Höfen Deutschlands noch früher Aufnahme und eifrigere Pflege als an den katholischen. Der Kurfürst Joachim II. von Brandenburg war der erste deutsche Fürst, welcher die Kebsenwirtschaft schon ganz im Stile des »Hofes der Lilien« trieb. Am Hofe von Kassel ging um 1614 eine Liederlichkeit im Schwange, welche mit teutonischer Roheit Parisische Raffiniertheit vereinigte. Eine geradezu schweinische Völlerei tobte etliche Jahre früher am Hofe des Kurfürsten Christian II. von Sachsen, den die Unzucht zum Krüppel gemacht hatte, und der sich schließlich zu Tode soff. Am Hofe von Hannover nahm das Galanteriestück Graf von Königsmark und Kurprinzessin Sophia Dorothea im Jahre 1694 einen grausenhaften Ausgang. Wo blieb denn, darf man billig fragen, in alledem die aus der angeblichen »Vertiefung« des religiösen Sinnes entsprungene vielgepriesene »sittlichkräftigende« Wirkung der Reformation? Die Wahrheit ist, daß jeder Vorschritt zu einer vernunftgemäßeren Anschauung wie zu einer geläuterten sittlichen Lebensführung dem protestantischen Christentum ebenso tapfer abgekämpft werden mußte wie dem katholischen.
In demselben Jahre, wo im Schlosse von Hannover der Buhler der Kurprinzessin auf Betreiben der Mätresse des Kurfürsten (Gräfin von Platen) seine »galante« Laufbahn in einer Blutlache endigte, gab in Dresden das Ableben der kurfürstlichen Mätresse das Signal zum Ausbersten eines Skandals, der ebensosehr die Sittenlosigkeit als den simpelhaften Afterglauben der vornehmen Kreise bloßlegte.
Am 8. Februar 1675 wurde dem Herrn Rudolf von Neitschütz von seiner Frau Ursula Margareta von Haugwitz ein Töchterlein geboren, das den Namen Magdalena Sibylle erhielt C. Ehr. Gretschel, Geschichte des sächsischen Volkes und Staates, 1841 fg.; Lettres historiques 1794; J. Fr. Klotzsch, Sammlung vermischter Nachrichten zur sächsischen Geschichte. 10. Bd. 1775; Büsching, Magazin für n. Historie und Geographie, Bd.8, S.461 fg.; Hasche, Magazin, Bd. 3; Journal für Deutschland. Jahrg. 4, S. 304fg.; Schletter, Annalen der Kriminalrechtspflege, Jahrg. 1849, Dezemberheft; Bülau, Geheime Geschichten und rätselhafte Menschen, Bd. 3, S. 1 fg.; Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 31.. Die Kleine wuchs in Dresden auf und kam infolge der Stellung ihres Vaters, der unter dem Kurfürsten Johann Georg III. Generalwachtmeister und Kommandant der Reitergarde war, von Kindheit an in häufige und vertrauliche Beziehungen zum Hof und zu den höfischen Kreisen. Der Herr von Neitschütz war allem nach ein Baron im lateinischen Sinne des Wortes und geht uns weiter nichts an, da er sich in das Listen- und Lüsteleben seines Weibes und seiner Tochter nicht gemischt hat Bei Büsching heißt er ein Mensch »von gar schlechten Qualitäten«, welcher, was er geworden, durchaus nur dem Einflusse seiner Frau bei Hofe zu verdanken hatte. Anderwärts wird er ein »stattlicher Kavalier« genannt, welcher gut zu »courtisieren, zu turnieren und zu bankettieren« verstand.. Frau Ursula Margarete dagegen ist eine Charakterfigur der aristokratischen Sittenverderbnis von damals. Galant, intrigant, kupplerisch und habsüchtig, verband sie mit diesen Eigenschaften den rohesten Aberglauben. Selbstverständlich jedoch war sie, obzwar ein wahres Laster von Weib, geehrt und beschmeichelt, solange ihre Glückstage währten, und ebenso selbstverständlich suchten sich die Menschen für die eigene Gemeinheit an ihr zu rächen, sowie sie von der dem Mißgeschick Verfallenen nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu fürchten hatten. Dann machte sich der Klatsch in seiner ganzen Unerbittlichkeit über sie her und beschuldigte sie unter anderem auch, die Buhlerin des Kurfürsten Johann Georg III. gewesen zu sein und von diesem ihre Tochter Magdalene Sibylle empfangen zu haben – eine Beschuldigung, welche wohl nur aus der Begierde erfloß, die Skandalgeschichte dieser Tochter zu einer himmelschreienden zu steigern, indem man die Kebse Johann Georgs IV. zu seiner Schwester machte.
Die junge Sibylle – Billchen hieß sie in der Familie und wurde sie später auch von ihrem kurfürstlichen Liebhaber genannt – wurde von ihrer Mutter ganz im Sinn oder Unsinn der französischen Galanterie erzogen, welche vom bourbonischen Hofe her ihre verpestenden Miasmen über Europa ausströmte. Das Resultat entsprach der Methode. In einem plastisch gebauten, wie zur Wollust geschaffenen, frühzeitig, ja vorzeitig entwickelten Körper eine leichte, lockere, lüsterne Seele, ohne alle höhere Bildung, nicht einmal des allergewöhnlichsten Liebesbriefstils mächtig, ganz ohne sittlichen Halt, gemeindenkend, nur auf materiellen Luxus und sinnliches Vergnügen gerichtet, war das dreizehnjährige Nichtkind eine vollendete Kokette, welche statt mit Puppen mit Liebhabern spielte und zwar – mit einem unserer mittelalterlichen Novellisten in Versen zu reden –
»als man in der werlde pflit
ze spielen mit der minne.«
Sibylle war schön, aber schön wie die Sünde. Ihre Schönheit war das Gegenteil der Mädchenhaftigkeit. Ihre Stirn war hübsch gebaut, aber man sah ihr leicht an, daß auf ihr niemals die »holde Scham« gethront
»Mit jenem weichen Schmelz, der wie ein Duft von Rosen
Um keusche Mädchenstirnen fließt« –
sondern diese Stirn trug den Stempel frecher Üppigkeit und harmonierte vollständig mit den großen, wollüstig schwimmenden Augen und mit den begehrlich geöffneten Lippen. Über dem ganzen Gesicht lag der Ausdruck geistiger Unkultur und Trägheit wie ein leichter Flor. Dieses Mädchen, das nie Kind gewesen, konnte mit seinen üppigen Formen, mit seiner ganzen auf den Sinnenreiz angelegten Erscheinung für eine Verkörperung des Ideals einer Odaliske gelten. Der arme König Lear würde sie sicherlich sofort unter jene Weiber eingereiht haben, von denen er, aus der gebundenen Redeweise in die ungebundenste überspringend, sagt:
Vom Gürtel nieder sind's Zentauren,
Wenn auch von oben Weib.
Nur bis zum Gürtel geht der Götter Reich,
Was drunter, ist des Teufels.
Dort ist die Hölle, dort die Finsternis,
Dort ist der Schwefelpfuhl, Brennen, Sieden, Pestgeruch,
Verwesung – pfui, pfui, pfui!
In welchem Rufe die fünfzehnjährige Sibylle stand, erhellt schon daraus, daß, als eines Tages auf dem Taschenberg der oberflächlich begrabene Leichnam eines neugeborenen Kindes gefunden wurde, die öffentliche Meinung von Dresden ganz allgemein das Fräulein von Neitschütz als die Mutter dieses unmittelbar vor oder nach der Geburt getöteten Kindes bezeichnete. Hinsichtlich des Vaters dieses angeblichen Jungfernkindes war man weniger einig, indem einige glaubten, der Monsieur Saladin, französischer Sprachlehrer Sibylles, sei der Übeltäter, andere dagegen behaupteten: »Nein, der Herr Oberst und Oberkriegskommissarius Klemm hat es getan.« Soviel ist gewiß, daß der letztgenannte Kavalier von den redseligen Dresdenern als derjenige bezeichnet wurde, der der dreizehn- oder vierzehnjährigen Sibylle etwas genommen habe, was einem mittelalterlichen Scholastiker zufolge der Herrgott selbst nicht wiederzugeben vermag. Zwei andere Hofherren, der Oberhofmeister von Haxthausen und der Kammerjunker von Vitzthum, schienen sich mit ernsteren und ehrenhafteren Absichten dem Quasi-Fräulein nähern zu wollen. Mutter und Tochter unterließen auch nichts, diese Freier zu ermutigen. Jene ging sogar Hexer und Hexerinnen um Rat an und verübte mit Hilfe derselben allerhand blödsinnig-zauberische Praktiken, um ihre Tochter ins Haxthausensche oder Vitzthumsche Ehebett zu befördern. Allein diesmal fruchtete weder der Schönheitzauber der jungen noch der Hexenzauber der alten Neitschütz. Die Freier zogen sich zurück, und den Grund hat wohl Bülau richtig angegeben in seiner Frage: »Widerte vielleicht die beiden Herren bei näherer Bekanntschaft das wollüstige Kind an und fürchteten sie, in Sibylle keine reine Gattin zu erhalten?«
Möglich ist aber auch, daß die beiden Höflinge einem Nebenbuhler, der nicht viel später dem Fräulein zu hofieren begann, keine Konkurrenz machen wollten, nämlich dem Kurprinzen Johann Georg. Sobald dieses Wild sich zeigte, gaben Mutter und Tochter die Jagd auf Haxthausen und Vitzthum sofort auf, und gemeinschaftlich rüsteten und richteten sie alle Netze, Fallen und Köder, über welche ausgelernte Koketterie und abgefeimte Kuppelei zu verfügen hatten.
Die Jagd gelang, das Wild ging in die Falle, und die beiden Jägerinnen trugen Sorge, die Beute festzuhalten.
Es ist nicht mit völliger Sicherheit zu bestimmen, wann die Leidenschaft für das üppige Mädchen den Kurprinzen zu besitzen angefangen hat. Denn förmlich besessen war der junge Mann von dem Zauber sinnlicher Reize, welche seiner eigenen starkausgeprägten Sinnlichkeit lockend entgegenkamen. Von seelischen Bezügen war in diesem ganzen Verhältnis, dessen Beginn in das Jahr 1688 zu setzen sein möchte, nie eine Spur. Die bildungslose, hohle Kokette konnte dem Prinzen nie etwas anderes sein denn ein Lustweibchen. Er liebte Sibylle leidenschaftlich, wie – der Kater die Katze und der Spatz die Spätzin liebt. Wahrscheinlich wäre seine Verstrickung nie so weit gediehen, wie sie gedieh, wenn nicht die Kuppelkünste der alten Neitschütz nachgeholfen hätten. Wenigstens sagte Johann Georg eines Tages zu seiner Mätresse: »Billchen, es wäre mit unserer Inklination nicht so weit gekommen, wenn nicht deine Mutter gewesen; die ist kapable, einem alles zu überreden.«
Die Verliebtheit des Prinzen war seinen Eltern sehr anstößig, namentlich seiner Mutter, der ehrbaren und frommen Kurfürstin Anna Sophie. Sibylles Ruf war schon dermaßen zugrunde gerichtet, daß, wie erzählt wird, sogar der Herzog Friedrich August an dem Verhältnis sich stieß und, um seinen Bruder zu ernüchtern, zu ihm sagte: »Sei kein Narr! Laß dir kein X für ein U vormachen! Die hat schon mancher gehabt, z. B. ich selber.« Indes ist nicht eben wahrscheinlich, daß einer der ärgsten Unzüchtlinge, welche jemals gelebt, sich gedrungen gefühlt hätte, vor der Unzucht zu warnen. Dagegen ist sicher, daß mütterliche Besorgnis es zunächst noch über Unzucht und Kuppelei davontrug. Die Kurfürstin setzte es durch, daß der Kurprinz, um von der jungen Neitschütz abgezogen zu werden, vom Jahre 1689 an seinen Vater auf den Feldzügen gegen die Franzosen am Rhein begleiten mußte. Allein Johann Georg wurde dadurch von seinem Schaden nicht geheilt.
Das zeigte sich sofort, als der Prinz vom Sterbebett seines zu Tübingen im September 1691 von einer Lagerseuche weggerafften Vaters weg als Kurfürst nach Dresden zurückgekehrt war. Denn einer der ersten Regierungsakte Johann Georgs IV. ist gewesen, daß er ganz à la Louis XIV. die jetzt sechzehnjährige Neitschütz zu seiner Mätresse öffentlich erklärte, was in Sachsen, wo eine derartige Staatsaktion bislang noch nicht vorgekommen war, großes Aufsehen erregte, auch etliches Pamphletieren und Pasquillieren in den oberen, einiges fromme Gemurr in den unteren Gesellschaftsschichten zur Folge hatte, selbstverständlich aber im übrigen hingenommen wurde als eine Schickung von Gottes Gnaden. Im Oktober geleitete die edle Mutter Neitschütz ihre nicht minder edle Tochter eines Abends ins Schloß, um Billchen dem Kurfürsten zu überliefern. Es steht aktenmäßig fest und ist von der Dame selber zugestanden, daß sie sich vor das Bett setzte, in welchem der Kurfürst mit Sibylle Hochzeit machte, und daß sie, bevor sie sich entfernte, das Lager »mit gemachten Kreuzen einsegnete«. So »sittlichend« hatte das Luthertum auf Frauen der vornehmen Welt gewirkt!
Natürlich machte die Frau Baronin nicht umsonst die Kupplerin, Zuführerin und Bettsegnerin. Ein kurfürstlicher Gnadenregen von Geschenken aller Art, Juwelen, Leibrenten, Häusern, Landgütern, Ämtern und Würden ergoß sich auf Sibylle und die ganze edle Familie. Der Kurfürst war auch eifrig darauf aus, die Schönheit seiner Favoritin den Leuten zu zeigen, und machte daher Sibylle zur Königin einer ganzen Reihe von glänzenden Festen. Da konnte die Eitelkeit der Dirne in den Huldigungen schwelgen, die ihr von dem vornehmen Pack und Pöbel dargebracht wurden.
Doch spielte keineswegs der ganze Hof dieses Pack- und Pöbelspiel mit. Man war in Dresden des Skandals einer so frech offenkundigen Mätressenwirtschaft noch zu ungewohnt, um allgemein Gefallen daran zu finden. Auch regte sich gegen das Glück der Neitschütze heftiger Neid. Endlich hatte die Kurfürstin-Mutter einen starken Anhang, der der Mätresse entgegenstand. Anna Sophie wähnte, mittels eines passenden Ehebundes würde ihr Sohn aus seiner buhlerischen Verstrickung zu lösen sein, und der Kurfürst ging auf nach dieser Richtung hin gewandte Weisungen und Bestrebungen seiner Mutter ein, woraus doch wohl geschlossen werden darf, daß ihn der Umgang mit Sibylle selber nicht ganz befriedigte. Er willigte in eine standesgemäße Heirat, allein die Diplomatie der Kurfürstin-Mutter traf nicht die richtige Wahl, als sie zur Gemahlin des Kurfürsten die Prinzessin Eleonore Erdmuthe Luise von Sachsen-Eisenach erkor, seit 1686 Witwe des Markgrafen Johann Friedrich von Anspach. Die Prinzessin war zwar keineswegs schon ganz verblüht, sondern noch hübsch genug, aber doch dreißigjährig und sechs Jahre älter als Johann Georg.
Trotzdem billigte dieser, durch das Zureden seiner Mutter bewogen und wohl auch verblüfft über die Symptome von Mißbilligung, welche die Neitschützerei hervorgerufen, die ihm angesonnene Heirat und schien sogar entschlossen, mit Sibylle zu brechen und die Dirne mit einer Pension von 4000 Talern abzulohnen. Noch mehr, er sprach von ihr als von einer »Canaille« und sagte, das, wie bereits erwähnt worden, auf dem Taschenberg gefundene tote Kind möge wohl von dieser »Canaille« sein. So gestimmt und gesinnt begab sich der Kurfürst zu Anfang des Jahres 1692 nach Berlin, um sich mit der am dortigen Hofe lebenden Markgräfin-Witwe von Anspach zu verloben. Der Zauber schien also gebrochen.
Aber er war es nicht.
Kaum von seiner Verlobungsfahrt nach Berlin zurückgekehrt, lag der Kurfürst abermals in den Fesseln Sibylles und war die vor wenigen Wochen en canaille Behandelte wieder das »herzallerliebste Billchen«. Zieht man diesen schroffen Wechsel in Betracht und rechnet man dazu den dicken Aberglauben an Hexen und Zauberkünste, der in den niedrigsten wie in den höchsten Klassen grassierte, so ist leicht erklärlich, daß man von einer »Verzauberung« des Kurfürsten zu munkeln begann; zumal es in Dresden nicht verhohlen war, daß Mama Neitschütz mit allerhand »geheimen Praktiken« schon früher sich abgegeben hatte. Freilich blieb es bei Lebzeiten des Kurfürsten beim bloßen Gemunkel und Gezischel.
Ebenso alt in den Künsten der Buhlerei, wie jung an Jahren, hatte Sibylle es dem sinnlichen Manne ganz und gar angetan, so daß er nicht mehr von ihr lassen konnte. Aber, um sich mit dem Brandenburger Hofe nicht zu zerwerfen, wollte er auch sein Verlöbnis mit der Markgräfin-Witwe nicht brechen, und das Heiratsgeschäft ging demzufolge vorwärts. Die fürstliche Braut kam im April nach Leipzig, der Kurfürst erwartete sie dort, und gewiß ist es für die deutschen Fürstensitten von damals kennzeichnend, daß Johann Georg seine Kebse nach der genannten Stadt mitnahm, und daß er neben der Neitschütz im Fenster stehend den Einzug der Prinzessin ansah. Wie unter sotanen Umständen der kurfürstliche Bräutigam seine prinzeßliche Braut empfing, kann man sich unschwer vorstellen. Kühl, kalt, geradezu unhöflich und abstoßend. Falls dem Flunkerer Pöllnitz zu glauben wäre, hätte Johann Georg die arme Eleonore Erdmuthe Luise, welche eine schwere Sammetrobe trug, beim Empfang mit den Worten angerasselt: »Sie müssen wohl toll sein, daß Sie bei diesem heißen Wetter ein Kleid von Sammet tragen.« Man glaubt die daneben stehende Kebse zu sehen, wie sie sich vor Lachen ausschüttet und sich kaum die Mühe gibt, dabei den Fächer vor den üppigen Mund zu halten.
Diesem Anfang entsprach der Fortgang der Sache. Am 27. April 1692 erfolgte die Vermählung des Kurfürsten mit Eleonore Erdmuthe Luise zu Torgau, aber mit einer der Zeitsitte grell widersprechenden, für die Braut und ihre Verwandten geradezu beleidigenden Stille und Prunklosigkeit. So wollte es die Mätresse, welche überhaupt keinen Anlaß unbenutzt ließ, zu zeigen, daß sie die eigentliche, wahre und wirkliche Herrin des Landesherrn sei, die Oberkurfürstin sozusagen. Der Kurfürst versuchte nun zwar mit seiner Gemahlin als Ehemann zu leben, aber es ging nicht. Sein Kammerdiener Rousseau hat nachmals vor Gericht angegeben, der Kurfürst habe öfter geklagt, »es müßte ihm doch etwas gemacht worden oder im Bette sein, daß wenn er bei seiner Gemahlin bleiben wollte, ihm ganz übel und so angst würde, daß er darüber schwitze, und wäre es auch nicht anders, als wenn ihn jemand bei dem Arm aus dem Bette herausreißen wollte und er sich übergeben sollte, und hielte diese Beschwerlichkeit so lange an, bis er wieder in sein Gemach käme« – allwo ihn, wohl verstanden, die Mätresse zu erwarten pflegte. Darin lag die »Verzauberung«, die den Fürsten aus dem Ehebett trieb, nicht darin, daß Mama Neitschütz, wie man ihr schuldgab, das Schlafzimmer der Kurfürstin heimlich mit einem »verdächtigen Rauchwerk« hatte ausräuchern lassen, um die Ehegatten »einander gram zu machen«.
Daß diese würdige Mutter einer gleich würdigen Tochter derartige Zauberpossen wirklich trieb, untersteht jedoch keinem Zweifel. Die Frau Generalin – Herr von Neitschütz avancierte nämlich um der Verdienste willen, welche seine Tochter um den Landesherrn und folglich, da bekanntlich Fürstenwohl Volksglück ist, auch um das Land sich erwarb, zum Generalleutnant – die Frau Generalin stand ja mit Personen in Verbindung, welche aus dem Aberglauben ein Geschäft machten, d. h. auf die heilige Dummheit spekulierten. Neben dem Scharfrichter von Dresden, Melchior Vogel, erscheinen in dieser Bande als Traumdeuterinnen, Wahrsagerinnen, »Planetenleserinnen«, Amuletteverfertigerinnen und Liebesgiftköchinnen die »Hexe« Margarete aus dem Spreewald, die Traummarie, die Burmeisterin, die Lindnerin, die Krappin und andere. Mit den Fabrikaten dieser Sippschaft war die kurfürstliche Mätresse versehen und behängt. Sie besaß »ein gewisses Pulver, so von solcher Kraft, daß, wenn man es einem auf den Kopf streute, derselbe nicht böse auf ihr sein konnte, welches Pulver aus einer Muskaten, so die Besitzerin dreimal verschluckt gehabt und durch sich gehen lassen, verfertiget war«. Sibylle trug auch ein zauberkräftiges Armband, »so aus des Kurfürsten Haaren gemachet gewesen«. Ferner trug sie »auf der linken Brust in einem kleinen güldenen Büchslein einen Liebesteufel, so Fränzel geheißen«. Aber der rarste Talisman, den sie besaß, war doch ein »sonderliches Säckchen«, welches sie in dem »Schubsacke des Unterrocks« mit sich führte und »worinnen, wie vermutet, spiritus familiares waren« Die Vorstellung vom » spiritus familiaris« ist nur eine Abart des Aberglaubens vom Alraun. Zusammenfassenden Aufschluß geben die Brüder Grimm in Nr. 84 und 85 der »Deutschen Sagen«. Unsere größte Dichterin, Annette von Droste-Hülshoff, hat in ihrer poetischen Erzählung »Der spiritus familiaris des Roßtäuschers« diesen Volksglauben in genialster Weise behandelt.. In diesem »sonderlichen« Säckchen befanden sich zwei »Läpflein, deren eines von des Fräuleins Hemde, darinnen sie menstruo laborieret, das andere aber Kurfürstliche Durchlaucht beschwitzet und welche beide besagtes Fräulein nebst der Kuhlauin (ihrer Gesellschafterin) an einem Karfreitag in der Bartholomäikirche, die Liebe zwischen Sr. Kurfürstlichen Durchlaucht und mehrbesagtem Fräulein feste zu machen, zusammengewickelt, in eine Schachtel versiegelt und heimlich, als man die Passion sang, auf den Altar gesetzet, um den Segen darüber sprechen zu lassen«.
Solchen Zauberkünsten war gewiß schwer zu widerstehen, namentlich wenn man, wie der »verzauberte« Kurfürst tat, an bedenklicher Gehirnschwäche litt. Es ist das im wörtlichen, im physischen Sinne zu nehmen; denn Johann Georg hatte im Sommer von 1692 ein Abenteuer bestanden, wodurch seine geistigen Kräfte beeinträchtigt worden. Ein Sturz vom Pferde nämlich hatte ihm eine Gehirnerschütterung zugezogen. Nun ist es aber eine bekannte Tatsache, daß die Schwächung der Intelligenz und Willenskraft keineswegs auch eine Minderung der Sinnlichkeit zur Folge hat. Im Gegenteil, die letztere wird um so unbändiger, je mehr sie des geistigen Zügels ledig geworden. Johann Georg IV. lieferte hierfür einen traurigen Beweis, indem er nach seinem gemeldeten Unfall ganz sklavisch dem Sinnenzauber sich fügte, den Sibylle von Neitschütz über ihn verhängte. Seit vollends das »Fräulein« sich guter Hoffnung fühlte – welches Gefühl im Herbste 1692 sich einstellte – schien der Kurfürst nur noch da zu sein, um die Gelüste und Wünsche der Kebse zu erfüllen.
Die Wünsche flogen jetzt hoch und immer höher, Mama Neitschütz aber lenkte und leitete den Flug. Als Johann Georg die frohe Botschaft vernahm, Billchen werde ihn zum Vater machen, kratzte er sich hinter den Ohren und äußerte gegen die Kammerjungfer der Mätresse, Elisabeth Nitschin, das Kind müßte heimlich geboren und auferzogen werden. Da fuhr aber die Frau Generalin dazwischen mit den Worten: »Ei, Herr Cheses, das wäre mir scheen! Ich gebe so ein Kind der Canaille nicht in die Hände. Der Kurfürst soll es machen wie der König von Frankreich.« Sie meinte damit zweifelsohne, Johann Georg sollte es mit seinem zu erwartenden Bankert halten, wie Ludwig XIV. es mit seinen Bastarden hielt, welche ja ganz auf Prinzen- und Prinzessinnenfuß behandelt wurden. Oder auch schwebte ihr vor, daß der König von Frankreich seine letzte Mätresse, die glatte Schlange Maintenon, unlängst förmlich geheiratet hatte. »Der Kurfürst«, sagte die würdige Mutter zu ihrer würdigen Tochter, »muß dich vor seine Frau halten. Du mußt es ihm sagen. Er muß alles tun, was du haben willst: es ist nur um einen Sturm zu tun. Sonst werden die Leute dich vor seine Hure halten.«
Der »Sturm« wurde veranstaltet und tat seine Wirkung. Zeitig im Jahre 1693 stellte der Kurfürst seinem geliebten Billchen eigenhändig ein Dokument aus, worin er »kund und zu wissen« tat, daß er seine Verbindung mit dem »Fräulein« für »eine rechte Ehe halte und erkenne«, und weiterhin erklärte: »Sollte also Gott uns in solchem diesem Ehestand segnen, so bekenne frei vor männiglich, daß solche vor meine rechte und nicht unrechte Kinder zu halten sein. Um aber keine Zerrüttung und Streitigkeit in dem Kurhause anzufangen, sollen diese meine rechte Kinder keinen Teil an denen Landen und Kurwürden haben und allein diese meine Ehefrau Gräfin und sie Grafen genannt werden.« Das Wunderlichste des wunderlichen Aktenstückes kam aber am Schlusse desselben zum Vorschein. Es hieß da nämlich: »Ich will mir ausgenommen haben, frei zu sein, noch eine Frau zu nehmen und zwar von gleichem Geblüt mit mir, welche den Namen vom Kurfürsten führen und ihre durch Gottes Gnade von mir zeugende Kinder die rechtmäßigen Erben dieser Kur und Lande sein sollen, indem keineswegs in der heiligen Schrift zwei Weiber zu haben verboten, sondern Exempla anzuführen wären, worinnen es selber von unserer Kirche zugelassen.«
Das Exempel, das Johann Georg im Auge hatte, war die bekannte Bigamie des Landgrafen Philipp von Hessen, welche ja Luther und Melanchthon in liebedienerischer Weise gebilligt hatten. Schade übrigens, daß der Kurfürst nicht 130 Jahre später lebte, zur Zeit, als der Gauner Joe Smith die Handschrift von Salomon Spauldings albernem Roman » The manuscript found« in die Mormonenbibel (» Book of Mormon«) umhumbugte Siehe das 1. Kapitel der trefflichen »Geschichte der Mormonen« von Moritz Busch, 1870.. Denn Johann Georg hätte einen richtigen Mormonen abgegeben.
Das Dokument, kraft dessen der Kurfürst das »Fräulein« von Neitschütz, mormonisch zu reden, sich »ansiegelte«, wurde auf den 16. Oktober 1691 zurückdatiert – so 'ne kleine Fälschung kann Einen von Gottes Gnaden nicht sehr behelligen – damit die Neitschütz, falls die Zulässigkeit einer Doppelehe nicht durchzuführen wäre, jedenfalls für die erste Gemahlin Johann Georgs, d. h. für die ihm zuerst angesiegelte gelten könnte. Zur gleichen Zeit erfolgte die in dem Aktenstück schon angedeutete Standeserhöhung der Kebse, indem Kaiser Leopold I. auf Ansuchen des Kurfürsten für sie ein Reichsgrafendiplom an- und ausfertigen ließ, kraft dessen sie zur Gräfin von Rochlitz gemacht wurde, wasmaßen – wie es in dem vom 4. Februar 1693 datierten Diplom hieß – »Kaiserliche Majestät die sichere Nachricht haben, wesgestalten gedachte Magdalene Sibylle Neitschützin aus altem adeligem Geschlechts entsprossen, welcher auch viel vornehme Familien in dem Heiligen Römischen Reich und Blutsfreundschaft verwandt seindt, der Rittertaten ihrer Voreltern zu geschweigen.«
Der neugebackenen Gräfin wurde jetzt ein eigener Haushalt und Hofstaat eingerichtet, und zwar in dem sogenannten fürstenbergischen Hause an der Elbbrücke, welches durch den »schwarzen Gang« mit dem Schloß in Verbindung stand. Eine Frau von Arnim diente der Kebse als Hofmeisterin, das Fräulein Agnes von Kuhlau als Gesellschaftsdame. Das Laster hat zu allen Zeiten nur vornehm zu sein gebraucht, um vornehme Lakaien und Mägde zu haben. Die Kunst geht nach Brot und der Adel nach Braten. Unterm 17. März 1693 machte ein Erlaß des Kurfürsten sämtlichen Behörden und angestammten Sachsen die Grafung seiner Beischläferin als ein wichtiges und erfreuliches Ereignis kund. Über was alles haben deutsche Untertanen sich schon freuen müssen!
Die kaiserliche Gefälligkeit war eine kurfürstliche Gegengefälligkeit wohl wert. Im Mai des genannten Jahres trat Johann Georg der großen Allianz bei, welche Wilhelm III. gegen Frankreich zuwege gebracht hatte. Der Kurfürst machte sich gegen Kaiser Leopold verbindlich, 12 000 Mann an den Rhein zu führen, und er kam dieser Verbindlichkeit im Juni nach. Selbstverständlich nicht gratis; denn England gab ihm 400 000 Taler Subsidien und ließ auch die Gräfin von Rochlitz hören, wie hübsch englische Guineen klängen: – es flossen mehr als 40 000 Taler aus der englischen Staatskasse in den »Schubsack« der Kebse, der nicht nur für »Zaubersäckchen« Platz hatte.
Die Allianz- und Subsidienverträge deutscher Reichsfürsten mit England waren schon damals nichts anderes als Menschenfleischlieferungstraktate; nur verstanden zu dieser Zeit die deutschen Fürsten das »Machen« in Menschenfleisch noch nicht so gut, wie es ihre Herren Nachfolger in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstanden. Johann Georg IV. und seine zeitgenössischen Mithändler sind nur lausige Krämer gewesen, verglichen mit den großen Spekulanten, wie solche zur angegebenen Zeit tätig waren, insbesondere unter den drei Menschenfleischgroßhandelsfirmen: Landgraf von Hessen-Kassel, Herzog von Braunschweig und Herzog von Württemberg. Aber »Fürstenwohl ist Volksglück«, und da sich's die Chefs der genannten Firmen und ihre Kompagnons wohl sein ließen, so wohl, daß sie mit den Gesellen in Auerbachs Keller singen konnten: »Uns ist ganz kannibalisch wohl« – so mußten folglich ihre getreuen Untertanen glücklich sein. Wie glücklich, steht mit Höllenfeuerlettern in Schillers »Kabale und Liebe« geschrieben. Aber freilich, dieser Schiller gehörte trotz seiner klassischen Vornehmheit und vornehmen Klassizität im Grunde doch auch zu der nie genug zu verdammenden Rotte Gog, Ma- und Demagog, welche Altar und Thron unterwühlt. Ist ihm darum ganz recht geschehen, daß, als er nach einem Leben voll Arbeit und Sorge gestorben, nicht einmal soviel Geld im Hause war, um seinen Sarg zu bezahlen; ja, ganz recht, denn –
Was trug er auch sein Haupt so frei, so stolz
Und hob es über Lump und Kompanie
Hinweg, empor bis zu der Sterne Kreis!
Die Kebse begleitete den Kurfürsten ins Feld, d. h. sie ließ in den rheinischen Städten ihren Luxus und ihren Übermut sehen. Nebenbei mochte es ihr ratsam erscheinen, den »verzauberten« Mann nicht aus den Augen zu lassen. In Frankfurt a. M. gebar Sibylle im Juli 1693 eine Tochter, welche später, reich ausgestattet, an einen polnischen Grafen Dunin verheiratet wurde. Nach beendigtem Feldzuge mit ihrem Unterhändler nach Dresden zurückgekehrt, mußte die Gräfin mit nicht geringem Verdrusse wahrnehmen, daß ihr Wochenbett Folgen gehabt, welche ihre Gesundheit und, was noch schlimmer, ihre Schönheit zu zerstören drohten. Die Kränkelnde mußte befürchten, daß zugleich mit ihren Reizen auch die »Verzauberung« des Kurfürsten abnehmen würde – eine Befürchtung, welche vollständig gerechtfertigt war bei einem Weibe, dessen Mittel nur sinnliche gewesen sind. Nicht ein einziger gewinnender Zug, nicht ein einziger anmutiger Scherz, nicht ein einziges gutes Wort wird uns von der Kebse gemeldet. Odaliskenfleisch, Haremsfutter, sonst nichts, gar nichts.
Die alte Neitschütz erkannte die Gefahr und beschloß, einen großen Schlag zu tun. Die Konsequenzen des seltsamen Eheversprechens, das dem Kurfürsten abgelistet worden, sollten jetzt gezogen werden. Man steuerte darauf los, daß Johann Georg seine »Doppelehe« förmlich und feierlich anerkennen sollte. Wäre Sibylle erst als Neben- oder Hauptkurfürstin anerkannt, so könnte man der Verblühten nicht so ohne weiteres den Laufpaß geben. Die Kreaturen der Neitschützerei wurden angewiesen, in dieser Richtung tätig zu sein. In der Vorderreihe dieser Kreaturen durfte natürlich auch ein Bonze nicht fehlen, der erst neulich zum Superintendenten von Pirna ernannte Johann David Schwerdtner, welcher auch den kurfürstlichen Bankert zu Frankfurt getauft hatte. Diesem Ehrwürdigen wurde die Urheberschaft eines im Ungeschmacke der Zeit zubereiteten Fühlers zugeschrieben, welcher zur Sondierung der öffentlichen Meinung erschien unter dem Titel: »Liebe zwischen Prinz Herzmuthen, Prinzen in Albinien, und Fräulein Theonilden, oder drei Reimschaften, worinnen die Theonilde dem Fürsten in Albinien ihre Liebe anträgt, worauf der durchlauchtigste Prinz Herzmuth, auf geschehenen Vortrag an seine Gemahlin, eingehet und die durchlauchtigste Prinzessin Patientia Victrix diesfalls selbst entschuldiget. Wobei zugleich von der Frage, ob das viele Weibernehmen zu gestatten? gehandelt wird.« Die Allegorie dieser im Bombast- und Laszivstil eines Hofmanswaldau oder Lohenstein gehaltenen Reimerei war so handgreiflich, daß jedermann in dem Prinzen Herzmuth den Kurfürsten, in der Prinzessin Patientia die Kurfürstin, und in Theonilde die Sibylle Neitschütz erkennen mußte. Was für rohe Naturlaute dazumal selbst im feinsten Hofton mitunterliefen, erfährt man, wenn an einer Stelle das zarte Fräulein Theonilde ausruft:
»Ach, warum kann ich nicht verrecken und erbleichen?«
und eine echt lutherisch-knechtschaffene Politik predigt aus den Versen:
»Es darf sich auch der Prinz nicht vor Gesetzen scheuen,
Er ist aus Fürstenblut, so Rechte brechen darf« –
allein seltsamerweise zieht der untertänige Reimer aus seinen Prämissen nicht ganz die entsprechenden Schlüsse. Zwar betont er, daß ja in der Bibel die Fürsten angewiesen würden, »im Notfall« zwei Weiber zugleich zu haben, aber er läßt dann doch wieder seinen Prinzen Herzmuth sagen, daß dieser von »Zweigemahlschaft« nichts wissen wolle. Die Prinzessin Patientia sperrt sich anfänglich heftig gegen eine Mitprinzessin und meint, die »geile Brunst« des Prinzen würde wohl vorübergehen. Sie entschuldigt auch diese Brunst mit den Worten:
»Mein Prinz kann nichts dafür, er liebte mich von Herzen,
Wenn nicht ein Zaubergeist an seiner Seite hing« –
in welcher Wendung man später eine sehr bedenkliche Andeutung finden wollte. Schließlich indes unterwirft sich, ob auch nur mit halben Worten, die gute Patientia der alttestamentlichen Ansicht, welche ihr Herr Gemahl über Liebe und Ehe hat.
In der Wirklichkeit erging es der Patientia-Eleonore Erdmuthe Luise zu jener Zeit schlimm und immer schlimmer. Die ganze Neitschützische Blase machenschaftete gegen die arme Fürstin und reizte den willenlosen Kurfürsten gegen sie auf. Infolgedessen fanden bei Hofe sehr häßliche Auftritte statt. Bei einem derselben, welcher im Februar 1694 im Schlosse Pillnitz spielte, benahm sich Johann Georg ganz wüst und wild gegen seine Gemahlin. Es war damals die Rede davon, die Kurfürstin nach Freiberg zu verbannen, oder gar, sie einzutürmen.
Sibylle und ihre Mutter faßten zu jener Zeit ernstlich den Gedanken ins Auge, der Kurfürst müßte sich, da eine alttestamentliche »Zweigemahlschaft« sich doch nicht wohl verwirklichen ließ, von seiner Gemahlin scheiden lassen, um seine Mätresse in aller Form zur Kurfürstin zu machen. Die alte Neitschütz bildete sich ein, diese Erhebung würde leichter zu bewerkstelligen sein, wenn ihre Tochter statt Gräfin Fürstin hieße, und ließ daher durch ihren Schwiegersohn, den Geheimrat von Beichling, am kaiserlichen Hofe die Erhebung der Gräfin von Rochlitz in den Reichsfürstenstand betreiben. Um zu seinem Zwecke zu gelangen, soll der Unterhändler in der Wiener Hofburg haben durchblicken lassen, die Gräfin würde ihre Fürstinkrone mit ihrem Übertritt zum Katholizismus bezahlen und auch den Kurfürsten in die alleinseligmachende Kirche nachziehen. Aber auch das half nicht. Der Kaiser Leopold fand das Begehren der Metze unverschämt und wies, seine habsburgische Unterlippe noch bedeutend weiter als sonst herunterhängen lassend, es zurück mit den unwirschen Worten: »Was Fürstin, Fürstin! Kursachsen hat Fürstin genug an seiner preiswürdigen Gemahlin!«
Das Tröstliche an den irdischen Dingen ist ihre Dauerlosigkeit. Die menschliche Torheit und Niedertracht werden nur dadurch erträglich, daß sie in ewiger Metamorphose begriffen sind. Dummheit, Gemeinheit und Bosheit bleiben ihrem Wesen nach allerdings ewig dieselben, aber sie wechseln unaufhörlich Formen und Farben, und dieser tausend- und hunderttausendfache Formen- und Farbenwechsel macht die » Tragicomoedia humana« genießbar. Schon der bloße Gedanke, daß die große Posse immer die gleiche und die Komödianten stets dieselben sein könnten, muß Grauen und Entsetzen erregen. Die fortwährenden Verwandlungen der Szene, die rastlosen Änderungen der Dekorationen, der Kostüme, der Mimik und der Deklamation, sie bringen immer wieder die wohltätige Illusion hervor, das Stück sei ein neues. Oberregisseur Tod sorgt auch in der Regel für einen zeitigen Aktschluß, bevor Neugier und Verwunderung der Langweile Platz gemacht haben. In der Regel! Denn der Ausnahmen sind viele. Komödianten, welche weltgeschichtliche Rollen tragieren, pflegen sich um so länger auf der Bühne zu halten, je größer der Frevel ist, der sie hinaufgehoben hat. Verbrecher wie der vom 18. Brumaire 1799 und der vom 2. Dezember 1851 gastieren lange. Natürlich! Menschen und Völker ertragen aus innerster Wahlverwandtschaft das Lügenhafte, Gemeine und Böse viel lieber und länger als das Wahrhafte, Edle und Gute. Wer Macht über Menschen erlangen will, darf nicht auf die guten Instinkte und Regungen derselben, sondern muß auf ihre Laster und Leidenschaften spekulieren. Er muß, wie die Bonaparte es taten, die menschliche Selbstsucht in ihrer gemeinsten Form zum einzigen Wertmesser der Ideen und Erscheinungen machen.
Die niedrige Hofposse »Der verzauberte Kurfürst« spielte nicht lange. Man wähnte noch mitten im Stücke zu sein, als der genannte Regisseur das Klingelzeichen zum Fallen des Vorhangs gab.
Die kurfürstliche Kebse kränkelte seit ihrem Wochenbett fortwährend, und weil die Ärzte zu unwissend waren, die Krankheit zu erkennen, oder auch weil sie zu lakaienhaft, um geradeheraus zu sagen, daß das frühzeitige Lasterleben Sibylles ihre Gesundheit zerrüttet hätte, gaben sie geheimnisvolle Winke und Hindeutungen, der Patientin dürfte wohl etwas »Unrechtes« beigebracht worden sein. Dieses Gemunkel verstieg sich bis zu der Infamie, nicht undeutlich die Kurfürstin zu bezichtigen, sie hätte ihrer Nebenbuhlerin Gift beibringen lassen. Sehr wahrscheinlich hat nur das rasche Hereinbrechen der Katastrophe die arme Eleonore Erdmuthe vor den schlimmen Folgen solcher Verleumdung bewahrt.
Im März 1694 trat die Kränklichkeit der Kebse in eine Krisis: die Blattern brachen an ihr aus. Die Krisis nahm aber keinen günstigen Verlauf, denn statt zur Reife zu gelangen, traten die Blattern zurück. Der Leib der Kranken bedeckte sich mit einer schwarzen Kruste, heftige Krämpfe schüttelten ihre Glieder, und am 4. April starb sie, noch nicht zwanzigjährig.
Der Kurfürst, der während Sibylles Krankheit ihr Zimmer kaum verlassen hatte, tat wie ein Verzweifelnder. Er wollte sich auch von der toten Kebse nicht trennen, ließ für den Leichnam ein prächtiges » Castrum doloris« herrichten, ordnete das prunkvolle, oben beschriebene Leichenbegängnis an, geleitete die Geliebte selber zu ihrer Gruft und verübte folgende Grabschrift für sie: »Hier ruhet in Gott die hoch- und wohlgeborene Frau Magdalene Sibylle, des Heiligen Römischen Reiches Gräfin von Rochlitz, welche Einem Manne verbunden, eine allzeit treue, Eines Kindes Mutter, ihres Fürsten Untertanin, auch ihme doch gleich war, indem Sie von ihme ehelich geliebt wurde. Weil sie nun jung an Jahren, auch angenehmer Gestalt, also war Sie mit anständigen Sitten und Tugenden begabt, in Summa von vortrefflichen Qualitäten, als welche den Notdürftigen mit Hilfe, ihren Feinden mit Sanftmut, jedermann mit Freundschaft und Guttat gewogen, dahero Sie vielen ein heftiges Verlangen nach ihrer Person zurückgelassen hat. Sie ist geboren den 8. Februar 1675, starb den 4. April 1694, hat also gelebet 19 Jahre. So lebe denn ewig wohl und auch in deinem Erlöser, o werteste Seele!«
Dieser Nachruf, welcher die »Verzauberung« Johann Georgs in ihrem ganzen Umfange widerspiegelte, mußte den Spott herausfordern. Es erschien auch wirklich eine Travestie der Grabschrift, welche witzig genug, aber freilich zu »galant« lautete, um heute noch druckbar zu sein.
Allzutief muß aber das Herzeleid des Kurfürsten doch wohl nicht gewesen sein. Denn sonst hätte er nicht zugelassen, daß seine Quasi-Schwiegermutter ihn auf eine Manier tröstete, wie wohl niemals wieder eine Schwiegermutter ihren Eidam getröstet hat. Mama Neitschütz kam nämlich auf den sinnreichen Einfall, ihrem »Herrn Sohn«, wie sie den Kurfürsten zu nennen pflegte, über seinen Verlust dadurch hinwegzuhelfen, daß sie ihm denselben zu ersetzen suchte. Zum Surrogat für ihre verstorbene Tochter ersah sie das Gesellschaftsfräulein derselben, Agnes von Kuhlau, und dieses edle Frauenzimmer ließ sich, obgleich mit einem Herrn von Ponikau verlobt, zur Übernahme der Rolle bereitwillig finden. So bereitwillig, daß sie zur Elisabeth Nitschin sagte: »Ach, wenn Sie mir doch etwas geben könnte, daß der Kurfürst mich liebete.« Mama Neitschütz führte die Vizemätresse selber in das kurfürstliche Gemach und sprach, wie in den Akten steht, dem Herrn Sohn also zu: »Ew. Kurfürstliche Durchlaucht werden doch um meiner Tochter willen die ganze Welt nicht meiden. Sie müssen es machen wie der Oberst Malzahn, welcher den dritten Tag nach seiner Gemahlin Tod mit seiner Hausjungfer zu tun gehabt. So kann es doch nicht dauern, gnädigster Herr. Schlafen Sie bei der Kuhlauin; es ist Ihnen viel gesünder.«
Was die Vettel mit dieser Kuppelei wollte, ist handgreiflich. Aber ihre schamlose Berechnung ging fehl, denn der Hauptfaktor wurde baldigst durch den Tod ausgestrichen. Der Kurfürst hatte am Krankenbette Sibylles das Blatterngift eingesogen. Die Krankheit brach auch bei ihm in heftigster Weise aus, ein nicht zu bewältigendes Fieber warf ihn nieder, und am 27. April, also nur dreiundzwanzig Tage nach dem Hingange der Mätresse, war er eine Leiche. Er zählte noch nicht volle sechsundzwanzig Jahre.
Finstere Gerüchte begleiteten den toten Kurfürsten in seine Gruft zu Freiberg.
In jener guten alten frommen Zeit war infolge einer stupiden Kirchlichkeit unter einer unsittlichen Politik die ganze Anschauungsweise der Menschen so verdorben, daß kein Mann von vorragender Stellung plötzlich sterben konnte, ohne daß es geheißen hätte, er wäre »expediert« worden. Die »Staatsräson« hatte seit dem Aufkommen der sogenannten »welschen Praktik«, also seit nahezu 200 Jahren, Dolch und Giftphiole als Hauptargumente so häufig gehandhabt, daß man diese Argumente immer und überall wirksam glaubte.
Man raunte sich daher in Sachsen selbst und weitumher in Deutschland in die Ohren und deutete auch in schriftlichen Aufzeichnungen an, der frühzeitige Tod Johann Georgs IV. sei keineswegs den Blattern, sondern gewissen Personen vom sächsischen Adel und von der sächsischen Geistlichkeit auf Rechnung zu setzen. Der Adel hätte den Kurfürsten gehaßt, weil dieser durch seinen Premierminister Hanns Adam von Schöning ein auf die adligen Anmaßungen wenig oder keine Rücksicht nehmendes bureaukratisches Regiment im Lande ein- und durchführen ließ; die lutherische Orthodoxie aber sei dem Kurfürsten gram gewesen, weil sie gefürchtet hätte, er würde sie durch seine Kebse katholisch machen lassen. Daß die Junker und Pfaffen gegen Johann Georg übelgesinnt gewesen, mag wahr sein; allein für die Sage, daß sie ihn »expediert« hätten, läßt sich nicht der Schatten einer Spur von aktenmäßigem Beweise beibringen.
Ein anderes Gerücht, welches um die Gruft des Kurfürsten her nicht leise flüsterte, sondern laut schrie, faßte sich in den populär-aftergläubischen Satz zusammen: »Sie hat ihn ins Grab nachgezogen.« War es doch schon bei Lebzeiten Johann Georgs und seiner Mätresse allgemeiner und bis in die obersten Gesellschaftschichten hinaufreichender Volksglaube gewesen, daß die junge Neitschütz mit Hilfe der alten den Fürsten »behext« hätte, und dieser Volksglaube hatte sich auf das stützen können, was von den früher erwähnten Verbindungen der Generalin mit »unheimlichen« Leuten bekannt geworden. Jetzt hieß es, die dem Kurfürsten angetane »Verzauberung« hätte über den Tod der Kebse hinaus fortgewirkt und den Verzauberten der Toten ins Grab nachziehen müssen, insbesondere darum, weil der Neitschütz ein aus den Haaren ihres Liebhabers geflochtenes Armband, sowie ein Bild Johann Georgs in den Sarg mitgegeben worden seien.
Die Klätscherin »Öffentliche Meinung«, in 99 von 100 Fällen so urteilslos und boshaft, wie nur irgend ein Waschweib es sein kann, schrie um so lauter nach einer Untersuchung, nach einer Hexenprozedur, als diese Forderung der volksdümmlichen Religiosität bedeutend verstärkt und befeuert wurde durch die Begierde der Hofclique, das Glück der toten jungen Neitschütz an der überlebenden alten zu rächen.
Des kinderlosen Kurfürsten Bruder und Nachfolger Friedrich August war ein so starker Mann, daß er Hufeisen mit den Fingern zerbrechen konnte und angeblich dreihundert und etliche fünfzig Bankerte in die Welt gesetzt hat. Aber seine Stärke lag in den Muskeln und Lenden, nicht im Gehirn. Dennoch ist er schwerlich so dumm gewesen, an die Verzauberung und Zutodehexung seines Bruders zu glauben. Er willigte aber in die Forderung der öffentlichen Meinung, d. h. in die Prozessierung der alten Neitschütz und ihrer Helfershelfer und Handlangerinnen, weil ihm weder an jener noch an diesen etwas gelegen war, auch weil seine Mutter, die alte Kurfürstin, die Anstrengung des Prozesses verlangte und endlich weil – was wohl das schwerstwiegende Motiv – der vollgesogene neitschützige Reichtümerschwamm auf solche Manier am bequemsten in die kurfürstliche Kasse auszudrücken war.
Diese fiskalische Manipulation ist denn auch das Hauptresultat der Hexenprozedur gewesen, welche mit zahlreichen Verhaftungen und mit der am 30. April, also nur sechs Tage nach dem Ableben des Kurfürsten, vorgenommenen Ausgruftung und Untersuchung von Sibylles Leichnam begann. Nachdem man der Toten das mit Diamanten geschmückte Porträt Johann Georgs und das »verdächtige« Armband abgenommen hatte, wurde sie nicht wieder in der Sophienkirche beigesetzt, sondern ohne Umstände irgendwo eingelocht. Der Prozeß spann sich lange hin und gestaltete sich nicht dem Buchstaben, aber dem Sinne nach zu einer Bestätigung des uralten und ewigjungen Sprichworts: »Die kleinen Schelme henkt man, die großen läßt man laufen.« Die Werkzeuge nämlich, deren sich Mama Neitschütz bei ihren Ränken und ihren Zauberschwänken bedient hatte, kamen schlecht weg. Im Januar mußten die Traum-Marie, nachdem sie den dritten Foltergrad ausgehalten, sowie die Kammerfrau der Generalin und ihr Mann zusammen am Pranger stehen. Während des folgenden Monats starben der Scharfrichter Vogel und die »Hexe« Margarete an den Folgen der ausgestandenen Tortur im Gefängnisse. Der Sekretär Engelschall erhielt den Staupbesen. Der Surrogat-Kuhlau gestattete man, daß sie sich geschickt herauslog. Die alte Neitschütz setzte allen gegen sie erhobenen Anklagen ein standhaftes und konsequentes Leugnen entgegen. Es wurde gegen sie erkannt, daß »mit der peinlichen Frage und zwar mit der Schärfe« gegen sie vorgegangen werden sollte; allein man kann nicht mit völliger Bestimmtheit sagen, ob und wieweit sie der Folter unterworfen worden, um ihr Geständnisse abzupressen. Wahrscheinlich jedoch ist, daß sie den ersten Torturgrad, die Daumenschrauben, zu fühlen bekommen hat, aber trotzdem bei ihrem Leugnen geblieben ist. Sie saß anderthalb Jahre lang in dem »Quatemberstübchen« des Dresdener Rathauses, Tag und Nacht von vier Mann bewacht. Dann schlug der Kurfürst den Prozeß gegen sie nieder, und man ließ die große Schelmin laufen. Sie ist auf dem ihrem Sohne Rudolf gehörigen Gute Gaussig bei Bautzen im Jahre 1713 gestorben. Auch den großen Schelm von Geheimrat und Kammerdirektor Ludwig Gebhart von Hoym, welcher die Gunst der beiden Neitschützischen Damen zu Erpressungen und allerhand Geldschneidereien ausgenützt hatte, ließ August der Starke laufen, nachdem er dem für anderthalb Jahre auf dem Königstein Seßhaftgemachten von seinem Raube 200 000 Taler abgezwackt hatte.
So talermäßig modern-prosaisch endigte die romantische Historie vom verzauberten Kurfürsten.