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Niemand kann sich rühmen, die Tiefen menschlicher
Dummheit und Bosheit ergründet zu haben.
Jeremia Sauerampfer.
Zu den zahllosen Schlupfwinkeln des Mittelalters, aus denen der Anno 1789 losgebrochene Revolutionssturm die Stickluft der Barbarei, Verrottung und Knechtseligkeit wegzufegen hatte, müssen auch die Kantone der schweizerischen Eidgenossenschaft gezählt werden. Wahre Satiren auf Republik und Demokratie, diese von selbstsüchtig-bornierten Oligarchen und stupiden Pfaffen mißregierten Länder und Ländchen! Es kam ihnen nicht einmal zugute, was anderwärts der »aufgeklärte Despotismus« im Sinn und Geiste der Zeit für Wiederöffnung der verstopften und verschütteten Lebensquellen tat. Denn die schweizerischen Junker und Bonzen waren eifrig darauf bedacht, alle Einwirkung der Friedrichschen und Josephischen Reformen möglichst von der Schweiz fernzuhalten, und es gelang ihnen das vortrefflich, insbesondere dadurch, daß sie ihren angeblichen Mitbürgern und wirklichen Untertanen jede, auch die dringendste, zeitgemäßeste und heilsamste Neuerung kurzweg als »frömde Kaiberei« signalisierten.
Seitdem ist es anders geworden, sehr anders. Zwar stoßen Joggeli Kleinhirn, Heireli Wissenlos und Ruodeli Engherz im Umkreise der Eidgenossenschaft noch oft und mißtönig genug mitsammen ins Uristierhorn der Unkultur; zwar könnte eine Wiederholung des Fegewerks von 1789 verschiedenen schweizerischen Kantonen, wo noch mittelalterlicher Unrat genug hängen geblieben ist, nicht schaden: allein daneben steht die Tatsache, daß die Schweiz vom Segen freier Staatsformen einen glänzenden augenfälligen Beweis geliefert hat, indem sie in materieller und intellektueller Zivilisation Fortschritte machte, wie solche binnen so kurzer Zeit gemacht zu haben kein anderes Volk der alten oder modernen Geschichte sich rühmen kann. Denn, genau genommen, datiert, was die Schweiz in der Neuzeit vor sich gebracht, erst von der großen Reformperiode von 1830, da das Gute, was die Zeit der Helvetik und Mediation etwa geschaffen hatte, in der Restaurationsepoche wieder nach Menschenmöglichkeit vernichtet worden war.
Damals, als nach Vernichtung des Napoleonismus die »Restauration« ihre Bleihand auf die armen betrogenen Völker Europas legte, standen Schweizer – allen voran der berüchtigte Renegat Haller – in der Vorderreihe der Söldlinge einer Reaktion, die, um das Ancien Régime in Kirche und Staat zurückzuführen, log und betrog, predigte, ediktierte, jesuitierte, muckerte, einkerkerte, mordete und exilierte. Das Gebet der Dummheit oder der Schufterei um Zurückführung der »guten alten frommen Zeit« ist aber auch heute noch lange nicht verstummt, und darum will ich mich, wie ich so oft schon getan, wieder einmal der Mühe unterziehen, an einem mit aktentreuen Farben gemalten Bilde aufzuzeigen, wie es in der guten alten frommen Zeit eigentlich zu- und hergegangen Die Hauptquelle der zu erzählenden kultur- und sittengeschichtlichen Episode floß bislang in Lehmanns »Vertraulichen Briefen über den Hexenhandel zu Glarus« (1783). Nun hat uns aber J. Heer im "Jahrbuch des historischen Vereins des Kantons Glarus" 1965, S. 9f., in dankenswerter Weise mit den Akten selbst bekanntgemacht, wenigstens auszüglich..
Das verhexte Kind.
Zur Novemberzeit von 1781 war im Flecken Glarus, dem wohlbekannten Hauptort des aus einem größeren, einem kleineren und einem kleinsten Hochgebirgstal bestehenden Freistaats gleichen Namens, die öffentliche Meinung heftig und nachhaltig bewegt. In dem Hause des wohlehrsamen und hochgeachteten Doktors und »Fünferrichters« Tschudi hatte etwas »grusam Grüseliges« sich ereignet. Das jüngere Töchterlein des genannten Herrn nämlich, die neunjährige Anne Marie, der verhätschelte Liebling der Eltern, war in eine ganz absonderliche Krankheit verfallen. Die Kleine hatte seit Monatsfrist an Krämpfen gelitten, die mitunter von Halluzinationen begleitet waren. Arme und Beine versteiften sich von Zeit zu Zeit, und der linke Fuß wurde so unbrauchbar, daß das Kind oft gar nicht mehr darauf zu stehen vermochte. Diese Krankheitssymptome waren jedoch unbedeutend im Vergleich mit den neuestens eingetretenen: die arme kleine Anne Marie brach nämlich vom 12. November an eine Menge von Stecknadeln, Haften, eisernen Nägeln und Drahtstücken aus. Bis zum 13. Dezember hatte das Kind allein an Stecknadeln – landesmundartlich »Gufen« genannt – mehr als hundert Stücke ausgebrochen; zuweilen zehn oder gar zwanzig Stücke täglich.
Dieses höchst erschreckliche Wunder konnte natürlich keine natürliche Ursache haben, und bald war die Bewohnerschaft von Glarus – »Meine gnädigen Herren und Oberen«, d. h. die höchsten Verwaltungs- und Justizbehörden, sowie selbstverständlich eine wohlehrwürdige Geistlichkeit inbegriffen – der einmütigen und entschiedenen Ansicht, die arme Anne Marie sei verhext; es könne gar nicht anders sein. Kraft stillschweigenden Übereinkommens gebrauchte man aber das anrüchige Wort nicht, sondern sagte, daß Kind sei »verderbt« – ein beschönigender Ausdruck, der deutlich erkennen läßt, daß die Menschen, wenn sie sich dem höheren oder niedrigeren Blödsinn in die Arme werfen, dies doch nicht tun, ohne sich unwillkürlich vor dem gesunden Menschenverstand zu schämen. Freilich ist es nicht minder gewiß, daß gerade dieses Schamgefühl häufig noch zu einem heimlichen Sporn wird, der den Menschen auf der einmal betretenen Bahn des Afterwitzes vorwärts stachelt. Du sollst nicht recht haben, sagt er trotzig zu dem Verstand, und begeht lieber eine Dummheit und Tollheit nach der andern, als daß er der Stimme des helläugigen und nüchternen Mahners und Warners Gehör und Beachtung schenkte.
Also die neunjährige Anne Marie Tschudi war verhext oder »verderbt«, das stand fest. Aber wer hatte es der Kleinen »angetan«? Wer hatte mittels höllischer Praktiken dem armen Kinde Stecknadeln, Nägel, Haften und Drahtstücke in den Magen gezaubert? Wer war die »Verderberin«, zu deutsch: die Hexe? … Antwort: die Anna Göldi, gewesene Dienstmagd im Tschudischen Hause, das sie unter absonderlichen Umständen unlängst verlassen hatte.
Die Hexe.
Anna Göldi, die letzte amtlich als solche gekennzeichnete und behandelte Hexe der Schweiz, war, aus der damals züricherischen, jetzt zum St. Gallergebiet gehörenden Herrschaft Sax gebürtig, im Jahre 1776 als ein Mädchen von sehr »bestandenem« Alter – sie zählte nämlich neununddreißig Sommer – bei einer angesehenen Familie im Flecken Glarus in Dienst getreten. Nachdem sie ihn vier Jahre lang zur Zufriedenheit ihrer Brotherrschaft getan, verließ sie im September 1780 dieses Haus und trat beim Doktor und Fünferrichter Tschudi als Magd ein. Auch in dieser Stellung führte sie sich tadellos. Wenigstens hat weder der Herr Doktor noch die Frau Doktorin Tschudi über das Verhalten ihrer Dienstmagd als solcher irgendwelche Klage vorgebracht. Während des ganzen bisherigen Aufenthalts der Göldi in Glarus war demnach ihr Leumund ein guter.
Allein dieser Ruf ging in den Augen der Glarner vollständig zunichte, als man später einen Einblick in die Vergangenheit der Hexe gewann. Es war die Jugendgeschichte eines blutarmen, von früh auf verwahrlosten Geschöpfes, wie es solcher oder ähnlicher Geschichten viele, unzählige gibt in dieser unserer vortrefflich eingerichteten Welt. Zweimal war der Anna das Weibliche begegnet, einem unehelichen Kinde das Leben geben zu müssen. Das erstemal war die Katastrophe sogar mit Umständen verknüpft gewesen, die einen so starken Verdacht des Kindesmords auf sie warfen, daß sie die Strafe des Prangerstehens über sich hatte ergehen lassen müssen. Das zweitemal hatte sie in Straßburg geboren, wohin sie zu diesem Zwecke von ihrem damaligen Brotherrn – Vater des Kindes – gesandt worden, dem Herrn Doktor Zwicki zu Mollis im Glarnerland, in dessen Hause Anna sechs Jahre lang gedient hatte. Indessen muß angemerkt werden: man erfuhr zu Glarus diese mißlichen Umstände zu spät, als daß sie auf die Hexenprozedur einen Einfluß hätten üben können. Die »heilige Dummheit« besorgte demnach das Blutgeschäft ganz allein, ohne der Beihilfe schlechter Leumundszeugnisse zu bedürfen.
Die Anna Göldi lebte im Tschudischen Hause mit dem Herrn, der Frau und dem älteren Töchterlein Susanne in Frieden und Verträglichkeit. Dagegen herrschte zwischen der Magd und der »meisterlosen« jüngeren Tochter, der etwa neunjährigen Anne Miggeli (Zärtlichkeitsname für Marie), eine Art von kleinem Krieg, indem das verwöhnte Kind des Hauses der Anna allerhand Neckereien und Possen antat und dafür von der Magd gelegentlich ein »Püffli« abbekam. Anne Miggeli war stets der angreifende Teil, aber diese Unart wurde wie andere von den Eltern dem Lieblingskinde straflos nachgesehen. Im Oktober 1781 fand wiederum so ein Auftritt zwischen der Anna und dem Ännchen in der Küche statt. Wenige Tage nachher erklärte die Kleine, sie habe in ihrer Frühstücksmilchtasse eine »Gufe« gefunden.
Diese merkwürdige Erscheinung wiederholte sich in den folgenden Tagen noch mehrmals, und da es den zärtlichen Eltern nicht von fern in den Sinn kam, daß der kindische Mutwille ihres »meisterlosen« Töchterleins dieses Gufenspiel treiben könnte, wurde die Magd zur Rede gestellt. Sie gab »mit Lachen« zur Antwort, sie besitze gar keine Stecknadeln, habe also auch keine in die Milch getan. Als jedoch etliche Tage hernach wiederum eine Gufe, nicht in Ännchens Frühstücksmilch zwar, aber in einem »Möckli« Brot erschien, wurde die Magd sofort aus dem Dienste weggeschickt.
Die plötzlich obdachlos Gewordene suchte eine augenblickliche Unterkunft bei Bekannten im Flecken, bei dem alten Schlosser Rudolf Steinmüller und seiner Frau. Diese rieten ihr, sie möchte beim Herrn Amtslandammann Tschudi und beim Herrn Pfarrer Tschudi – die schweizerischen Oligarchien waren wahre Weichselzöpfe von Vetter- und Basenschaften, ganz ähnlich dem berüchtigten »Verwandtschaftshimmel« des »Schreiberparadieses« Altwürttemberg – über die grundlose Anschuldigung, die gegen sie erhoben worden war, eine Beschwerde einlegen. Sie tat so, fuhr aber übel damit. Der Bonze – die Frau Doktorin und Fünferrichterin Tschudi war seine Nichte – griff sogar nach seinem Meerrohr, um damit der Beschwerdeführerin geistlich zuzusprechen, und der Herr Landammann sagte ihr: »Tut Abbitte bei Eurem Herrn und dann machet, daß Ihr zum Flecken und zum Lande hinauskommt!« (So verfuhr man in der »guten alten Zeit« mit den Armen.)
Das war natürlich weit mehr ein Befehl als ein Rat. Allerdings setzte das Abbittetun ein Bekenntnis des Schuldigseins voraus; aber was sollte und wollte die arme Magd machen? Sie mußte in den sauren Apfel beißen, namentlich auch um ihre Kleider und die sechzehn »Doublonen« (Louisdor), ihre Ersparnisse, welche sie ihrem bisherigen Dienstherrn »zum Aufheben« gegeben, herauszubekommen. Sie leistete die Abbitte, erhielt ihre Sachen, gab das Geld – damit es ihr nicht etwa von dem Herrn Landvogt ihrer heimatlichen Landschaft, der »gar ein hungriger sei«, unter irgend einem Vorwande weggenommen würde – dem Schlosser Steinmüller in Verwahrung und verließ am 29. Oktober Flecken und Freistaat Glarus.
Die Fahndung.
Vierzehn Tage nach der Abreise der Göldi begann die schon gemeldete Stecknadelnbrechruhr der kleinen Anne Marie Tschudi und »böserte« es damit von Tag zu Tag bedenklicher und bedenklichst. Dabei war es wunderbar – oder vielmehr gar nicht wunderbar, brummt der alte, wohlerfahrne Herr, der gesunde Menschenverstand –, daß das absonderliche Gebreste mehr und mehr mit allerhand Beiwerk sich garnierte, je mehr die kindliche Kranke der Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit wurde.
Da aber jede Wirkung ihre Ursache haben muß, so vereinigten sich die sämtlichen hosenlosen und behosten Klatschbasen von Glarus zunächst dahin, daß das »Gufenspeien« der Kleinen auf jene angeblich durch die Anna Göldi in die Frühstücksmilch getanen Gufen zurückzuführen sei. Zwar hatte früher weder Anne Miggeli selbst, noch sonst jemand behauptet, daß die Kleine eine jener Gufen verschluckt habe, und ebensowenig fiel es jemand ein, die wundersame Prozedur des Gufenspeiens einmal einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Aber wozu mit solchen Nebendingen sich befassen, wenn die Hauptsache so klar ist? »Dä frömd Kog Kog ist das glarnerische Nationalschimpfwort, ganz entsprechend dem zürcherischen Kaib (= gemeiner Mensch, eigentlich »Aas«). von Magd hat's getan, was brauchen wir weiter Zeugnis«? Also werden sich wohl »Meine gnädigen Herrn und Oberen« mit dem Dinge befassen müssen, malefizgerichtlich nämlich. Und richtig, das Protokoll des »evangelischen« Ratskollegiums vom 26. November 1781 besagt, daß gegen die Anna Göldi klagend angezeigt worden, »sie hätte der Anne Marie Tschudi zu verschiedenen Malen Gufen in der Milch zu essen gegeben«, woraufhin »Meine gnädigen Herrn und Oberen« den weisen Beschluß faßten, »dieser verruchten Dirne unverzüglich nachschlagen«, d. h. auf sie fahnden zu lassen.
Kaum war dieser Ratschluß im Flecken bekannt geworden, als dem alten Schlossermeister Steinmüller seine Bekanntschaft mit der »verruchten Dirne« bedenklich vorkam, so bedenklich, daß er sich beeilte, alle Beziehungen zu ihr dadurch abzubrechen, daß er ihr durch den Werdenberger Boten das ihm zum Aufbewahren übergebene Geld in ihre Heimat nachschickte, nebst »freundtlichem grauß«, wie er sich in seinem glarnerischen Hochdeutsch ausdrückte. Am Schlusse seines Begleitschreibens ermahnte er die Adressatin noch beweglich: »Thaut Bauss! (tut Buße)« … Das alles bewahrte aber den armen alten Mann nicht davor, daß an ihm in Erfüllung ging, was bei Hexenprozeduren nicht Ausnahme, sondern Regel war: daß nämlich der Hexenwahn in einem gegebenen Falle nicht mit einem Opfer sich begnügte. Ist es doch gar häufig geschehen, daß eine Hexe mit oder wider Willen Dutzende, ja Hunderte von Personen jedes Alters, Geschlechtes und Standes mit ins Verderben gerissen hat. Auch die letzte auf deutschem Boden gerichtlich gemarterte und gemordete Hexe sollte ihre Todesbahn nicht allein gehen.
Es währte aber eine gute Weile, bis es gelang, die Unglückliche aufzugreifen. Mein Herr Doktor Zwicki in Mollis nämlich, welcher besorgen mochte, eine Prozessierung der Anna könnte unter andern auch zutage fördern, daß er ihr vorzeiten ein allzu gütiger Dienstherr gewesen, hatte sie durch einen nächtlicherweile über den Kerenzer Berg ins Werdenbergische entsandten vertrauten Mann warnen lassen. Die Gewarnte verließ sofort die Wohnung ihrer Schwester in Sax, wanderte das Rheintal hinunter, über Rorschach nach St. Gallen, von da durchs Appenzellerland ins Toggenburg, wo sie in Degersheim einen Dienst fand. Da aber inzwischen »Läufer« mit Steckbriefen von Glarus ins Land ausgegangen, wurde die Arme nach elf Wochen aufgespürt, aufgegriffen, an Glarus ausgeliefert und dort am 21. Februar 1782 eingebracht und in den neuen Turm gesetzt.
Die Delinquentin war also da. Es fragte sich nun, vor welchem Forum sie prozessiert werden sollte. Denn im Kanton Glarus gab es damals und bis zum Jahre 1837 infolge der paritätischen Verhältnisse des Ländchens eine dreifache Verwaltung und Rechtspflege: – eine »gesönderte« evangelische, eine »gesönderte« katholische und eine »gemeine« (gemeinsame). Das geeignetste Forum für den obschwebenden Handel wäre ohne Zweifel der »gemeine« Rat gewesen. Aber, wie aus den Umständen erhellt, war der evangelische Rat zu jener Zeit so zusammengesetzt, daß er sich für ein »Malefizgericht« im Sinne der guten alten frommen Zeit am besten qualifizierte, und so wußte es mein Herr Doktor und Fünferrichter Tschudi samt dem Weichselzopfe von Tschudischer Vetter- und Basenschaft dahin zu bringen, daß der »evangelische« Rat den Prozeß in die Hand nahm. Damit war der Ausgang desselben schon deutlich angezeigt. Denn »Meine Gnädigen Herren und Oberen« vom evangelischen Rate waren im Teufels- und Hexenglauben stark wie Martin Luther und daher voll guten Willens, durch Opferung einer Hexe dem Reiche Satans Abbruch zu tun.
Die »öffentliche Meinung«, in neunundneunzig Fällen bekanntlich allzeit dem Unsinn zugetan, übte übrigens über die guten Glarner zuungunsten der »Hexe« einen solchen Terrorismus, daß selbst Männer, die mit Recht für aufgeklärt und wissenschaftlich gebildet galten, nicht zu trotzen wagten.
So auch mein Herr Doktor Marti, »unzweifelhaft der gebildetste Arzt des Kantons« und ein Mann »von freier Denkungsart«, dessen Liebedienerei aber noch größer war als seine Bildung und sein Freisinn. Denn, mit der Untersuchung des »verderbten« Kindes und mit Begutachtung des absonderlichen Falles amtlich betraut, wand er sich in seinem Bericht zwischen Sinn und Unsinn kläglich-klüglich hin und her, also beschließend: »Was aber die Art und Weis, wie die Stecknadeln und Heftli, und zwar erstere in so großer Anzahl dem Kinde beigebracht worden, betrifft, ist es in der Tat schwer zu begreifen und wird niemand erklären können als die ungeheure Übeltäterin selbst.«
Also auch der begutachtende Arzt fühlte sich berufen, zum voraus die Angeklagte als eine »ungeheure Übeltäterin« zu kennzeichnen, d. h. zu verdammen. Ehrenhafter und pflichtgetreuer, aber freilich weniger der öffentlichen Meinung gemäß wäre es gewesen, wenn mein Herr Doktor Marti durch genaue und schlaue Beobachtung der »verderbten« Anne Miggeli dahinter zu kommen gesucht hätte, wie es sich mit den Krämpfen, Gichtern und Visionen des Kindes eigentlich verhielte, und insbesondere mit dem Gufenspeien. Es liegen nur zwei Zeugnisse von Personen vor, die es überhaupt der Mühe wert gehalten haben, das Gufenwunder etwas näher anzusehen, und diese beiden Zeugnisse lauten so, daß jeder Nichthexengläubige zu der entschiedenen Ansicht kommen muß, die neunjährige Anne Marie müsse ein gar nicht gewöhnliches Talent für Taschenspielerei gehabt haben und hätte bei weiterer Ausbildung desselben auf Jahrmärkten als Messerverschluckerin und Feuerspeierin leicht ihr Brot verdienen können. In ganz Glarus scheint nicht einem einzigen Menschen auch nur entfernt der Gedanke einer Möglichkeit aufgegangen zu sein, daß ein zwar nicht verhextes, aber allerdings »verderbtes« Kind mit einer ganzen Bevölkerung seinen koboldischen Mutwillen treiben könnte.
»Gewalttätige Kunstkraft«.
Am 21. März hatte die Hexe ihr erstes förmliches Verhör zu bestehen, vor der von »Meinen Gnädigen Herrn und Oberen« bestellten Untersuchungskommission, und die Prozedur nahm dann ihren regelrechten Fortgang. Aber bevor das geschah, spielte sich noch eine eigentümliche Episode dieses Hexenhandels ab.
Mein Herr Doktor und Fünferrichter Tschudi erschien nämlich vor der Untersuchungskommission und stellte vor, »er habe gehört, daß dergleichen böse Leut' das von ihnen Verderbte wieder gutmachen können; dahero er so dringend als möglich bitte, bei der Göldi auf gütliche Weise zu vernehmen, ob sie das Kind nicht wieder zu seiner ehevorigen Gesundheit bringen könne«. Man fand den Wunsch billig und beauftragte den Landweibel und Gefängniswärter, die Hexe in der angegebenen Richtung zu bearbeiten. Dies geschah, jedoch anfänglich ohne Erfolg; denn, sagte die Gefangene, »was sollte ich dem Kinde helfen können? Ich habe ihm ja auch nichts zuleide getan«. Ein ganz richtiger Instinkt riet der Unglücklichen, auf das an sie gestellte Ansinnen nicht einzugehen. Sie fühlte dunkel, daß, wenn sie als Heilerin sich versuchte, sie damit zugleich als »Verderberin« sich bekennen würde. Aber man ließ ihr keine Ruhe, man suchte gleichermaßen die Furcht wie die Hoffnung in ihr aufzuregen, indem der Landweibel ihr bald drohte, sie werde, wenn sie sich weigerte, »mit dem Scharfrichter angegriffen werden«, bald sie vertröstete, sie werde, so sie nachgäbe, »dann zumalen bälder erledigt werden«. Die Arme gab nach. »Bringt in Gottes Namen das Kind«, sagte sie. »Ich will mit der Hilfe Gottes und dem Beistand des Heiligen Geistes versuchen, ihm zu helfen.« Dann fügte sie schwer aufseufzend hinzu: »Oh, was für ein unglücklich Mensch bin ich!«
Noch am Abend desselben Tages wurde das kranke Kind aufs Rathaus gebracht, wo in der Ratstube die Hexe ihre Heilkünste in Anwendung bringen sollte. Insbesondere an dem linken Bein Anne Miggelis, welches angeblich kürzer geworden als das rechte. »Komm in Gottes Namen! Wenn ich schon bei den Leuten ein' Hex sein muß, so will ich dir doch helfen und dir nichts Böses tun.« Mit diesen Worten begann die Göldi ihre Manipulationen, d. h. Streicheln, Kneten und Strecken des kranken Beins. Dieses Experiment wurde zu wiederholten Malen gemacht und, siehe, Anne Miggelis linkes Bein war wieder so lang und gesund wie das rechte. Aber noch »grimmte« es die Patientin im Leibe, weswegen die Hexe ein Laxiermittel verordnete, wozu der Vater Miggelis die Ingredienzien lieferte. Das trieb die letzte Gufe von dem Kinde und, siehe, es war jetzt wieder so gesund und frisch, wie es vordem nur jemals gewesen.
Männiglich und weibiglich zu Glarus schlug die Hände über den Köpfen zusammen ob dieser »unbegreiflich« gelungenen Heilung, ob dieser »so gewalttätigen Kunstkraft« der Anna Göldi. Die Hexe hatte das arme Kind enthext, nachdem sie es behext hatte, kein Zweifel! Se. Ehrwürden Pfarrherr Tschudi legte den Knopf seines geistlichen Meerrohres tiefsinnig an die Nase und gab das Orakel von sich: »Eine so gewaltige Kunstkraft kann nur vom Teufel sein. Anathema sit! Sie ist eine Hexe, sie muß eine Hexe sein. Nur Unchristen und Atheisten können das bezweifeln.« … Es gab dazumal in Glarus weder Unchristen noch Atheisten, nicht einmal, wenn mir recht ist, Freimaurer, und demnach war es jetzt eine ausgemachte Sache, daß »dä frömd Kog« eine schandbare und überwiesene Hexe. Die heilige Dummheit fragte natürlich nicht danach, daß Gemütsart und Gebaren der Angeklagten ganz und gar nichts Hexenhaftes hatten, ja daß sogar die Herren von der Untersuchungskommission sich nicht entbrechen konnten, an einer Stelle der Akten anzuerkennen, daß die Anna Göldi eine »geschlachte (sanftmütige) und ehrliche« Person. »Tut nichts; sie wird verbrannt!«
Das zauberische »Leckerli«.
Es kam aber Methode in den Aberwitz; denn bekanntlich ist einer der vielen Vorzüge, den die germanische Rasse vor der romanischen voraus hat, daß sie allen höheren und tieferen Blödsinn mit methodischer Gründlichkeit und systematischer Grandezza traktiert und agiert. Diese christlich-germanische Tugend erregte in etlichen Glarnern und Glarnerinnen etwelche Skrupel, ob wohl die »geschlachte und ehrliche« Anna Göldi an der Anne Miggeli das Höllenwerk allein oder aber mit Beihilfe eines zweiten oder dritten vollbracht habe. Und wer wohl könnte ihr ruchloser Beiständer und Bruder in Beelzebub sein? Hm, sie hatte ja im abgelegenen Hause des alten Steinmüller »auf der Abläsch draußen« verkehrt, hatte dem Alten, als sie aus Glarus entwichen, Geld zum Aufbewahren gegeben, und er hatte ihr mit einem verdächtigen Briefe, der aufgefangen worden und zu den Akten gekommen war, dieses Geld »nebst freundtlichem grautz« nachgeschickt. Der Ruodi Steinmüller war auch von jeher so ein »eigener« Mensch gewesen, so ein »Pröbler« und halber »G'studierter«, der seinen Kopf in die Bücher steckte, wo immer er konnte, und sich allzeit zugeknöpft und verschlossen beiseite gehalten hatte. Unheimlich das! … »Ich will nüt g'schwätzt ha, Herr Vetter, währli nei, gar nüt; aber der alt' Ruodi uff der Abläsch ist syn Lebtag ein aparter Ma gsi und, hm, Ihr wüsset scho, Herr Vetter« … »Jo fryli, Frau Bas'. Auch ich will niemand verschänden, währli nei; aber daß der alt' meineid' Kog, der Ruodi, mit der Hex', der Göldi, causam communem (gemeinsame Sache) g'machet hat, wie der Lateiner sagt, ist sicher.«
Derlei Dialoge, wie sie wohl auch im Tschudischen Hause gehalten wurden, trugen ihre Früchte, und zwar dann, als der malifizgerichtliche Scharfsinn mit der Frage sich herumquälte, in welcher Weise die Hexe die Stecknadeln, Haften, Drahtstücke und Nägel dem armen Kinde in den Leib gehext habe. Glücklicherweise mußten sich »Meine Gnädigen Herren und Oberen« nicht allzu lange darob die Köpfe zerbrechen. Denn Anne Miggeli war so gefällig, auf eindringliches Befragen die Auskunft zu geben, daß die Behexung mittels eines »Leckerli« (Lebkuchen) geschehen sei und zwar in Gegenwart des Ruodi Steinmüller. »Heureka!«
Diese seine Angabe formulierte das »nun Gottlob wieder völlig restituierte Töchterli« des Herrn Doktor Tschudi vor der Untersuchungskommission also: »An einem Sonntag unter Tags ist in der Magdenkammer der Ruodi Steinmüller bei Anna auf dem Bett gesessen und einer ist am Boden umengehapet (herumgekrochen), der weder Arm noch Bein gehabt.« – Se. höllische Majestät machte also hier in einer neuen eigentümlichen Gestalt höchstihre Aufwartung. – »Da hat mir die Anna aus einem Häfeli ein überzuckertes Leckerli gegeben, das ich in der Kammer essen mußte, wo die Anna sagte, ich sollte dem Vater und der Mama nichts davon sagen.«
Da haben wir's! Also aus einem zauberischen Lebkuchen waren im Leibe des unglücklichen Kindes alle Gufen, Nägel usw. erwachsen? Schrecklich! Und der Steinmüller war also auch dabei gewesen? Schrecklicher! Und der Gottseibeiuns war während der Vollbringung des Leckerlizaubers leibhaftig am Boden »umengehapet«? Schrecklichst!
So verfinstert waren Gehirne und Gewissen »Meiner Gnädigen Herren und Oberen« wie überhaupt der guten Glarner und Glarnerinnen, daß die ungeheuerliche Lüge des Kindes nicht den leisesten Zweifel erregt zu haben scheint. Noch mehr, die arme Angeklagte selber wurde durch die Aussage Miggelis in eine Gemütsverwirrung geworfen, von welcher befangen sie zeitweilig die kindlich-blödsinnige Dichtung des Kindes für Wahrheit und Wirklichkeit hielt. Es kam ja, wie bekannt, in zahllosen Hexenprozeduren ähnliches vor: die armen Opfer, durch die über sie verhängte Verfolgung zur Verzweiflung getrieben, glaubten zuletzt selber an alle die unmöglichen Verbrechen, welche man ihnen schuldgab.
Schon in den ersten »gütlichen« Verhören gestand die Angeklagte alles, was man von ihr gestanden haben wollte: die ganze Leckerlizauberei, »wie es das Kind gesagt habe«, fügte sie ausdrücklich hinzu. Auf die Frage: »Woher sie das zauberische Leckerli gehabt?« schwieg sie hartnäckig eine ganze Stunde lang. Dann, auf wiederholtes Andringen, sagte sie unter heftigem Jammern: »Vom Ruodi Steinmüller.« Im Protokoll heißt es hierbei: »Das Amt fragt, man gewahre an ihr, daß sie immer so staune; ob sie etwa dem Steinmüller mit ihrer Angabe unrecht tue? worauf sie antwortet, sie wisse nicht, was sie tue.« Dann widerrief sie noch in demselben Verhör ihre den Steinmüller belastende Aussage. »Aber wer sonst hat Euch das Leckerli gegeben?« Ganz außer sich schrie sie zuletzt: »Der Teufel hat es mir gegeben!« Das Amt faßte diesen Unsinn begierig auf. »In welcher Gestalt ist er Euch erschienen?« »In einer leiden (garstigen) Gestalt.«
Auf der Folter.
Der Hexe also war man sicher. Es galt jetzt, auch des Hexenmeisters sich zu versichern. Am 29. März wurde daher der alte Rudolf Steinmüller in Haft gebracht; allein der Greis war ein zäher Glarner und ließ sich nicht so bald herbei, durch Zugeständnis des ihm schuldgegebenen Afterwahns sein eigenes Todesurteil zu sprechen. Mit der Hexe konfrontiert, stellt er die Aussagen derselben fest und entschieden in Abrede. Sie dagegen, nun einmal schon vom Geiste der Lüge besessen – wenn auch im anderen Sinne – beharrte bei ihren Angaben, und beide gaben die Erklärung ab, daß sie bereit seien, ihre Aussagen »am Folter« zu erhärten.
Meine Gnädigen Herren und Oberen säumten denn auch nicht, dieses unfehlbare Beweismittel in Anwendung zu bringen, und beriefen zu diesem Zwecke den Scharfrichter von Wyl, Meister Volmar, der am 4. April in Glarus eintraf und zunächst durch seine bloße Anwesenheit im sogenannten Schreckverhör (»Terrizexamen«) in Wirksamkeit trat. Im zweiten Terrizexamen nahm die Göldi alles gegen Steinmüller Ausgesagte zurück und bat den Angeschuldigten unter Tränen um Verzeihung. »Aber«, fragten die Richter, »warum hast du den Steinmüller beschuldigt?« – »Weil das Kind es gesagt hat, daß der Steinmüller und noch einer dabei gewesen sei.« – »Und wie ist es denn bei der Verderbnis des Kindes zugegangen?« – Nach langem »Staunen« die Göldi: »Der bös Geist hat es getan.« – »Hast du denn ein Verständnis oder Bund schriftlich oder mündlich mit dem bösen Geist? Sag' es! Die Obrigkeit, die an Gottes Statt sitzet, kann dir von solcher bösen Verbindung wiederum helfen.« Die Angeklagte verneint das Teufelsbündnis entschieden; aber am folgenden Tage, im dritten Schreckverhör, ist sie schon so mürbe geworden, daß sie bekennt, zwei Tage, nachdem sie mit der kleinen Anne Marie einen Streit gehabt, sei der Teufel in Gestalt eines »wüsten schwarzen Tiers« zu ihr in die Küche gekommen und habe »mit den Klauen« rötlich-gelben Wurmsamen und weißes Gift, in ein Papier eingewickelt, ihr überreicht, und diese Substanzen habe sie in einem angefeuchteten Stücke Brot dem Kinde zu essen gegeben.
Bei dieser Angabe blieb die Hexe, als sie am 11. April zum erstenmal der Folterung unterworfen ward. Die Folterart war der sogenannte »Zug«, auch Expansion oder Elevation geheißen, wobei die Gemarterte, mit auf den Rücken gebundenen Händen mittels eines an letztere geknüpften Seiles frei in der Luft schwebend, durch eine an der Decke der Folterkammer befestigte Rolle in die Höhe gezogen wurde, und zwar mit an ihre Füße gehängten Steinen, bis ihr die Arme verkehrt und verdreht über dem Kopfe standen – » ad majorem dei gloriam« (zum größeren Ruhme Gottes).
Die Herren Malefizrichter vernahmen mit Befriedigung das Bekenntnis der gemarterten Hexe, daß diese in unmittelbarem Verkehr mit dem Teufel gestanden und von Sr. höllischen Majestät selber das verderbliche Zaubermittel empfangen habe. Aber das »nun Gottlob wieder völlig restituierte Töchterli« des Herrn Doktor Tschudi machte ihnen einen Strich durch dieses mittels der Folter glücklich gewonnene Resultat, indem das Kind standhaft dabei verblieb, es sei nicht mittels eines angefeuchteten »Möckli« Brotes verderbt worden, sondern mittels eines im Beisein des Ruodi Steinmüller von der Anna Göldi erhaltenen »Leckerlis«. Quer das! Aber der Anne Miggeli, so angesehener Leute Kind, welche mit »Meinen Gnädigen Herren und Oberen« vielfach versippt waren, war natürlich unbedingt zu glauben, und so mußte man den »frömden Kog« von Hexe schärfer mit der Tortur angreifen, um ihre Bekenntnisse mit der Angabe von Tschudis Töchterli in Einklang zu bringen.
Deshalb wurde die Unglückliche am 13. April zum zweitenmal gefoltert und, siehe da, das Ergebnis dieser »ungütlichen« Befragung war ganz das gewünschte. Denn das Opfer, glücklich in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit, ja des Wahnsinns hineingemartert, sagte zu allem, was man fragte, ja und Amen; also auch dazu, daß sie das Kind mit einem vom Steinmüller erhaltenen Leckerli in dessen Beisein verhext habe. Die wohlweisen Richter wollten aber ganz sicher gehen und verordneten daher der Hexe den dritten und qualvollsten Foltergrad. Sie erlitt ihn am 8. Mai, »wo – besagt das Protokoll – die Delinquentin mit dem Gewichtstein hart aufgezogen, lang hängend gelassen und bei den Hauptfragen immer stark gezuckt (d. h. auf und ab geschnellt), ja überhaupt auf das allerschärfste gepeinigt worden«. Am Schlusse dieses »ungütlichen« Verhörs hat dann das Protokoll die Bemerkung: »Endlich ist die Göldi entlassen, matt und hart zugerichtet, und wieder in den neuen Turm getan worden.« Selbstverständlich hatte sie alle ihre Angaben schließlich noch einmal »am Folter erhärtet«.
Dadurch war der unglückliche Steinmüller wieder arg belastet worden, und die Reihe, »scharf angegriffen« zu werden, kam jetzt an ihn. Indessen konnte die Quälerei des Angeschuldigten nur bis zur Drohung mit der Folter, nicht bis zur Anwendung derselben getrieben werden. Der arme alte Mann, zur Verzweiflung gebracht, an der Welt und an sich selbst irre geworden durch das Zureden seiner Verwandten und durch die Drohungen seiner Richter, gestand, nachdem er lange standhaft die verrückte gegen ihn erhobene Beschuldigung abgewiesen, dieselbe zu, beschrieb sogar im Delirium der Angst, wie und aus welchen Substanzen (Stahlspäne, Eiweiß, Gips, Honig, Vitriol, »Galizensteinwasser«, »Goldvernies« usw. im Blödsinn) er das Zuckerleckerli bereitet habe, widerrief dann sein tolles Geständnis wieder völlig und entschieden, ließ sich hierauf abermals »mürbe« machen und endigte damit, daß er sich der Gewalt seiner lieben Mitmenschenbestien entzog. In der Nacht zum 12. Mai erhenkte er sich in seinem Kerker. Was aber dem Lebenden nicht angetan worden, mußte wenigstens dem Toten widerfahren. Der Leichnam wurde dem Henker übergeben und von diesem zum Hochgericht gekarrt. Dort wurde dem Toten die rechte Hand abgehauen, um an den Galgen genagelt zu werden, unter welchem man den Körper verscharrte. Das Vermögen des Hexenmeisters wurde natürlich von Rechts wegen konfisziert, wie denn auch dieser Hexenprozeß, gleich so vielen anderen, ein recht einträgliches »Geschäft« gewesen ist. Infolge der Einziehung von Steinmüllers Vermögen, sowie der Konfiskation der sechzehn Doublonen der Hexe, ferner einer dem Doktor Zwicki in Mollis zuerkannten Buße von zweihundert Kronentalern und einer weiteren im Betrage von hundert Kronentalern der Witwe Steinmüllers auferlegten, hatte nämlich nach Abzug sämtlicher Prozeßkosten der »protestantische Landessäckel« von Glarus einen reinen Profit von siebenhundertvierundfünfzig Gulden.
Fiat justitia!
Am 24. Mai erklärten »Meine Gnädigen Herrn und Oberen vom evangelischen Rat« den Handel für reif (»matur«) und die Urteilsfällung mußte demnach erfolgen.
Nun scheint aber doch die Vernunft in das enge Felsental von Glarus einen obzwar nur dünnen Lichtstrahl hineingeworfen zu haben und scheint dieser Lichtstrahl auch durch das Schlüsselloch des evangelischen Ratsaales geschlüpft zu sein. Denn unter den Mitgliedern des Malefizgerichts tauchten Bedenken auf gegen die Fällung eines Todesurteils. Insbesondere soll – die Akten sind hier sehr lückenhaft und wahrscheinlich nachmals absichtlich lückenhaft gemacht worden – der Herr »Landschreiber« der Meinung gewesen sein, die Göldi am Leben zu lassen. Aber er drang damit nicht durch, weil ein anderer Einfluß, nämlich der des offenbar ganz schafköpfigen und äußerst rachsüchtigen Herrn Doktor Tschudi, mächtiger war als der seinige.
Also wurde denn dem schmachvoll zeitwidrigen Werke des Unsinns und der Leidenschaft, hervorgerufen durch die Bosheit eines verzogenen Kindes, die Krone aufgesetzt und am 16. Juni »laut unserer Malefizgerichtsordnung« gegen die Hexe Anna Göldi die Sentenz gefällt, daß sie durch »das Schwert vom Leben zum Tode hingerichtet und ihr Körper unter dem Galgen vergraben werden, auch ihr in hier habendes Vermögen konfisziert sein solle«.
Das Urteil ist übrigens in wunderlich gewundener Sprache verfaßt. Man glaubt bei Lesung dieses Aktenstückes mitanzusehen, wie der Herr Landschreiber, der es zu redigieren hatte, sich drehte und wand, um die Ehre seines Landes nach Menschenmöglichkeit zu decken. Deshalb kommen die Worte Hexe und Hexerei in dem Urteile gar nicht vor. Die Göldi wird vielmehr nur ganz allgemein als »Übeltäterin« bezeichnet, weiterhin als eine »Vergifterin« und ihre angebliche Verschuldung als eine »Greueltat gegen das Töchterli des Herrn Doktor Tschudi«.
Am 18. Juni 1782 fiel bei dem Galgen auf dem »Spielhof« das Haupt der Anna Göldi unter dem Richtschwert.
Die Akten schweigen gänzlich über das Verhalten des Opfers bei der Urteilsfällung und Ermordung. Es existiert nur die Überlieferung, daß Bonze Tschudi, der die Delinquentin »auszutrösten« hatte, geäußert habe, sie sei als »reumütige und bußfertige Sünderin« gestorben. Das will eben nur sagen, daß die Unglückliche, an Leib und Seele gebrochen, die geistliche »Auströstung« in stumpfer Willenlosigkeit über sich ergehen ließ und gleich so vielen Hunderten und Tausenden von »Hexen« vor ihr den Tod als den Heiland willkommen hieß, der sie von einem qualvollen Dasein und von ihren lieben Mitchristen erlöste.
Als es zu spät war, erwachten Gewissen und Scham unter den Verfolgern und Mördern der beiden Opfer. Ein Wohldiener »Meiner Gnädigen Herren und Oberen« erbat sich von denselben die Erlaubnis, »die Prozeßakten zur Ehre der Obrigkeit in Druck zu befördern«. Allein man fand für gut, sich diese »Ehre« zu verbitten; denn der Schrei der Entrüstung über den Göldihandel – der vortreffliche Geschichtsforscher Schlözer brandmarkte ihn in seinen »Staatsanzeigen« mit dem neuen Wort »Justizmord« –, der in der ganzen gesitteten Welt wachgeworden, hatte inzwischen auch an den Felswänden des Glärnisch Widerhall gefunden. Die Glarner von heute aber gäben sicherlich etwas darum, daß ihr Land nicht der traurigen Berühmtheit genösse, die Stätte zu sein, auf der innerhalb der Grenzen des deutschen Sprachgebiets die letzte Hexe gerichtet und hingerichtet worden ist.