Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Vermochtest du, ein namenloser Flüchtling,
Zwei Völker zu verblenden wunderbar
Und das verwegne Truggespinst zu sichern
Durch ein Geheimnis, fest und tief und ewig?
Puschkin, »Boris«, III, 3.
Warum und wieso der Schwindel möglich war.
Eines Winterabends im Jahre 1584 trat Iwan IV. (Wassiljewitsch), Zar aller Reußen, genannt »Der Henker« oder »Der Schreckliche«, auf die »rote« Treppe des Kremlin zu Moskau hinaus, um lange zum Firmament emporzustarren, wo zwischen den Kuppeln und Türmen der Kirche Iwans des Großen und der Kirche der Verkündigung ein Komet sichtbar war mit kreuzformartigem Feuerschweif. Der Zar wandte sich endlich ab, bekreuzigte sich und murmelte vor sich hin: »Das bedeutet meinen Tod!«
Bald darauf erkrankte er schwer. Aus Lappland herbeigeholte Schamanenzauberer vermochten dem Übel nicht Einhalt zu tun. Am 10. März 1585 berief er den Bojarenrat und ließ sein Testament aufsetzen, kraft dessen er die Thronfolge seinem Sohne Feodor zuteilte und in Betracht der Blödsinnigkeit desselben einen Regentschaftsrat bestellte, bestehend aus den beiden Knäsen (Fürsten) Iwan Schuisky und Iwan Mstislawsky, sowie den drei Bojaren (Großbarone) Bogdan Bielsky, Nikita Juryew und Boris Godunow. Am 18. März starb »Der Schreckliche« und säuberte mittels seines Todes den Erdball vom größten Scheusal, das zu tragen dieser jemals verdammt war. Denn überblickt man das Wüsten und Wüten dieses Dämons, ja faßt man auch nur die von ihm veranstalteten »Opaly« (Ausmerzungen des Volkes) ins Auge, mit deren Greueln verglichen die Schrecken der Französischen Revolution harmlose Kinderspiele waren, so könnte man unschwer zu dem Glauben kommen, die »allgütige Mutter« Natur hätte in ihrer grausamsten Laune dieses Untier geschaffen, um eine fürchterliche Probe anzustellen, was alles die Menschen sich gefallen ließen und bis zu welcher bodenlosen Tiefe der Niedertracht die sklavische Feigheit der Völker hinabreichen könnte.
In unsern Tagen ist es bekanntlich zur »wissenschaftlichen« Mode geworden, den Unterschied von gut und böse, Recht und Unrecht, Tugend und Laster, Verdienst und Verschuldung zu verwischen und einem grundsatzlosen Geschlecht das ohnehin schon sehr geschwächte Gefühl der Verantwortlichkeit vollends aus der schlaffen Seele zu schmeicheln mittels der materialistischen Theorie, daß die Gefühle, Gedanken und Taten des Menschen schlechterdings nur Produkte seiner physischen Anlagen und Eigenschaften wären. Laster, Frevel und Verbrechen müßten daher für unumgängliche Schlußfolgerungen aus natürlichen Prämissen angesehen werden, für Abnormitäten, und demnach Lasterhafte, Frevler und Verbrecher nur für mitleidswerte Kranke, für Gestörte, für Wahnsinnige. Es ist recht verwunderlich, daß diese modische Theorie, die sich ja auch schon spürbar genug in die Strafgesetzgebung und Strafrechtspflege eingeschlichen hat und, wenn erst in ihrem ganzen Umfange verwirklicht, die menschliche Gesellschaft unfehlbar in den aller Verantwortlichkeit baren Zustand der Bestialität zurückentwickeln wird – ja, es ist recht verwunderlich, daß diese schöne Theorie nicht auch schon von irgend einem »wissenschaftlichen« Modisten auf Iwan den Schrecklichen angewandt und also an dem »grausen« Zaren, wie er beim Lermontow heißt, eine der jetzt so beliebten »Rettungen« verübt wurde. Freilich, ein leichtes Stück Arbeit würde der »Retter« nicht haben. Denn wenn ihm der Nachweis, daß Iwan der Henker von Haus aus ein Wahnsinniger gewesen, nicht allzu schwer werden dürfte, so vermöchte doch keine Trübung der Quellen und keine sophistische Dialektik die Tatsache aus der Welt zu schaffen, daß in dem Wahnsinn des Zaren Methode gewesen ist und der »Grause« sich seiner Absichten und Zwecke sehr wohl bewußt war.
Wie ein roter Faden, nein, wie ein roter Blutstrom windet oder wälzt sich durch Iwans Greuelherrschaft der Staatsgedanke, mittels Gründung der zarischen Autokratie, des zarischen Absolutismus höchster Potenz die moskowitische Reichseinheit her- und festzustellen, welche bislang durch die Machtstellung des Bojarentums stark beeinträchtigt worden war. Allerdings ist der Zar häufig genug Henker um der Henkerlust willen gewesen, allerdings trieb er die gräßliche Wollust der Grausamkeit bis zum raffiniertesten Kitzel; aber den angegebenen Grundzug seiner Politik hat er selbst in den wildesten Orgien der Entmenschung so wenig vergessen, als er desselben in den tollen Übertreibungen der »gottesdienstlichen« Übung seiner »Frömmigkeit« jemals vergaß. Denn selbstverständlich war der vierte Iwan sehr »fromm«, das heißt allem Aberglauben der orientalisch-russischen Kirche leidenschaftlich zugetan, ganz wie Ludwig XI. von Frankreich »fromm«, das heißt allem Aberglauben der okzidentalisch-römischen Kirche fanatisch ergeben war. Man könnte überhaupt Iwan IV. den aus dem Französischen ins Russische übersetzten Ludwig XI. nennen. Denn im ganzen und großen spielte der Zar im 16. Jahrhundert in Rußland die Rolle, welche der König im 15. Jahrhundert in Frankreich durchgeführt hatte. Beide haben, jeder in seinem besonderen Stil, die Adelsherrschaft gebrochen und die absolute Monarchie begründet.
Kein Zweifel, das russische Volk erkannte in dieser Gründung eine Wohltat, wenigstens instinktmäßig. Daraus mag sich das Unglaubliche und doch fraglos Wahre erklären, daß die Russen diesem Wüterich, der die Grausamkeit bis zu unerhörten Taten wilder Wut oder auch bis zur raffiniertesten Qualenaustiftelung getrieben, seine eigene Familie in empörendster Weise gepeinigt, seinen zweitältesten Sohn eigenhändig umgebracht, in mongolisch wüster Vernichtungsraserei die Bewohnerschaften ganzer Städte und Landschaften ausgetilgt, daneben im Schlamme ekelhafter Ausschweifungen sich gewälzt hatte, geradezu leidenschaftlich unterwürfig und zugetan waren – so leidenschaftlich, daß beim Tode des Scheusals von Zar die allgemeinste, aufrichtigste, wildeste Wehklage losbrach. Man hätte, so man dies Gebaren der Moskowiter ansah, meinen können, ein Gott, ihr Gott wäre ihnen gestorben. Und im Grunde war es ja so, denn die zarische Macht und Gewalt war eine abgöttisch geglaubte und verehrte.
Vom 18. März 1585 an hieß Feodor Iwanowitsch, Iwans des Schrecklichen dritter Sohn – der älteste war frühzeitig gestorben, den Zweitältesten hatte der Vater totgeschlagen – der Zar aller Reußen. Der zweiundzwanzigjährige Junge war physisch und psychisch eine Null, kraft-, verstand- und kenntnislos, ein Dreiviertelstrottel, ein Fex, der seine ganze Zeit damit verbrachte, in den Kirchen des Kremlin herumzulaufen, die Glocken allerhöchsteigenhändig zu läuten und sich tagelang die absurdesten Heiligenlegenden vorlesen zu lassen. Bei feierlichen Anlässen setzte man den Zarfex auf den Thron und gab ihm Zepter und Reichsapfel in die Hände. Dann starrte er mit dem Lächeln blödsinniger Bewunderung auf diese Insignien einer Macht, die ein anderer statt seiner inne hatte und übte. So war der letzte Zar aus dem Hause Rurik, will sagen aus dem warägisch-normannischen Herrscherstamm, der letzte Zar aus der Familie der alten Großfürsten von Moskau. Man hatte dem Schwächling die Schwester des Boris Godunow, Irinia oder Irene, als Gemahlin angetraut, und sein Schwager Boris war der Zar des Zaren, tatsächlich jetzt schon der Leiter und Beherrscher Rußlands. Denn dieser Magnat, dem Titel nach ein Mitglied des Regentschaftsrats, also einer der fünf obersten Minister, hatte vermöge der zarischen Schwagerschaft die Macht seiner vier Amtsgenossen bald zu einem Nichts gemacht. Boris war zweifelsohne ein ungemein begabter, schlauer und erfahrener Mann, dabei von einem unbändigen Ehrgeiz besessen, der als sein Endziel die Erlangung der Zarenkrone wohl schon frühzeitig ins Auge gefaßt haben mochte. Daß ihm dabei seine tatarische Abkunft ein Hindernis sein würde, brauchte er nicht zu fürchten, denn bekanntlich war seit den Zeiten, wo die Mongolen zwei Jahrhunderte lang über Rußland geherrscht hatten, das Blut der Russen, namentlich auch das der vornehmen, stark mit tatarischem gemischt.
Nun aber ist zu melden, daß Iwan der Schreckliche neben seinem Nachfolger Feodor noch einen Sohn hinterlassen hatte, und zwar einen Sprößling aus seiner siebenten Ehe mit Marfa (Martha) Nagoy, einer Dame von tatarischer Abkunft. Dieser Sohn, im Jahre 1581 geboren, also beim Tode seines Vaters ein unmündiger Knabe, hieß Dmitry (Dimitri, Demetrius) und war in den Augen streng rechtgläubiger Russen allerdings nur ein Bastard. Denn der Lehre der russischen Kirche zufolge kann ein orthodoxer Christ nur viermal rechtmäßig sich verheiraten. Indessen war es bei des grausen Zaren Lebzeiten niemand eingefallen, gegen die Legitimität des kleinen Dmitry Protest zu erheben, und demzufolge führte der Prinz gleich seinem Halbbruder Feodor den Titel Zaréwitsch, d. i. Zarensohn. Iwan der Schreckliche selbst jedoch schien diesen seinen letzten Sprößling nicht für voll angesehen zu haben; denn er hatte ja in seinem Testament bestimmt, daß Dmitry nichts erben sollte als die Stadt Uglitsch und ihr Gebiet. Dies verhinderte jedoch nicht, daß angesichts der Schwächlichkeit und Hinfälligkeit des Zaren Feodor die Augen vieler Russen in dem Knaben Dmitry den künftigen Zaren erblickten. Boris ließ es sich daher angelegen sein, diesen Thronprätendenten dem Volke vorderhand mehr aus dem Gesichtskreise zu rücken. Kaum war Feodor zum Zaren gekrönt, so wurde Marfa Nagoy, die Witwe des Schrecklichen, mit ihrem Söhnlein Dmitry nach der Stadt Uglitsch geschafft, um dort ihren ständigen Aufenthalt zu nehmen. Boris bestellte zum Wächter von Mutter und Kind seinen Diak (Kanzleisekretär) Bitjagowsky, auf den er sich vollständig verlassen konnte. Ist den Berichten, welche dieser Beamte von Uglitsch nach Moskau sandte, zu glauben, so verriet sich der kleine Dmitry als der echte Sprößling seines Vaters, und zwar mittels Betätigung der Instinkte wilder Grausamkeit. Der Knabe hatte ein Wohlgefallen daran, Tiere raffiniert zu quälen, und er soll auch haben verlauten lassen, daß er dereinst mit Menschen ebenso verfahren werde. Eines Wintertags, so wird erzählt, hatte er mit Hilfe seiner Spielkameraden auf dem Hofe des Uglitscher Schlosses nach Knabenart den Schnee zu Menschenfiguren geballt. Diesen gab er die Namen der Magnaten des Reichs, und die größte nannte er Boris. Dann nahm er seinen hölzernen Säbel und schlug damit den Schneemännern die Arme und die Köpfe ab mit den Worten: »So werde ich mit ihnen umspringen, wenn ich einmal groß bin!«
Es ist möglich, daß der Knabe infolge der grollenden, aufreizenden, rachsüchtigen Äußerungen seiner Mutter solche oder ähnliche Worte gesprochen hat. Wahrscheinlicher freilich erscheint es, daß sie ihm hinterher in den Mund gelegt worden sind. Im übrigen hat es solcher kindischer Drohungen gar nicht bedurft, um das Leben des letzten Sprößlings Iwans des Henkers zu gefährden. Der Prinz war ja ein Hindernis, sogar, wie die Sachen lagen, das einzige ernstliche Hindernis auf Boris Godunows Wege zum Zarenthron.
Daß Boris der Urheber dessen war, was am 15. Mai 1591 (a. St.) auf dem Schloßhofe zu Uglitsch geschah, dürfte einer ernstlichen Anzweiflung kaum unterstellt werden können. Am genannten Tage, am hellen Tage, ist nämlich dort der Zarewitsch Dmitry ermordet worden: man schnitt ihm die Kehle durch. Das ist eine unzweifelhafte Tatsache. Allein die Einzelheiten der Mordtat konnten nicht aktenmäßig festgestellt werden, weil die Mörder, der Diak Bitjagowsky, sein Bruder Daniel, seine Frau, samt Josef Wolochow und Nikita Katschalow, von dem wütenden Volke von Uglitsch, welches Marfa Nagoy und ihre zwei Brüder angesichts der Leiche des ermordeten Sohnes und Neffen zur Rache aufgerufen hatten, gesteinigt wurden.
Boris unterschlug den aus Uglitsch über die Katastrophe eingelaufenen Bericht und gab dem Zaren Feodor einen gefälschten in die Hände, worin es hieß, der junge Dmitry hätte sich in einem Anfall von Epilepsie, da er gerade ein scharfes Messer in der Hand gehabt, selber eine Wunde am Halse beigebracht und wäre an der Verblutung gestorben – eine ganz dumme Lüge, die ihrem Urheber später teuer zu stehen kommen sollte. Vorderhand freilich erntete er die Früchte des Uglitscher Verbrechens. Niemand wagte mehr, seinem Willen zu widerstehen, vollends dann nicht mehr, als er auch die große Familie der Fürsten Schuisky, sowie das Haupt der russischen Klerisei, den Erzbischofmetropoliten von Moskau, tief gedemütigt und seinem Machtgebot gebeugt hatte. An die Mutter des ermordeten Dmitry erging ein zarischer Ukas, kraft dessen sie »zur Strafe dafür, daß sie ihren Sohn nicht besser behütet hätte«, aus Uglitsch hinweg und in ein im Norden Rußlands gelegenes Kloster verwiesen wurde, wo sie den Nonnenschleier umtun mußte. Die Hinterlassenen derer dagegen, welche der Lynchjustiz des Volkes von Uglitsch zum Opfer gefallen, wurden reichlich versorgt. Rastlos bemüht, seine Stellung nicht nur zu erhalten und zu befestigen, sondern sie auch zu einer Aufgangsstufe herzurichten, von welcher aus das letzte und höchste Ziel unschwer zu erreichen wäre, suchte und wußte Boris seine Regierung mit dem Glanze von Eroberungen zu umgeben, der dem russischen Ausbreitungstrieb schmeichelte. Ebenso beeiferte er sich, die Geneigtheit von Klerisei und Adel zu gewinnen, und auf sein Bestreben, dem letzteren zu gefallen, ist hauptsächlich eine im Jahre 1593 getroffene, tiefeinschneidende Maßregel zurückzuführen, jener zarische Ukas, der die russischen Bauern an die Scholle fesselte, indem er ihnen strengstens verbot, ihren Wohnsitz zu ändern. Das war eine Maßregel, deren unberechenbare Tragweite zunächst gar nicht erkannt wurde. Das war die Begründung der bäuerlichen Leibeigenschaft und bald auch eine der Hauptursachen des gegen Godunow erwachenden russischen Volkshasses.
Zu Anfang des Jahres 1598 starb der Schattenzar Feodor, und so war denn die Zeit gekommen, wo Boris auch dem Namen nach der Zar aller Reußen sein wollte. Er fand es angezeigt und rätlich, zuvörderst noch eine Komödie aufzuführen, nämlich diese, daß er durch den sogenannten großen Landesrat (»Semskaya Duma«), ein Schein- und Schemenparlament, in welchem die geistlichen Magnaten, die Erzbischöfe und Bischöfe, sowie die Adligen, die Bojaren, saßen, seine Schwester Irene, Feodors kinderlose Witwe, zur regierenden Zarin bestellen ließ. Im raschen Weitergang der wohlinszenierten und gutgespielten Posse entsagte dann die Zarin Irene dem Zepter und ging in ein Kloster, ihr Bruder Boris aber machenschaftete, ränkelte, drohte, bestach und schauspielerte so geschickt, daß er schon am 21. Februar 1598 vom Adel, Klerus und Volk Moskaus förmlich angefleht wurde, sich doch um Gottes willen des verwaisten Rußlands anzunehmen, das heißt Zar zu werden. Godunow ergab sich, wie er sagte, »nur zögernd und notgedrungen in den Willen Gottes«, ergriff das Zepter und ließ sich im Kremlin mit großer Prachtentfaltung die Zarenkrone aufsetzen. Man muß ihm nachsagen, daß er gewissermaßen die Rolle Peters des Großen vorweggenommen habe, das heißt, daß er Rußland aus der Barbarei des Asiatentums heraus- und in die europäische Zivilisation hineinführen wollte.
Aber seine Versuche mißlangen, teils weil sie zu wenig um- und vorsichtig unternommen wurden, teils weil Rußland damals noch viel zu asiatisch war, um für europäische Kultur überhaupt schon empfänglich zu sein, teils endlich, weil der Zar Boris im Hinblick auf den Ausgang des Zarewitsch Dmitry der ungeheuren Mehrzahl seiner Untertanen doch nur für einen Usurpator galt, Adel und Klerisei im geheimen fortwährend gegen ihn wühlten und sogar solche seiner Absichten und Strebungen, die zweifellos löblich und ersprießlich waren, zu hemmen, zu hindern und zu durchkreuzen suchten und wußten. So zum Beispiel die Bemühungen des Zaren, einem altherkömmlichen russischen Nationallaster, der Saufwut, zu steuern oder wenigstens Zaum und Zügel anzulegen. In Bälde war die Unpopularität, ja Verhaßtheit Godunows bei allen Ständen und in allen Schichten des Russentums eine vollendete Tatsache.
Zur Vervollständigung dieser flüchtigen Zeichnung der Lage, in der Rußland auf der Schwelle vom 16. zum 17. Jahrhundert sich befand, gehören noch zwei Züge: – Erstens die Stellung des russischen Staates gegenüber dem polnischen, das heißt die Hinweisung auf den altherkömmlichen, zur erbitterten Feindseligkeit längst verknöcherten Gegensatz zwischen Polen und Russen. Diese Gegensätzlichkeit mag ursprünglich in Stammes- oder gar in Rasseverschiedenheiten gewurzelt haben, war aber höchst bedeutsam verschärft worden durch den Umstand, daß die Russen der anatolisch-byzantinischen Orthodoxie anhingen, während die Polen orthodoxe römische Katholiken waren, fanatische sogar von der Zeit an, wo das schon halb für den Protestantismus gewonnene polnische Volk durch die Klugheit und Energie des Jesuitenordens wieder in den römischen Pferch zurückgetrieben worden. Dieser religiöse und konfessionelle Gegensatz von Polen und Russen war fraglos eine unumgängliche Voraussetzung der Möglichkeit einer Erscheinung, wie die des falschen Demetrius eine gewesen. Zweitens ist mit Betonung zu erwähnen, daß infolge mehrjähriger Mißernten mit dem Jahre 1601 in Rußland ein allgemeiner Notstand begann, der sich bis zum Jahre 1604 verlängerte und in vielen Gegenden des Reiches bis zur bittersten Hungersnot sich steigerte. Auch dieses Unglück half das Auftreten und die Erfolge des Betrügers in bedeutendem Grade mitermöglichen.
Denn es ist ja wohlbekannt und durch Hunderte von Zeugnissen der Geschichte bestätigt, daß solcherlei Leiden die Gemüter der Menschen und der Völker für das Außerordentliche stimmen, für den Glauben an das Unglaubliche empfänglich machen und auf das Wunderbare vorbereiten. Außerdem wußten es die Machenschaften der Feinde des Boris so einzurichten und dahin zu bringen, daß die ganze Schwere der öffentlichen Drang- und Trübsale auf den Usurpator zurückfiel, als ob er der Verursacher der Hungersnot und jeglichen anderen Übels wäre. Man weiß ja, wie leicht es unter solchen Verhältnissen ist, der Angst und dem Groll der Volksmassen, welche nirgends und zu keiner Zeit logisch zu denken vermochten, einen Sündenbock zu bezeichnen. Die umsichtigen und eifrigen Bemühungen des Zaren, die schwere Not zu heben oder wenigstens zu lindern, erwiesen sich demzufolge als eitel, den gegen ihn wachgerufenen und geschickt genährten Haß zu beschwichtigen. Er war einmal als Sündenbock gekennzeichnet und blieb es.
In solcher Bedrängnis und Gärung befand sich Rußland, als von Polen her eine wundersame Kunde nach Moskau gelangte.
Wie der Schwindel anging, vorschritt und sein Ziel erreichte.
Wie lautete diese Kunde, die wie ein Blitz in die schwüle Stimmung fiel, von der die russische Nation befangen war?
Sie lautete: Der Stamm Ruriks ist noch nicht erloschen. Der Zaréwitsch und rechtmäßige Nachfolger Iwans des Schrecklichen, der junge Dmitry, den man irrtümlich tot und zu Uglitsch ermordet glaubte, ist noch am Leben. In der polnischen Provinz Litauen von einem Woiwoden gastfreundlich aufgenommen, hat er den angesehensten Männern der Republik Polen, sowie dem Könige Sigismund III. selber sich zu erkennen gegeben und schickt jetzt sich an, sein klares Recht auf den russischen Zarenthron als letzter rechtmäßiger Sproß des Hauses Rurik, als legitimer Sohn des vierten Iwan Wassiljewitsch mit der Hilfe Polens geltend zu machen.
»Mit der Hilfe Polens«. Schon dieser Beisatz hätte die Russen stutzig machen sollen. Aus Polen und mit Polens Hilfe kam der Prätendent, also aus dem Lande und mit der Unterstützung von Rußlands Erbfeind. Aber wann und wo haben Menschendummheit, Volksaberglauben und Parteiwut gezögert, auf einen kolossalen Lügenköder begierig anzubeißen? Nimmer und nirgends! Wann und wo haben sie angesichts eines frechen Schwindels verständige Erwägungen angestellt? Zu keiner Zeit und an keinem Ort!
Der wirkliche Sohn des »grausen« Zaren, der wahre Dmitry, war zweifellos ermordet, tot und begraben. Das hinderte aber nicht, daß die große Mehrzahl der Russen in einem nachgemachten Dmitry einen Helden, Helfer und Heiland sah und ihn geradezu vergötterte, für eine Weile nämlich, das heißt gerade so lange, als er Glück hatte.
Der historische Roman des falschen Demetrius, den man, wie im Schlußkapitel dieser Historie gezeigt werden soll, füglich einen Tendenzroman nennen darf, hat wie folgt angehoben.
Um die Mitte des Jahres 1603 stand im Schlosse zu Brahin in Litauen ein junger Mensch als Bereiter oder Unterstallmeister im Dienste des polnischen Fürsten Adam Wiszniewiecki. Eines Tages wurde der Bereiter krank, todkrank, das heißt er stellte sich krank, todkrank, und ließ den Hauskaplan des Fürsten, welcher Geistliche ein Jesuit war – wohlgemerkt! – zu sich bitten, um ihm seine angeblich letzte Beichte abzulegen. Solchem Beichtvater nun vertraute das Beichtkind an, daß es der todgeglaubte russische Zaréwitsch Dmitry sei, und folglich der rechtmäßige Zar aller Reußen, dessen angestammten Thron ein grausamer Usurpator innehätte. Zur Bekräftigung dieser großen Neuigkeit erzählte – dem Berichte des Jesuitenpaters zufolge – der Scheinkranke eine höchst romantische Geschichte, wie er durch einen deutschen Arzt den mörderischen Anschlägen des Boris entrissen und wie an seiner Statt zu Uglitsch der Sohn eines leibeigenen Knechtes ermordet worden wäre – ein ganz dummes, schlecht ersonnenes und schlecht stilisiertes Märchen. Aber in solchen Fällen heißt es bekanntlich: »Je dümmer, desto schöner!« Zur Beglaubigung seiner Fabel brachte, wie der Beichtvater erzählte, der Bereiter ein Siegel vor, das Wappen und Namen des Zarewitsch Dmitry zeigte, sowie ein kleines goldenes, angeblich mit Edelsteinen besetztes Kreuz, das ihm, behauptete er, bei seiner Taufe sein Pate, der Fürst Mstislawsky, geschenkt hätte.
So die Aufstellung, so die Beweisstücke. Und daraufhin – es klingt ebenfalls märchenhaft – wurde der Stallknecht von seinem Brotherrn, dem Fürsten Adam Wiszniewiecki, als wirklicher und wahrhafter Zarewitsch Dmitry anerkannt – rasch auch von anderen, so von dem Bruder des litauischen Magnaten, dem Fürsten Konstantin Wiszniewiecki, und von dessen Schwiegervater, dem Woiwoden von Sendomir, Jurji Mniszek. Diese beiden Großbarone, beide als fanatische Anhänger der Gesellschaft Jesu bekannt, erklärten dem Könige Sigismund, der Bruder und rechtmäßige Nachfolger des verstorbenen russischen Zaren Feodor wäre wunderbarerweise gerettet, aufgefunden und erkannt worden. Sigismund, von dem päpstlichen Nuntius an seinem Hofe, Monsignore Rangoni, gehörig bearbeitet, glaubte oder stellte sich an, als glaubte er an eine Sache, die mehr und mehr die Gestalt einer von langer Hand her vorbereiteten und inszenierten Komödie annahm und dann auch ganz ungescheut als ein gegen Rußland, gegen das anatolisch-byzantinisch-rechtgläubige Rußland gerichtetes jesuitisch-polnisches Intrigenspiel weiterspielte.
Der Stalldiener Wiszniewieckis wurde unter der Hand an den polnischen Königshof nach Krakau geladen. Dort ist er im folgenden Jahre (1604) im Palaste des Nuntius (oder im Jesuitenkollegium?) von der griechisch-katholischen zur römisch-katholischen Kirche übergetreten, was wohl auch nur eine Szene der ganzen Komödie war, insofern der nachgemachte Zarewitsch höchstwahrscheinlich von Geburt ein Polak und demnach schon von Haus aus römisch-katholisch gewesen ist. Aber die feierliche Posse war durchaus im Sinne der Leiter des ganzen Stückes, das heißt der Jesuiten, notwendig, um der Welt einen zum römischen Katholizismus bekehrten russischen Zaréwitsch vorschauspielen zu können. Bei seinem angeblichen Übertritt in die römische Kirche, der übrigens vorläufig noch geheimgehalten werden sollte, mußte der junge Mann geloben, auch Rußland zu dieser Kirche herüberzubringen, was ja schon seit längerer Zeit der heiße Wunsch der Gesellschaft Jesu und der Zweck von schon mancher offen oder versteckt getanen Arbeit derselben gewesen. Das geleistete Gelöbnis war der Preis, um den die Jesuiten den kläglichen Waschlappen von Polenkönig, Sigismund III., vermochten, den erdichteten oder wenigstens zurechtgeschneiderten Dmitry förmlich als Zaréwitsch, als echten und legitimen Sprößling von Iwan Wassiljewitsch anzuerkennen. In feierlicher Audienz ließ sich der »König« der »Republik« Polen – die Verkoppelung dieser beiden Worte kennzeichnet sprechend die polnische Anarchie – durch den päpstlichen Nuntius den Prätendenten vorstellen und richtete an ihn die Worte: »Gott behüte dich, Demetrius, Fürst von Moskau! Deine Herkunft ist uns bekannt und durch achtungswerte Zeugen bestätigt. Wir weisen dir ein Jahrgehalt von 40 000 Gulden an, betrachten dich als unsern Freund und Gast und ermächtigen dich, von den Ratschlägen und Diensten unserer Untertanen Gebrauch zu machen.«
Der Sinn des Schlußsatzes war nichts weniger als dunkel. Die »Republik« Polen zwar befand sich damals im Frieden oder wenigstens in einem auf zwanzig Jahre geschlossenen Waffenstillstand mit Rußland; allein das hinderte den »König« von Polen nicht, Rußland sofort den Krieg zu machen, wenigstens mittelbar, indem er den angeblichen Zaréwitsch ermächtigte, »von den Ratschlägen und Diensten« der polnischen Großen Gebrauch zu machen, das heißt mit deren Hilfe einen Kriegszug gegen den Zaren Boris zu rüsten.
Bis dahin war diese politische Komödie großen Stils ganz vortrefflich gegangen. Die feinen und frommen Herren von der Gesellschaft Jesu waren eben sehr geschickte Spielleiter und Marionettenlenker. Sie hatten das auch in der Auswahl des »Helden« ihres Stückes bewiesen, indem sie unter der Hand zu verbreiten verstanden, der wiedergefundene Zarensohn habe alle die körperlichen Merkmale, die an ihm in seiner Kindheit zu Uglitsch wahrgenommen worden seien. So das Merkmal, daß sein rechter Arm etwas länger als der linke; weiter, daß er eine Warze auf der Stirn und eine zweite unter dem rechten Auge habe. Auch sei er von mittlerem Wuchse wie sein Vater Iwan und sehr braun von Gesichtsfarbe wie seine Mutter Marfa. Im übrigen war unser Abenteurer nach den übereinstimmenden Zeugnissen solcher, die ihn oft gesehen haben, keineswegs ein Adonis, sondern im Gegenteil ein häßlicher Bursche, dessen impertinent blondes Haar, blaßblaue Augen, breites Gesicht mit vorstehenden Backenknochen, dicke Knollennase und wurstlippiger Mund von beträchtlichem Umfang durchaus keine verführerische Physiognomie ausmachten. Dem Anschein nach zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre alt, war der junge Mann breitschultrig, kräftig, behend und ein vortrefflicher Reiter, ein so vortrefflicher, daß die Sage, er wäre unter den Kosaken am Don aufgewachsen, vielleicht nicht grundlos ist. Seine geistige Kultur war der Meinung polnischer und russischer Edelleute von damals zufolge nicht gering. Denn er verstand rasch und hübsch zu schreiben, sprach polnisch und russisch – die letztgenannte Sprache freilich mit polnischem Akzent und häufiger Einmischung polnischer Worte – und kannte sogar etliche Brocken vom Küchenlatein. Die Geschichte Rußlands hatte er augenscheinlich sehr eifrig studiert. Er kannte sie genau und war namentlich in der Genealogie der russischen Aristokratie gut bewandert. Seine Rolle als geborener Prinz spielte er meisterlich, indem er sich unter den polnischen Magnaten so sicher und gewandt bewegte, als wäre er sein Lebtag nie in anderer Gesellschaft gewesen. Kurz, bis dahin machte das Werkzeug der Jesuiten seinen Schöpfern oder wenigstens Ausbildnern alle Ehre.
Es wurde nun unverweilt zur Ausführung des wohlangelegten Plans geschritten, der begründet war auf die sklavische, oder, besser gesagt, geradezu hündische Anhänglichkeit der russischen Volksmassen an das Haus Rurik und ihre Unzufriedenheit mit dem Regiment des Boris.
Dieser hatte die erste Botschaft vom Auftreten des nachgemachten Zaréwitsch in Litauen und am polnischen Königshof leicht genommen. Allein spätere und genauere Nachrichten hatten ihm über den Ernst der Sache keinen Zweifel mehr gelassen. Er beschloß, den Weitergang der polnischen Kabale – als welche ja ihm, der nur allzu gut wußte, daß der wahre Dmitry tot und wie er gestorben, der ganze Schwindel sofort erscheinen mußte – dadurch zu hemmen, daß er den Russen zu wissen tat, der falsche Dmitry wäre eigentlich ein verlaufener Mönch, der als Säufer und Wüstling weithin verrufene Grischka (Gregor) Otrepiew. Diese Erklärung ließ der Zar durch eine Gesandtschaft dem König von Polen überbringen, mit dem Beisatze, daß der besagte liederliche Mönch, der im Kloster zu Tschudow die Tonsur erhalten, im Jahre 1603 aus Rußland nach Litauen entwichen sei. Dann ließ Boris durch seine Gesandten die Auslieferung des frechen Betrügers fordern. Allein die Minister Sigismunds, zweifelsohne mit im Komplott, wußten der angebrachten und wiederholten Auslieferungsforderung allerhand Ausflüchte entgegenzustellen, und so konnte das Spiel seinen Fortgang nehmen. Um so leichter und rascher, als die zarische Kundgebung in betreff des Grischka Otrepiew in Rußland keinen Glauben fand.
Begleitet und geleitet von zwei Jesuitenpatres, begab sich der nachgemachte Zaréwitsch von Krakau nach Galizien, wo sich auf den Gütern des Woiwoden Mniszek bereits abenteuerlustige Scharen polnischer Edelleute, natürlich so ziemlich lauter Sprößlinge der ungeheuer großen Familie derer von Habe- und Taugenichts, zu einem kriegerischen Zuge gegen Moskau zu sammeln angefangen hatten. Mit dem Staatsgeschäft, das man in majorem dei gloriam begonnen hatte, wußte man nun auch ein Familiengeschäft zu verbinden, mit dem utile (Nützlichen) das dulce (Angenehme). Nämlich Pan Mniszek, der Woiwode von Sendomir, hatte eine sehr schöne Tochter, die Panna Marina, und neben diesem sehr schönen Besitz hatte er auch den sehr häßlichen einer kolossalen Schuldenlast, wie das eben bei den polnischen Magnaten damaliger Zeit zum adligen Stil und Ton gehörte. Aus dieser Voraussetzung ergab sich, wie die Sachen lagen, unschwer die logische Schlußfolgerung, daß am 25. Mai 1604 der angebliche Sohn Iwans des Schrecklichen einen Vertrag unterzeichnete und beschwor, kraft dessen er sich verpflichtete, nach seiner mit dem Beistande von Mniszek und dessen Freunden zu erlangenden Inthronisierung auf dem russischen Zarenthron 1. Rußland in den Schoß der alleinseligmachenden römischen Kirche zurückzubringen, 2. die schöne Marina Mniszek zu seiner zarischen Gemahlin zu erheben, 3. mit russischem Gelde die polnischen Schulden des lieben Herrn Schwiegervaters in spe zu bezahlen, 4. die russischen Fürstentümer Groß-Nowgorod und Pskow seiner geliebten Gemahlin in spe als erb- und eigentümliche Besitztümer zu überliefern, 5. dem künftigen Herrn Schwiegerpapa die Fürstentümer Smolensk und Sewerien als erbliche Lehen zu verleihen, 6. etliche noch näher zu bezeichnende russische Landschaften an die Republik Polen abzutreten.
Daraus ist zu ersehen, daß man mit dem Felle des zu erlegenden russischen Bären sehr freigebig umging. Man traf aber auch zur Jagd auf ihn ernstliche Anstalten, deren Kosten zuvörderst die Firma Mniszek, Wiszniewiecki und Kompanie aufzubringen hatte. Das ganze Geschäft war eine Art von Aktienschwindelunternehmen im Stile jener Zeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts taten sich »Konsortien« zur Aufschwindlung von breit- und schmalspurigen Eisenbahnen oder von nationalen oder internationalen Banken zusammen; damals, in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts schwindelten Jesuiten und polnische Magnaten, welch letztere mehr Schulden als Haare auf dem Kopfe hatten, gemeinschaftlich in Eroberungen von Land und Leuten. Es hat eben jede Zeit ihre eigene Manier, zu schwindeln, aber dem Wesen nach bleibt die menschliche Schwindelei allzeit dieselbe und wird es bleiben, solange es Schwindler und Beschwindelte gibt, also bis an das Ende der Tage. Zweifelhaft ist nur, ob der letzte Mensch der letzte Betrüger oder aber der letzte Betrogene sein werde, und vielleicht hilft man sich aus diesem Dilemma am anständigsten heraus, indem man sagt, der letzte Mensch werde der letzte betrogene Betrüger sein.
Wo immer zu der Zeit, von der hier gehandelt wird, in den Grenzbezirken zwischen Polen und Rußland etwas los war, da strömten sofort ganze Scharen von Krapülenskis und Waschlappskis, will hier sagen von Habe- und Taugenichtsen, Vagabunden und Räubern zuhauf, um mitzutun.
Die Werber, die der Prätendent und seine Helfershelfer in die Gegend von Kiew, in die Ukraine, zu den saporogischen und donschen Kosaken entsandten, hatten demnach leichtes Spiel.
So vermochte sich denn der nachgemachte Zaréwitsch schon am 15. August 1604 an der Spitze von 1500 Mann regelmäßiger polnischer Truppen, das heißt polnischer Schlachtschitzen (Edelleute oder auch Freibauern, Mitglieder der Schlachta, des niederen Adels in dessen ganzem Umfange), die zu Pferde dienten und von Magnaten befehligt wurden, gegen die Ufer des Dnjepr in Bewegung zu setzen, um den Krieg nach Rußland zu tragen, während doch die Republik Polen und ihr König mit dem Zarenreich in Frieden zu sein und zu bleiben behaupteten. In der Nähe von Kiew vereinigten sich andere Banden mit ihm, insbesondere Tausende von Kosaken, die der verlaufene Mönch Grischka Otrepiew, welcher uns bei dieser Gelegenheit ganz bestimmt und deutlich als einer der Spießgesellen, Treiber und Werber des falschen Demetrius vorgeführt wird, angeworben, gesammelt und in Bewegung gesetzt hatte. Das kleine Heer, womit der Prätendent am 23. Oktober oberhalb Kiews über den Dnjepr ging, um acht Tage später bei Morawsk das russische Gebiet zu betreten, mochte etwa 15 000 Streiter und Mitläufer zählen. Den Kern bildeten die polnischen »Hussaren«, nicht zu verwechseln mit der späteren ursprünglich ungarischen leichten Reiterart der Husaren; denn jene polnischen Reiter waren eigentlich recht »schwer«, ganz so wie die deutschen »Kyrisser« zu Ausgang des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts. Sie ritten auf schweren Schlachthengsten, hatten Stahlhelme und Eisenpanzer, führten als Hauptwaffe die Lanze und trugen als eigentümlichen Schmuck zwei Adler- oder Geierflügel, die durch silberne Haften auf ihren Schultern befestigt waren. Beim Betreten Rußlands ließ der Prätendent ein Manifest ausgehen, worin er dem russischen Volke kundgab, daß er käme, um als der rechtmäßige, wunderbar gerettete Sohn Iwans sein Thronrecht gegen den Usurpator Boris geltend zu machen. Auch Pan Mniszek, der Woiwode von Sendomir, erließ eine Proklamation, worin er erklärte, daß die polnischen Pane in diesem Dmitry den echten Zaréwitsch erkannt und darum beschlossen hätten, ihm zur Besitznahme seines väterlichen Thrones zu verhelfen.
Das abenteuerliche Unternehmen des Schwindlers und seiner Mitschwindler in den Einzelheiten der militärischen Handlungen zu verfolgen, ist an diesem Orte untunlich und auch überflüssig. Es genügt ja, zu sagen, daß der Abenteurer binnen wenigen Monaten einen vollständigen Erfolg erzielte, obwohl er nach einem kriegerischen Unfall, den er auf seinem Zuge nach Rußland hinein erlitt, einmal schon zur Rückflucht nach Polen sich anschickte. Diese Rückflucht verhinderten aber Russen, die sich ihm, nachdem er den russischen Boden betreten, sofort angeschlossen hatten. Sie erklärten ihm, falls er feige genug wäre, sein Unternehmen aufzugeben und sie im Stiche zu lassen, so würden sie ihn am Kragen nehmen, um ihn entweder dem Boris auszuliefern oder aber ihn kurzweg totzuschlagen. So mußte der Schwindler wohl oder übel beharren und ausharren, und bald darauf wurde ihm ein Triumph zuteil, der ebenso leicht errungen wie glänzend war.
Denn ganz Rußland schien ja von der Tarantel gestochen, schien vom Veitstanz ergriffen zu sein. Ein seltsamer, ein epidemischer Rausch war auf die gesamte Bevölkerung gefallen. Die plumpe Lüge vom Wiedererstandensein des Sohnes Iwans des Schrecklichen und von seinem Herankommen übte eine geradezu magische Wirkung. Massen von Bauern, eine Menge von Bojaren und Edelleuten schlossen sich dem Prätendenten auf seinem Zuge gen Moskau an; scharenweise liefen die Soldaten des Boris zu ihm über, und eine Stadt nach der andern öffnete ihm ihre Tore. In der Hauptstadt verließen die Ratten nach Rattenart das gefährdete Schiff, das heißt im Kremlin ward es mehr und mehr leer und öde um den Zaren Boris her. Das Verhängnis lag bleischwer auf den Schultern des Mannes. Er vermochte nicht aufzukommen wider die Last, sondern brach darunter zusammen. Am Morgen vom 13. April 1605 hielt er noch eine Beratung ab mit den obersten Staatswürdenträgern; am Abend desselben Tages war er tot. Ob er Gift genommen, ob ein Schlagfluß ihn weggerafft, ist unbestimmt und unbestimmbar. Doch ist der Schlagfluß wahrscheinlicher als das Gift. Im 15., 16., 17. und 18. Jahrhundert konnte ja bekanntlich kein mächtiger oder auch nur vorragender Mann eines jähen Todes sterben, ohne daß er dem Glauben der Leute nach vergiftet worden sein oder sich selbst vergiftet haben mußte. Es ist das für die Sittlichkeitsbegriffe und die Sittenzustände der »guten alten frommen Zeit« gewiß sehr kennzeichnend.
Auf die Sittlichkeitsbegriffe und die Sittenzustände der russischen Gesellschaft zur Zeit des falschen Demetrius wirft ein erschreckend kennzeichnendes Streiflicht, was unmittelbar nach dem Tode von Boris in Moskau geschah. Obgleich nämlich die ganze Bewohnerschaft der Hauptstadt im Herzen willig und schon bereit war, dem herankommenden Schwindler zuzufallen und zuzujubeln, huldigten alle Moskauer, alle, vom Erzbischofpatriarchen an bis zum letzten Kleinbürger, willig der Witwe des Boris, der Zarin Maria, ihrem sechzehnjährigen Sohne Feodor, sowie ihrer Tochter Xenia, und die Huldigenden alle verpflichteten sich mittels furchtbarer Eidschwüre, mit unverbrüchlicher Treue an der Zarinwitwe und ihren Kindern unentwegt festzuhalten. So tat auch der Bojar Peter Basmanow, der als der fähigste der russischen Generale an der Spitze eines neuausgerüsteten Heeres dem Prätendenten entgegengeschickt wurde.
Schon am 7. Mai jedoch erklärte sich derselbe Basmanow, der gar wohl wußte, wie es mit der Zarensohnschaft des angeblichen Dmitry bestellt wäre, und der dieses sein Wissen gegenüber dem ehrlichen Konrad Bussow, unserem Hauptgewährsmann, ohne Umstände verlautbart hatte – ja, derselbe Basmanow erklärte sich für den Betrüger und mit ihm das ganze Heer.
Das gab den Ausschlag. Boten, die Dmitry nach der Hauptstadt sandte, um sie zur Unterwerfung und Huldigung für ihn, als den rechtmäßigen Zaren, aufzufordern, wurden mit Jubel empfangen. Die Spitzen von Adel, Klerus und Bürgerschaft traten zusammen, erkannten den Dmitry als den echten Zaréwitsch und als den rechten Zaren an und sandten ihm eine Abordnung von Bojaren nach Tula entgegen, um ihn einzuladen, in seine »getreue« Hauptstadt einzuziehen. Er erklärte gnädig, bald kommen zu wollen. Bevor er aber kam, sandte er Befehle, die Zarinwitwe Maria und ihren Sohn Feodor zu erdrosseln, was dann am 10. Juni geschah. Der Tochter des Boris, der jungen Xenia, war noch Schlimmeres bestimmt als der Tod. Dmitry, der Mörder ihrer Mutter und ihres Bruders, zwang sie, seine Kebse zu werden. Weiter hat man von ihr nichts mehr vernommen.
Am 20. Juni 1605 hielt Zar Dmitry, wie er sich jetzt nannte und nennen ließ, seinen Triumphalpompeinzug in Moskau unter Vorantritt der polnischen Hussaren, welche in Gliedern von zwanzig Mann hoch einherzogen, mit eingelegten Lanzen und unter dem Getön ihrer Trompeten und Kesselpauken. Dann schritt die Klerisei in Prozession mit Fahnen und Heiligenbildern vor dem Zaren einher, welchen Bojaren in höchster Gala umgaben. Von der Pracht seiner Erscheinung kann eine Vorstellung schon der Umstand geben, daß er einen Halskragen im Werte von 150 000 Dukaten trug. Das Volk jubelte dem Götzen des Tages zu: »Hoch unser Väterchen! Gott segne und erhalte dich! Wir waren im Finstern. Jetzt aber mit dir ist die rote Sonne ( krasnoe zolnza) Rußlands wieder über uns aufgegangen«.
Neun Tage später ist Dmitry in der Marienkirche zu Moskau feierlich-prunkhaft zum Zaren aller Reußen gekrönt worden.
Es fehlte aber noch das Tüpfelchen auf dem i dieser zarischen Herrlichkeit. Das war die Anerkennung des neuen Zaren durch die noch lebende Mutter des wirklichen Dmitry. Damit, das heißt mit der Erlangung dieser Anerkennung, sollte allen etwaigen Zweifeln ein Ende bereitet werden. Die zwei ersten Bojaren des Reiches, der Fürst Feodor Mstislawsky und der Fürst Wassily Schuisky, wurden in das Kloster im Norden entsendet, wo Marfa Nagoy, die Witwe und letzte Frau Iwans des Schrecklichen, lebte, um sie nach Moskau zu holen. Sie kam und wurde von Dmitry mit der ganzen Ehrfurcht und Zärtlichkeit eines Sohnes empfangen. Was die beiden miteinander gesprochen haben, weiß man nicht; das aber weiß man, daß beide vortrefflich schauspielerten. Marfa hat zwar nie förmlich ausgesprochen, daß der falsche Zar ihr Sohn wäre. Wie konnte sie das auch, sie, welche den wirklichen Dmitry tot in ihren Armen gehalten hatte? Aber sie fand die Rolle der Zarenmutter mehr nach ihrem Geschmack als das Klosterleben und lebte daher mit ihrem angeblichen Sohn im besten Einverständnis. Will man die Gefühle zergliedert sehen, welche die Witwe des »grausen« Zaren bestimmten, die ihr angebotene Rolle und Stellung anzunehmen, so lese man im Demetriusfragment Schillers die herrliche Szene zwischen Marfa und dem Erzbischof Hiob – eine Szene, wie sie eben nur Schiller schaffen konnte.
Wie die Komödie zur Tragödie und der Schwindel zum Krach umschlug.
Nun galt es aber, des Vertrags vom 25. Mai des vorhergegangenen Jahres sich zu erinnern. Oder vielmehr, die polnischen Herren, die mit ihren kriegerischen Gefolgschaften zugleich mit Dmitry in die russische Hauptstadt eingezogen waren und dort Standquartiere bezogen hatten, zögerten gar nicht lange, den Pseudozaren an seine schweren, in Polen eingegangenen Verbindlichkeiten zu mahnen. Er konnte sich von der Erfüllung derselben nicht lossagen und wagte nicht einmal den Versuch einer Lossagung. Hieraus ergab sich aber mit Notwendigkeit, daß seine Stellung vom ersten Augenblick seiner gelungenen Usurpation an eine ganz schiefe und unhaltbare und der Zarenthronsitz für ihn ein sehr unbequemer und ungemütlicher war. Der Schwindler befand sich ja sozusagen zwischen zwei Feuern. Auf der einen Seite seine polnischen Helfershelfer, die in Moskau geradezu die Herren spielten, durch ihren Hoch- und Übermut das Russentum kränkten und herausforderten und die Stadt mit dem Geräusch ihrer Ausschweifungen erfüllten und ärgerten. Auf der andern Seite die russischen Großen, die in dem Prätendenten zunächst nur einen Hebel zum Sturze des verhaßten Boris gesehen hatten, jetzt aber erfahren mußten, daß der neue Usurpator auf ihre nationalen Gefühle und Anschauungen, auf ihre stupiden Vorurteile, auf ihren echtbarbarischen Haß gegen alles Fremde und auf ihre wildselbstsüchtige Abneigung gegen alle und jede Neuerung noch weit weniger Rücksicht nahm, als Boris getan hatte, ja daß der Eindringling so schaltete und waltete, als wäre er eigens hergekommen, um alles Russische zu verhöhnen und auszutilgen, als wäre er nicht ein Zar des rechtgläubigen, heiligen Rußlands, sondern der Statthalter des Polenkönigs im Reußenland und das bereitwillige Werkzeug der Jesuiten, um die orthodoxe russische Nationalkirche zu vernichten und an ihre Stelle das zu setzen, was alle Russen den ketzerischen Greuel Roms nannten und als eine Todsünde verabscheuten.
Bei alledem und bei der gänzlichen Abwesenheit von Ehre und Treue unter den russischen Magnaten ist es ganz in der Ordnung gewesen, daß sich in den Kreisen dieser Aristokratie schon wenige Monate nach Dmitrys Krönung ein Komplott anspann, das die Entthronung und Ermordung des Eindringlings zum Zwecke hatte. An der Spitze dieser Verschwörung stand das Haupt des Hauses Schuisky, der Fürst Wassily, der selber nach der Zarenkrone gierte und strebte. Allein das Komplott wurde verraten und durch Dmitry mit Hilfe der noch immer scharenweise und wohlgerüstet in Moskau anwesenden Polen unschwer vereitelt und niedergeschlagen. Den Fürsten Wassily Schuisky ließ der Pseudozar zum Tode verurteilen, aber unkluger- und leichtsinnigerweise begnadigte er den Verurteilten auf dem Schafott und angesichts von Block und Beil; ja, er rief den Verschwörer nach kurzer Verbannung an den Hof zurück und setzte ihn wieder in alle seine Ehren und Würden ein – eine Großmut, die der Begnadigte, wie er nun einmal war, natürlich damit vergalt, daß er vorsichtiger als früher seine Minierarbeit weiterführte.
Die Leichtigkeit, womit diese Gefahr beschworen worden, mußte den glück- und machtberauschten Dmitry in seiner leichtsinnigen und leichtfertigen Art, die Sachen zu nehmen und zu führen, noch bestärken. Er stand daher nicht an, dem russischen Staatsschatz große Summen zu entnehmen und nach Polen zu schicken, damit die Schulden der Mniszek und Wiszniewiecki bezahlt würden. Auch die Herholung seiner Verlobten, der schönen Panna Marina Mniszek, welche mit unerhörtem Prunk umgeben wurde, verursachte schweren Aufwand. Am 1. Mai 1606 zog die Zarenbraut in Moskau ein, in polnischer Staatstracht, in einer mit rotem Atlas ausgeschlagenen, mit perlenbestickten Sammetkissen gepolsterten und von zwölf Tigerschecken gezogenen Karosse, begleitet von einem ganzen Schwarm polnischer Herren und Damen und gefolgt von mehreren Tausenden reichgerüsteter Hussaren.
Acht Tage später wurde die Hochzeit im Kremlin gefeiert, für die Russen kein Freudenfest, sondern nur ein neues und großes Ärgernis. Denn niemals noch hatte ein Reußenzar, statt unter den Töchtern des Landes zu wählen, mit einer Fremden sich vermählt, wie Dmitry tat – und vollends gar mit einer Fremdgläubigen, mit einer Ungläubigen, die, weil eine römische Ketzerin, eigentlich noch schlimmer war denn eine Heidin. Mit der Vermählung des Zaren sollte aber auch – so wollte es der polnische Stolz – die Krönung der Zarin verbunden werden, eine Ehre, welche bislang noch keiner Zarin widerfahren war und welche, noch dazu einer Fremden und Heidin angetan, Stockrussen schlankweg als eine ruchlose Gotteslästerung erschien.
Bei Gelegenheit dieser Haupt- und Staatsaktion gab es eine komische Episode und schüttelte der Narr, der in der sogenannten Weltgeschichte herumspringt, lustig seine Schellenkappe. Denn die Frage, wie Marina an ihrem Vermählungs- und Krönungstage angezogen sein sollte, wurde zu einer förmlichen Staatsfrage aufgebauscht, welche im Reichsrat zur Erörterung kam. Die schöne Polin wollte in ihrer gewohnten polnischen oder vielmehr französischen Modetracht zur Kirche gehen. Aber davor schlugen die Russen ein Kreuz und verlangten, daß Marina schlechterdings in russischer Nationaltracht vermählt und gekrönt werde, also mit unter dem »Kakoschnik« verborgenen Haupthaar, wie verheiratete Frauen ihn trugen, in einem weiten, oberhalb des Busens gegürteten Rock und in großen Stiefeln mit eisenbeschlagenen Absätzen. Die Braut entsetzte sich vor diesem ihr zugemuteten An- und Aufzug, aber sie mußte sich fügen; denn die Herren Bojaren verstanden in dieser Kleiderfrage keinen Spaß und wiesen alle von Dmitry und Marina zugunsten eines kleidsameren Anzugs vorgebrachten Argumente zurück.
Nachdem diese wichtige Frage also erledigt worden, ging die Doppelzeremonie am 8. Mai in der Kathedralkirche von Moskau pomphaft in Szene. Dieser Tag bezeichnet den Höhepunkt, so recht die Peripetie der verwegenen Komödie und zugleich den Wendepunkt zur tragischen Katastrophe.
Beschleunigt wurde diese durch den mehr und mehr sich steigernden Übermut der Polen, von denen der Zarenhof wimmelte. Ihre Frivolität hielt es gar nicht der Mühe wert, der Verachtung, welche sie für die Russen und alles Russische hegten, Zaum und Zügel anzulegen. Sie verhehlten auch nicht, nein, sie prahlten laut, daß der Zar Dmitry eigentlich ein Zar von ihrer Mache wäre, verpflichtet und willig, demnächst diese und jene russische Provinz an Polen abzutreten. Das mußte die Russen wütend machen und den im Dunkeln und Stillen emsig weitergesponnenen Ränken der Schuisky und ihrer Freunde sehr zugut kommen. Rechnet man dazu die Unklugheit des Pseudozaren, der ernstlich Anstalt machte, an und in den Pfaffensack zu greifen, das heißt den reichen Grundbesitz der russischen Kirche einzuziehen, um die Erträgnisse desselben auf die Bildung eines zahlreichen und tüchtigen Söldnerheeres verwenden zu können, und rechnet man weiter dazu noch das siegesgewisse Auftreten der mit den Polen gekommenen Jesuiten in der Hauptstadt Rußlands, so wird man es nicht verwunderlich finden, daß die Macht und Pracht des falschen Dmitry ein rasches Ende nahm, ein Ende mit Schrecken, und der Schwindel, wie billig, mit einem schrecklichen Krach zerbarst.
Schon neun Tage nach dem Vermählungs- und Krönungsfest trat diese Verkrachung ein, während die Reihenfolge rauschender Vergnügungen im Kremlin noch im vollen Zuge war. Da tanzte man wirklich »auf einem Vulkan«. Der verblendete Pseudozar und seine gleichverblendete Umgebung, sie wurden vollständig überrascht durch den Losbruch des Orkans, der am 17. Mai über sie hereinstürzte – in Gestalt eines allgemeinen und darum unwiderstehlichen, von dem Fürsten Wassily Schuisky und dem Bojaren Tatischtschew geleiteten Aufstands des gesamten moskauischen Moskowitertums.
Von einem erfolgreichen Widerstande konnte dem bis zur Raserei erhitzten Zorn eines ganzen Volkes gegenüber gar keine Rede sein. Aber es ist nur gerecht, zu sagen, daß der Schwindler wenigstens am Ende seiner Laufbahn einigermaßen zur Höhe eines Helden emporwuchs. Obwohl durch den plötzlichen Ansturm der Empörer vollständig überrascht, raffte er sich doch energisch zusammen und stemmte sich, den Säbel in der Faust, an der Spitze der wenigen treulich zu ihm Haltenden, dem wütend in den Kremlin einbrechenden und alles vor sich niederwerfenden Volksstrom entgegen. Ein eitel und vergeblich Wagen und Ringen! Der General Basmanow, seinen an Boris begangenen Verrat mittels seiner dem Dmitry bis zuletzt bewahrten Treue sühnend, fällt an der Seite des Zaren, und nun wirft sich dieser aus einem Fenster, bricht bei dem Sturz ein Bein, wird drunten von einem Volkshaufen aufgefangen, erkannt, verhöhnt, mißhandelt, von einem Edelmann angeschrien: »Hund von einem Bastard, sag' uns, wer du bist und von wem du stammst!« und endlich von dem Kaufmann Walujew mit den Worten: »Seht, wie ich diesem ketzerischen Hund von polnischem Gaukler die Absolution gebe!« durchs Herz geschossen.
Dann schleppte der Pöbel den Toten durch die Straßen, alle seine kannibalische Roheit an dem Leichnam auslassend, wobei sich die Weiber durch greuliche Schamlosigkeit hervortaten.
Die Zarin Marina wurde vor dem ersten Ausbruch des Volksgrimms nur dadurch bewahrt, daß sie sich unter dem ungeheuren Reifrock ihrer Oberhofmeisterin, einer resoluten alten Dame, versteckte. Dann wurde sie zwar mit allen ihren polnischen Damen gefangen und wurden die Armen von seiten der siegreichen Rebellen mit unbeschreiblichen Beschimpfungen in Worten und Werken überhäuft, doch kamen sie mit dem Leben davon. Marinas Vater, der Woiwode Mniszek, und alle in Moskau befindlichen Polen scharten sich zusammen und leisteten tapferen Widerstand. Viele von ihnen wurden erschlagen, die übrigen schließlich gefangen. Etwas später jedoch entließ man die Gefangenen, darunter auch Marina, in ihre Heimat.
Eine Nachricht will, unmittelbar nach der Ermordung Dmitrys hätten die Empörer an die Zarinwitwe Marfa die Frage getan, ob der Ermordete ihr Sohn sei. Worauf Marfa: »Das hättet ihr mich fragen sollen, als er noch lebte. Jetzt ist er es nicht mehr«.
Gerade hier also mag die Frage platzberechtigt sein: Wer war denn der falsche Demetrius eigentlich? Man weiß es nicht. Denn bis zur Stunde ist es der Geschichtswissenschaft noch nicht gelungen, Mittel und Wege ausfindig zu machen, um diese Frage mit Bestimmtheit oder auch nur mit einiger Sicherheit zu beantworten. Auch die fünfbändige, im Jahre 1837 durch Ustrialow in Petersburg veröffentlichte »Sammlung von zeitgenössischen Berichten über den falschen Dmitry« hat hieran im Grund wenig geändert und gebessert In dieser Denkschriftensammlung befinden sich auch zwei von Deutschen herrührende Berichte: »Die Chronik von Moskau« von Martin Bär und die »Denkwürdigkeiten« von Georg Peyerle. Martin Bär hat zur Zeit des falschen Demetrius als lutherischer Pastor in Moskau gelebt. Es stellte sich aber heraus, daß die Bärsche Chronik größtenteils nur die Abschrift der Aufzeichnungen eines anderen Deutschen ist, des Konrad Bussow, welcher ebenfalls zur Zeit der Dmitryepisode zu Moskau und Kaluga sich aufgehalten hat. Hanns Georg Peyerle war ein Augsburger Kaufmann, der zur gleichen Zeit von Geschäfts wegen in Rußland sich befand. Für eine Quelle zweiten Ranges kann gelten das bald nach den bezüglichen Ereignissen, 1620, in Leipzig erschienene Buch: »Historien und Berichte von dem Großfürstentum Muschkow«, publiziert durch Petrum Petrejum von Erlesunda.. In der amtlichen Welt Rußlands gilt die, wie wir sahen, zuerst durch Boris Godunow aufgestellte Behauptung, der falsche Dmitry wäre ein entlaufener russischer Mönch gewesen und hätte eigentlich Grischka Otrepiew geheißen, noch jetzt. Darum ist es in der orthodoxen russischen Kirche noch heute Brauch, alljährlich an einem bestimmten Tage über diesen Grischka Otrepiew als über den falschen Dmitry eine feierliche Verfluchung zu sprechen. Das beweist aber gar nichts, beweist gerade so wenig wie der Umstand, daß der russische Dichter Puschkin in seinem Trauerspiel »Boris Godunow« die herkömmliche Legende an- und aufnahm. Ein stichhaltiger Beweis für die Personengleichheit des Grischka und des Dmitry ist nie beigebracht worden. Im Gegenteil, gerade die älteste und unverdächtigste Quelle, die handschriftlichen Denkwürdigkeiten des Konrad Bussow, meldet ausdrücklich und bestimmt, daß der verlaufene Mönch Grischka Otrepiew nur einer der Handlanger des falschen Dmitry gewesen sei, und bezeichnet diesen Handlanger nicht gerade schmeichelhaft, aber doch auszeichnend als »des Teufels Instrument«. Auch der Franzose Jacques Margeret, der im Jahre 1601 nach Rußland gekommen und zuerst in den Diensten von Boris, dann in denen Dmitrys gewesen ist, 1606 nach Frankreich zurückkehrte und 1607 in Paris sein Buch » Estat de l'empire de Russie« drucken ließ, berichtet als Augenzeuge, daß Grischka Otrepiew ein Helfershelfer des Pseudozaren gewesen und von diesem, dem der wüste Trunkenbold und Ärgernisgeber lästig geworden, aus Moskau nach Jaroslaw verbannt worden sei.
Der russische Geschichtschreiber Karamsin hatte in seinem großen Werk der Legende von der Identität des Grischka und des Dmitry Raum gegeben. Dann aber sind ihm Zweifel aufgestoßen, und er schickte sich an, die Sache einer neuen und genaueren Untersuchung zu unterziehen. Der Zar Alexander I. untersagte das jedoch ausdrücklich dem Historiker. Alexander stand nämlich damals in der Blüte seiner Vorliebe für Polen und wollte daher nicht, daß die Polen mittels Wiederaufrührung der alten Stänkerei unangenehm berührt würden.
Wenn es nun wahrscheinlich für immer verborgen bleiben wird, wer der Betrüger und Schwindler eigentlich gewesen, so steht dagegen sein Betrüger- und Schwindlertum fest. Aber war er ein Betrüger aus eigenem Antrieb? Oder ein künstlich zubereiteter, sorgfältig dressierter? Auch das ist ein zur Stunde noch ungelöstes Problem. Wenn ich alles zusammenhalte, was die echten Quellen und ältesten Zeugnisse ergeben, bin ich geneigt, zu glauben, der Abenteurer, welcher die Rolle des falschen Demetrius spielte, müßte ein geborener Pole gewesen sein. Die polnische Sprache war ihm notorisch geläufiger als die russische; auch zog er polnisches Wesen, die polnische Art, das Leben zu fassen und zu führen, der russischen entschieden vor. Viele von den polnischen Edelleuten, welche sein Unternehmen unterstützten, sprachen es ganz offen aus, daß sie ihn für einen Bankert des verstorbenen Königs von Polen, Stephan Bathory, hielten. Ein von mir gemachter Versuch, diese Spur weiter zu verfolgen, ist jedoch ohne Ergebnis geblieben.
Aber war die Rolle, die der Schwindler spielte, eine spontane, eine von ihm selbst ausgeheckte, oder war es eine ihm von anderer Hand überbundene, eine angelernte? Wenn ich recht erwäge, lassen sich die beiden Seiten der Frage etwa so miteinander vermitteln, daß wir annehmen, der junge Mann sei von sich aus auf die abenteuerliche Idee verfallen, als der ermordete Zarewitsch Dmitry sich aufzuspielen, sofort aber auch von den Jesuiten, welche dazumal am Hofe Sigismunds allmächtig waren, als ein vortreffliches Werkzeug für ihre Pläne erkannt und als solches gehandhabt worden, das heißt als ein Werkzeug zur Inswerksetzung des großen jesuitischen Plans, das russische Zarentum und folglich Rußland vom griechisch-anatolischen Glaubensbekenntnis zum römisch-katholischen herüberzubringen. Freilich muß ich beifügen: Schon das erste Auftreten des falschen Dmitry in Litauen war von so verdächtigen Umständen begleitet gewesen, daß man in der vorhin geäußerten Ansicht doch wieder wankend und zu dem Glauben getrieben wird, der Betrüger habe von Anfang an nicht aus eigenem, sondern aus fremdem Antriebe geredet und gehandelt. Eine vollständige Klarstellung des geschichtlichen Problems vom falschen Demetrius zu Anfang des 17. Jahrhunderts ist wohl erst dann eine Möglichkeit, wenn einmal das Geheimarchiv der Gesellschaft Jesu der historischen Forschung zugänglich sein wird. Dort ist die endgültige Lösung der Frage zu suchen Diese Ansicht scheint freilich durch das Buch des Jesuitenpaters Pierling » Rome et Demetrius« (Paris 1878), das mir leider erst nach der Niederschreibung und Drucklegung meines Essays zur Hand kam, hinfällig geworden zu sein. Wenigstens lassen die Dokumente und Depeschen, welche Pater Pierling aus den Archiven seines Ordens und den Aktenschätzen der Vatikana mitteilt, das Problem, wer der falsche Dmitry eigentlich gewesen, ebenfalls ungelöst. Aber hat der Pater, dessen Absicht ganz augenscheinlich und eingestandenermaßen war, die Gesellschaft Jesu von dem Vorwurf zu reinigen, den falschen Dmitry erfunden, die Demetriuswirrsale gemacht zu haben, hat er alle ihm zugänglichen Akten benutzt, benutzen wollen? Das ist eine Frage, welche weder bejaht noch verneint werden kann, solange nur Jesuiten die Durchsuchung und Benutzung der Jesuitenarchive gestattet wird. Die Tatsache, daß die Gesellschaft Jesu den falschen Dmitry als ein Werkzeug zur Katholisierung Rußlands handhaben wollte, bleibt übrigens durch die Veröffentlichung Pierlings ganz unberührt..
Mit dem Trauerspiel vom 17. Mai 1606 war übrigens nur die Laufbahn des ersten falschen Dmitry zu Ende, nicht das Stück selber. Man weiß ja, daß, so in der unendlichen Tragikomödie »Weltgeschichte« der Unsinn oder das Unheil einmal recht im Zuge sind, sie nicht bald wieder aufhören. Ein baldiges Aufhören ginge ja der bekannten »sittlichen Weltordnung« zu sehr wider den Strich. Nachdem die russischen Magnaten und Prälaten den Fürsten Wassily Schuisky zum Zaren gewählt hatten, trat ein zweiter falscher Dmitry auf, und zwar zu Putiwl an der litauischen Grenze. Dieser zweite Schwindler, der sich für den am 17. Mai in Moskau ermordeten und zerfetzten, angeblich aber wunderbarerweise geretteten Dmitry ausgab, stand in jeder Beziehung weit unter seinem Vorbild und Vorgänger. Aber trotzdem fand »der Dieb von Tuschino«, unter welchem Namen er in der Geschichte Rußlands verrufen ist, Glauben, Anhang und Unterstützung. König Sigismund und die polnischen Magnaten benutzten ihn als Werkzeug der polnischen Politik. Aber die stärkste Leistung von Schamlosigkeit in dieser schamlosen Posse von Kabale war doch, daß Marina Mniszek in dem Dieb von Tuschino ihren »wiedererstandenen« Gemahl erkannte und anerkannte, mit ihm lebte und einen Sohn von ihm hatte. Nun folgte ein grauenhaftes Wirrsal, ein Bürgerkrieg in Rußland, ein polnischer Einbruch, in dessen Verlauf König Sigismund nahe daran war, erst seinen Sohn, dann sich selber zum russischen Zaren zu machen. Endlich wurde auch der zweite falsche Demetrius getötet, sein Sohn erwürgt und verscholl Marina in einem russischen Klosterkerker. Rußland aber erhob sich aus allen diesen Trubeln und Trübsalen erst 1613 wieder zu einer festeren Staatsordnung, und zwar mittels der Gründung der Dynastie Romanow, die in der Person des Michail Fedrowitsch Romanow am 21. Februar des genannten Jahres auf den Zarenthron gelangte.