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Einführung

Was Goethe von Shakespeares Dramen gesagt hat, kann man auch auf Scherrs »Menschliche Tragikomödie« anwenden: »Man glaubt vor den aufgeschlagenen ungeheuren Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des bewegtesten Lebens saust und sie mit Gewalt rasch hin und wider blättert.«

Der bedeutende Geschichtsforscher schildert seltsame Menschen und seltsame Begebenheiten, aber nicht in der Weise eines Pitaval, der mit der Freude des Kriminalisten berühmte Rechtsfälle zerfasert, auch nicht in der Art des einst vielgelesenen Bülau, der das Rätselhafte um seiner selbst willen bevorzugte, sondern in der ausgesprochenen Absicht, der Wahrheit zu dienen, der Nation einen Spiegel vorzuhalten und sie vor falschen Propheten zu warnen.

Das Werk, das eine Fülle von geschichtlichem Stoffe birgt, könnte dem oberflächlichen Betrachter als ein Sammelsurium erscheinen. Wer sich aber näher mit ihm beschäftigt, wird bald eine innere Einheit gewahren. Diese Essais – das Fremdwort, das etwas mehr besagt als das deutsche Wort »Versuche«, ist hier durchaus am Platze – sind ohne Ausnahme Kundgebungen eines Gelehrten, der, um Scherrs eigene Kennzeichnung Fichtes zu wiederholen, »nicht nur ein solcher, sondern auch ein Mann gewesen ist, ein Charakter von echtem Metall« (II, S. 197).

Ja, er war ein echter Mann, der kernige Schwabe Johannes Scherr, der 1849 um seiner Überzeugung willen Deutschland verlassen mußte und später in Zürich als beliebter Hochschullehrer wirkte. Zweiundzwanzig Jahre jünger als Ranke, starb er in demselben Jahre (1886) wie dieser.

Ranke und Scherr: beide sind in ihrer Art gediegene Wissenschaftler. Aber Scherr steht uns näher als Ranke, nicht bloß um seines ehernen Charakters willen, sondern auch weil ihm die Geschichte nicht wesentlich Fürstengeschichte ist, sondern weil er in ihr »die Protokollführerin des wirklichen Prozesses der sozialen Entwicklung« sieht. Nietzsche nennt Ranke »den geborenen advocatus jeder causa fortior«, d. h. jedes Erfolgs, und wirft ihm Beschönigung und Leisetreterei vor. Gegen Scherr diese Vorwürfe zu erheben, wird selbst ein Übelwollender nicht wagen. Scherr ist offenherzig bis zur Rücksichtslosigkeit. Er ist einer der Märtyrer, die den Despotismus der Fürsten und den religiösen Fanatismus siegreich bekämpft haben. Er schmeichelt weder den Königen noch der Menge. Hat er in einem Monarchen einen Narren oder einen Verbrecher erkannt, so macht er aus diesem Ergebnis seiner Forschungen kein Hehl. Ebenso schonungslos stellt er aber auch kommunistische Volksverführer an den Pranger, wie er denn einer der ersten gewesen ist, die die Irrlehren des Kommunismus aufgedeckt und mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen haben.

Er haßte den Pöbel, aber er liebte das Volk. Und seine furchtbaren Anklagen gegen pflichtvergessene Fürsten, leichtfertige Demagogen und die entsetzlichen Werkzeuge des religiösen Fanatismus werden gerechtfertigt und geadelt durch seine Liebe zum deutschen Volke. Sie sind also keineswegs Selbstzweck oder Ausgeburten einer unfruchtbaren Verbitterung, sondern Zeugnisse eines Mannes, dem das Wohl der ganzen Nation am Herzen lag, und der dem deutschen Volke Fürsten oder Führer wünschte, die sich betätigen als »eifrige Wächter von Recht und Gerechtigkeit, redliche Fürsorger, wirkliche Kulturförderer und weise und gewissenhafte Staatswirte«.

Wer da erfahren will, welcher Liebe und Verehrung dieser harte, ja unerbittliche Kritiker fähig war, der lese etwa die Abschnitte über Thusnelda, Jeanne d'Arc, Cromwell, Fichte und Blücher. Und wer die Seele dieses glühenden Forschers ergründen will, der versenke sich in die Studie »Voltaires Krönung« (I, S. 442 ff.). Hier kennzeichnet sich Scherr selber, und indem er das anfechtbare Urteil Hermann Hettners und das törichte Gustav Freytags über den Patriarchen von Ferney berichtigt, gibt er einen glänzenden Beitrag zur Befreiungsgeschichte der Menschheit.

*

Das deutsche Volk hat sich nach Jahren einer fürchterlichen Verirrung auf sich selbst besonnen; es hat, geleitet von einem Manne, dem niemand den lautersten Willen und eine ungeheure Tatkraft absprechen wird, den Weg beschritten, der zu einer wahren Volksgemeinschaft führt. Aber das heutige Geschlecht wird, wenn es die oft so beschämende Vergangenheit nicht kennt, die Gegenwart nicht voll zu schätzen wissen. Diese Vergangenheit zeigt uns Scherr in einer langen Reihe farbenglühender Bilder. Schon deshalb sollte man sich sein Werk zu eigen machen.

Leipzig, im April 1937.
Karl Quenzel


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