Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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24. »Doch die Wasser, ja die Wasser decken vieles zu«.

Die Liebenden hatten nach einem langen Spaziergang im Park von der Höhe des alten Wartturmes herab dem Sonnenuntergang zugesehen.

Sie hatten Abschied genommen von der Heimat.

Robert hielt unwandelbar an dem Gedanken fest, in einer andern Zone ein ganz neues Leben zu beginnen. Das reiche Erbe, welches ihm zugefallen, erregte in ihm nur das Gefühl des Abscheus. Geschändet, wie es in seinen Augen war, wollte er sich auch nicht eine Fingerspitze damit besudeln. Da er wußte, wie sehr Thekla diese Berge und Täler liebte, hatte er die Besorgnis gehegt, sie würde so, wie die Sachen jetzt standen, vielleicht lieber bleiben wollen als auswandern. Allein diese Befürchtung war unbegründet. Im Gegenteile, Thekla trieb jetzt mehr zur Abreise, als daß sie dieselbe hätte verzögern wollen. Ihr kam oft vor, als ob ihr der Boden unter den Füßen brenne. Im übrigen gab sie sich gefaßt, klar und sicher wie immer, und widmete dem Geliebten eine ruhige Zärtlichkeit.

Von dem Grafen war seit der schrecklichen Nacht nie auch nur mit einer Silbe zwischen ihnen die Rede gewesen. Er war für sie wie verschollen.

Heute war ein Brief vom alten Andres eingelaufen.

Morgen wollten sie unwiderruflich fort.

»Wann morgen die Sonne untergeht, Geliebte,« hatte Robert beim Herabsteigen von dem Turm gesagt, »dann sind wir frei und los von allen verhaßten Banden und dürfen volle, ganze Menschen sein. Mir ist oft,« fuhr er fort, »als ob du mir mein ganzes Herz in der Brust gewendet, du liebe Bekehrerin, als ob ich jetzt erst zu leben, zu fühlen und zu denken ansinge.«

Als sie in der Dämmerung das Schloß erreichten, wurden sie am Tore von Twerenbold erwartet, der sich von Robert eine kurze Unterredung erbat.

Es wollte Thekla bedünken, sie hätte den Abenteurer noch nie so ernst gesehen wie jetzt.

Sie ging hinauf in ihr Turmgemach, um Robert zu erwarten.

Er kam lange nicht.

Die Minuten des Wartens dehnten sich zu einer Stunde, zu einer zweiten sogar.

Thekla fühlte sich von einer unerklärlichen Bangigkeit befallen. Sie stieß die Balkontüre auf. Es half nichts. Sie trat auf den Steg hinaus, um die vom See kommende Frische einzuatmen.

Da sah sie im dämmernden Mondlicht ein Boot vom Schloßgarten abstoßen und in das Wasser hinausfahren und erkannte in dem Ruderer den Abenteurer.

»Endlich,« sagte sie aufatmend, »ist diese unendliche Unterredung zu Ende!«

Sie ging ins Zimmer zurück, aber Robert wollte noch immer nicht erscheinen.

Gertrud und Berdoa kamen, um zu fragen, ob die Gebieterin keine Befehle mehr zu erteilen hätte, und zogen sich auf die verneinende Antwort zurück.

Nun ward es still im Schlosse, ganz still.

Thekla hatte sich in ihren Lehnsessel am Büchertisch geworfen und öffnete mechanisch eins der dort aufgehäuften Bücher nach dem andern, aber die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen.

Sie fühlte eine brennende Unrast und Sehnsucht nach Robert.

Endlich erscholl sein Tritt im Vorzimmer, und sie stand auf, ihn zu empfangen.

Er trat ein und kam langsam aus sie zu.

Sein Gesicht war sehr blaß, so blaß wie damals, als er nach der Begegnung mit Twerenbold im Hohlweg am Schwadriforst beim Eingang in den Park mit Thekla zusammentraf.

»Um des Himmels willen, Robert,« rief sie aus, »was ist dir? Oh, ich ahnte es, daß das Kommen dieses Menschen Übles bedeute. Stets kommt das Unheil mit ihm.«

»Thekla, danke ihm, danke ihm feurig! Er hat uns zum zweitenmal gerettet.«

»Wie?«

»Wie früher droben im Glurital von der Runs, so jetzt vom – Schafott.«

»Oh!«

»Wir sind des Mordes angeklagt, Thekla. Die Anzeichen sind gegen uns. Zur Flucht ist es zu spät. Morgen in der Frühe werden die Gerichtsboten hier sein.«

Sie schrie nicht, fragte nicht, zitterte nicht, sie schien zur Bildsäule erstarrt. Nur das Auge lebte an ihr und suchte in Todesangst das Auge Roberts.

Er kam ganz nahe an sie heran, und sein Blick tat eine schreckliche Frage.

Ihr Auge gab eine furchtbare Antwort, ein Ja, das ihn einen Schritt zurückbeben machte.

»Oh, Robert!«

Der Ton traf.

Es traf auch der Blick, der jetzt so flehend, so glühend, so magisch allmächtig aus ihren wundervollen Augen brach, unwiderstehlich, berauschend, zum Wahnsinn treibend.

»Sei, wer du seiest,« rief er aus, die Arme ihr entgegenbreitend und sie an seine Brust reißend, »ich liebe dich und bete dich an! Und wärest du die Inkarnation der Sünde, wärest du Lokusta und Agrippina – wir leben und sterben zusammen!«

Noch lag die Morgendämmerung stumm und feierlich auf See und Gebirg, da öffnete sich die Balkontüre des Turmzimmers, und Hand in Hand traten die Liebenden auf den Steg heraus.

Sie schritten in den Pavillon hinein, und dort hielten sie sich noch lange umfaßt.

Dann sprang Robert auf die Brustwehr und reichte der Geliebten die Hand herab.

Sie schwang sich hinauf an seine Seite.

Noch ein Blick auf das schöne Land ringsum, dann umschlangen sie sich krampfhaft fest, preßten Mund auf Mund und ließen sich langsam hinabgleiten in die stille Tiefe.

Ein Schlag auf dem Wasser, ein Wallen und Wogen der zerteilten Flut – dann verzitterten mählich die Kreise des für einige Augenblicke zerbrochenen Seespiegels, und auf die wieder geglättete Fläche fiel der erste Strahl der aufgehenden Sonne, als wäre nichts geschehen.

Wenige Stunden darauf war das Schloß der Schauplatz des Schreckens und der Verwirrung.

Das Gerichtspersonal war angekommen.

Auf dem Büchertisch im Turmgemach fand man ein offenes Blatt, worin die Liebenden erklärten, daß sie dem Unvermeidlichen freiwillig sich unterzogen hätten. Sonst kein Wort.

Die Gerichtsboten fuhren nach der Einsiedelei hinüber.

Als sie eintraten, sahen sie die Lore und Twerenbold mit auf den Tisch gesunkenen Köpfen sich gegenübersitzen, als schliefen sie.

Sie waren aber tot.

Zwischen ihnen stand eine leere Weinflasche mit zwei Gläsern, auf dem Boden lag eine kleine leere Phiole.

Der Strohkranz zwischen den Fenstern an der Wand war verschwunden, aber auf einer Ecke des Tisches lag ein Häufchen Asche.

Die Lore hatte dem Gott der Rache ihr Brandopfer gebracht.

Im Laufe des Vormittags fand ein Mühlknappe am Rande des Donnerfallkessels den Leichnam seines Herrn. Er war so zermalmt und zerstampft, daß er nur noch an den Fetzen seiner Kleider erkannt werden konnte.

Am Tage darauf fand man die Leichen der Liebenden im See. Sie hielten sich noch im Tode umfaßt. Man mußte sie mit Gewalt voneinander losmachen und war grausam genug, es zu tun.

Wenige Tage nach all diesen Schrecknissen kehrte der alte Pfarrer in das Dorf zurück. Er hatte schon auf der Reise das Furchtbare erfahren.

Sein Entsetzen, sein Kummer braucht nicht weiter ausgemalt zu werden.

Er glaubte es nicht überstehen zu können.

Nur mit Mühe brachte er es über sich, das verödete Schloß zu besuchen. Jeder Schritt, den er in diesen Räumen tat, drückte den Stachel des Schmerzes tiefer in seine Brust. Er hatte Robert und Thekla wie seine Kinder geliebt, und nun dieses an ihnen erleben zu müssen, so sie zu verlieren! Es brach ihm das Herz.

Er trat zuletzt hinaus in den Pavillon auf dem Wippostein und sah lange und unbeweglich auf die Tiefe nieder, welche soviel Kraft und Schönheit, Stolz und Glut, Qual und Entzücken, Leidenschaft und Frevel verschlungen hatte.

»Oh, Menschen, Menschen,« flüsterte er, »weckt die Dämonen nicht, welche in eurer Brust schlummern! Sie harren nur des Rufes, um furchtbar zu erwachen. Sie reißen euch fort in die Finsternisse, und dröhnenden Schrittes folgt ihnen die Nemesis, die unerbittliche Vergelterin, sie, die Wählerin und Rächerin des ewigen Sittengesetzes. – Zweimal ist dieser Fels der Schauplatz von Entsetzlichem gewesen, und der alte Fluch ist nun schrecklich erfüllt.«

Schwere Tränen rollten aus den Augen des Greises in die Tiefe hinab und mit ihnen die Schlußworte der alten Volksballade, die ihm unwillkürlich in den Mund kamen:

»Einen Fluch auf das stolze Grafenhaus:
In Schrecken und Schmach sollt' es löschen aus –
Doch die Wasser, ja die Wasser decken vieles zu.«


Wenn man, soweit es annäherungsweise möglich ist, die Summe von Wut, Schmerz, Leiden und Übeln jeder Art sich vorstellt, welche die Sonne in ihrem Laufe bescheint, so wird man einräumen, daß es viel besser wäre, wenn sie auf der Erde so wenig wie auf dem Monde hätte das Phänomen des Lebens hervorrufen können, sondern, wie auf diesem, so auch auf jener die Oberfläche sich noch im kristallinischen Zustande befände. Man kann auch unser Leben auffassen als eine unnützerweise störende Episode in der seligen Ruhe des Nichts. Jedenfalls wird selbst der, dem es darin erträglich ergangen, je länger er lebt, desto deutlicher inne, daß es im ganzen a disappointment, nay, a cheat ist, oder, deutsch zu reden, den Charakter einer großen Mystifikation, um nicht zu sagen einer Prellerei, trägt.

Arthur Schopenhauer.


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