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In der Tat hatten sie nur noch einige hundert Schritte zu gehen, bis sie, um den von Twerenbold bezeichneten Felsen biegend, plötzlich die Einsiedelei vor sich sahen.
Robert betrat nur mit Widerwillen die Schwelle der Traumlore, aber die Umstände ließen kaum eine Weigerung zu. Durch Nebel und Regen hindurch hörte man drunten den aufgeregten See seine Wogen mit Wut an das Felsengestade schleudern, so daß es ein fast wahnsinniges Unternehmen gewesen wäre, jetzt die Überfahrt zu wagen, und noch dazu in dem gebrechlichen Weidling der Lore. Ein Blick Roberts auf seine Begleiterin machte ihm einleuchtend, daß er sie schlechterdings den Unbilden der Witterung nicht länger aussetzen dürfte, und zudem legte Thekla gar keine Abneigung an den Tag, die Bekanntschaft der Einsiedlerin zu machen.
Twerenbold hatte inzwischen schon die Türe der Hütte geöffnet und lud die beiden ein, ihm zu folgen.
In dem sauber und blank gehaltenen Stübchen trat ihnen die Lore, von ihrem Sitz an der Ofenbank sich erhebend, mit ruhigem Anstand entgegen.
»Da bring' ich Euch Gäste, liebe Lore,« sagte der Abenteurer. »Sie werden hoffentlich willkommen sein.«
»Sie sind willkommen,« erwiderte die Frau mit ihrer gewohnten Gemessenheit in Wort und Haltung.
Robert bemühte sich, seiner ehemaligen Wärterin, die er seit langen Jahren nicht mehr gesehen, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Was er vor wenigen Tagen von der Geschichte dieser Frau erfahren hatte, ließ ihm dieselbe in einem ganz neuen Licht erscheinen, und wenn er seiner von Kindheit an eingewurzelten Abneigung gegen sie auch nicht vollständig gebieten konnte, so flößte ihm dieses Weib mit den gramverstörten Zügen und dem gebleichten Haar, dieses Weib, dessen Schicksal mit dem der Familie Wippoltstein so traurig verflochten war, doch eine gewisse Teilnahme ein.
Der Ausdruck dieser Teilnahme in den Zügen des jungen Mannes entging dem scharfen Blicke der Traumlore nicht, und sie wußte Robert gegenüber auf der Stelle den rechten Ton zu finden, indem sie in ihr Benehmen eine Mischung von Respekt und ruhiger Herzlichkeit legte, welche allen Zwang beseitigte.
Der Gräfin gegenüber ließ sie mit richtigem Takt, ohne irgendwie zudringlich oder gar servil zu erscheinen, eine gewisse mütterliche Besorgtheit walten, von welcher sich jene wohltuend angesprochen fühlte.
»Hurtig, liebe Lore,« sagte Twerenbold in seiner lärmenden Manier. »Schafft der gnädigen Frau einen trockenen Anzug und uns Männern etwas Spirituoses in den Leib. Mag ich erschossen werden, wenn ich in diesem Augenblicke nicht ein Königreich für 'ne Kanne Punsch oder Glühwein gäbe. Ja, Lore, der Gluribach – die Pest auf ihn! – hat uns schlimm mitgespielt. Haben, kalkulier' ich, eine omnipotente Wasserkur durchgemacht, von welcher Art von Kuren jetzt die Narren alles Heil für die leidende Menschheit erwarten. Will für lange Zeit nichts mehr mit dem Wasser zu tun haben. Ist ein miserables, aufdringliches, ekliges Zeug – ist es nicht? Habe die Notion, ist es. Aber wo find' ich Tee, Wein, Zucker? Heda, Lore, sagt mir –«
»Ich sag' Euch, Achaz, daß Ihr ruhig sein sollt. Je mehr Ihr so drein wütet, desto länger wird es anstehen, bis Ihr habt, was Ihr wollt. Alles in der Ordnung. Geht und macht einstweilen draußen auf dem Herde Feuer an und hängt den Wasserkessel über. Bis er zum Sieden kommt, will ich dafür sorgen, daß sich die gnädige Frau umkleiden kann.«
Nach Verfluß einer halben Stunde hatten es sich alle so behaglich gemacht, als es die Umstände erlauben wollten. Robert kämpfte ein unangenehmes Gefühl nieder, als er Thekla in dem matronenhaft-ländlichen Sonntagsstaat der Traumlore aus der Seitenkammer treten sah. Die Gräfin, welche ihre gute Laune vollständig wiedergewonnen hatte, wußte sich jedoch mit so viel Geschick und Munterkeit in die Maskerade zu finden, daß sie den jungen Mann bald zum Lächeln brachte.
Twerenbold, der zunächst für nichts anderes Sinn hatte, als sich einen möglichst starken Glühwein zu brauen, setzte das dampfende Getränk auf den Tisch, und zugleich brachte die Traumlore den Tee herein.
»Wie doch das Leben die Leute zusammenwürfelt!« dachte Robert, als er sich mit dem Abenteurer und der Traumlore am Tische sitzen sah.
Er fühlte in seinem Innersten eine instinktmäßige Abneigung gegen die beiden, und doch mußte er sich sagen, daß jene eher Grund hätten, ihm feindselig gesinnt zu sein. Er dachte an ihre Geschichte, wie Twerenbold sie ihm erzählt hatte, und da er an der Wahrheit dieser Erzählung nicht zweifeln konnte, so konnte er sich eines Zuges von Sympathie nicht erwehren. Vielleicht, sagte er sich, hätten diese zwei Menschen mitsammen ein harmloses und glückliches Leben geführt, wenn nicht ein dritter unheilvoll dazwischen getreten. Dieser dritte – hätte sich Robert nur, wie er wünschte, der Erinnerung an denselben entschlagen können. Er sah zu der Geliebten hinüber, aber auch ihr Anblick brachte ihm in diesem Augenblick gerade nur den in Erinnerung, an welchen er nicht denken mochte. Regte sich in ihm vielleicht »der Wurm, der nicht stirbt«? Er wandte die Blicke den Fenstern zu, aber da fielen sie auf den Strohkranz mit der düsteren Inschrift Memento! – Wieviel Entsetzliches, Geahntes und Gewußtes, klebte an diesen Strohhalmen! Er sah die Lore büßend an der Kirchtüre stehen, büßend die Schuld seines Vaters, vielleicht aber eine noch schlimmere eigene. Wie war sein Brüderlein gestorben, über dessen Tod Twerenbolds Erzählung mit einer grauenhaften Andeutung hinweggeschlüpft? Auch in die Ahnengruft hinüber trug ihn die Phantasie; er stand wieder vor dem Sarg seines unglücklichen jungen Vetters und überzeugte sich von einer namenlosen Tat. Ihn schauderte, und es überkam ihn ein Gefühl, als sei auch er unrettbar den finsteren Mächten verfallen, welche in seine Familie Eingang gefunden hatten.
Thekla ihrerseits hatte sich von den Schrecken und Strapazen, welche dieser Tag gebracht, bald wieder erhobt. Die Art und Weise der Traumlore gefiel ihr, und sie ließ sich mit derselben in ein lebhaftes Gespräch ein. Freilich stieß ihr zwischenhinein ein seltsames Bedenken auf, denn sie bemerkte, daß die Augen der Einsiedlerin, während Robert den Strohkranz ansah, auf dem Geliebten mit einem Ausdruck hafteten, der einem liebenden Weibe Furcht einflößen konnte.
Es war einer jener züngelnden Schlangenblicke des Hasses, wie wir schon früher einen aus den Augen der Lore brechen sahen.
Das ging aber schnell vorüber, und die Lore fiel später nicht durch die leiseste Gebärde mehr aus ihrer Rolle einer ruhig dienstbeflissenen Wirtin.
»Wird es Ihnen denn nie zu einsam in diesem Felsenkessel hier, liebe Lore?« fragte die Gräfin, in Verlegenheit, wie sie das abgebrochene Gespräch wieder anknüpfen sollte.
»Zu einsam, gnädige Frau? Was hätte ich denn noch unter den Menschen zu suchen? Wenn Sie einmal in mein Alter kommen, werden Sie vielleicht auch erfahren haben, daß man um so ruhiger und folglich auch um so glücklicher ist, je weniger man sich mit den Leuten zu schaffen macht. Im übrigen liegt ja die Einsiedelei von Sankt-Georg nicht am Ende der Welt, und lebe ich keineswegs so ganz einsam, wie Sie sich vorstellen mögen. Sonntags kommen die jungen Leute aus dem Dorf und aus den Bergen, erzählen mir ihre kleinen Leiden und verlangen meinen Rat. So bin ich immer ziemlich genau von allen Vorkommenheiten in der Gegend unterrichtet. Auch der alte Herr, der Pfarrer, spricht manchmal bei mir ein, wenn er glaubt, mein Gedächtnis könnte ihm in betreff der alten Geschichten, über welchen er jahraus, jahrein grübelt, irgend einen Fingerzeig geben. Auch heute vormittag war er da, und er äußerte einige Besorgnis über Ihr und des gnädigen Herrn Rittmeisters langes Wegbleiben vom Schlosse.«
»Aber wir ließen ihm ja vor unserem Weggang sagen, daß wir eine längere Bergfahrt unternehmen wollten, und wollen ihm jedenfalls noch heute die Grundlosigkeit seiner Besorgnisse dartun. Der gute alte Herr ist Ihnen sehr geneigt, liebe Lore. Wenn einmal sein großes Buch über den alten Götterdienst in dieser Gegend herauskommt, werden Sie sich unter den Hauptquellen für seine Arbeit aufgeführt finden. Doch das erinnert mich daran, die Gelegenheit zu benutzen, um von Ihrer Kenntnis alter Sagen zu profitieren. Seit ich in Wippoltstein lebe, hat mich die Geschichte von jenem Wippo, den man den blutigen Grafen nennt, lebhaft angemutet, ohne daß es mir gelungen wäre, sie genau kennen zu lernen.«
»Hat sie Ihnen der Pfarrer nicht erzählt?«
»Nein, er sagte, er wollte mir den Geschmack an meinem lieben Pavillon auf der Wippoklippe nicht verleiden. Die soll ja der Schauplatz der gräßlichen Katastrophe dieser Geschichte gewesen sein.«
»Freilich. Und soll ich Ihnen etwa jenen hübschen Ort verleiden, indem ich Ihnen die Sage erzähle? Sie ist sehr düster.«
»Um so besser. Das paßt zu dem Sturm, der da draußen heult. Übrigens werden Sie mir meinen Pavillon nicht verleiden. Wenn man an keinem Orte mehr Gefallen finden könnte, der schon der Schauplatz von Düsterem oder Schrecklichem gewesen, so würde es mit dem Gefallenfinden überhaupt bald zu Ende sein, denn wo Menschen leben, existiert kaum eine Stelle, die nicht schon irgend einmal mit Tränen oder Blut benetzt worden wäre.«
»Das ist sehr wahr. Aber warum so traurige Bilder heraufrufen, wenn man so jung und glücklich ist, wie Sie es sind?«
»Warum? Wissen Sie denn nicht, liebe Lore, daß man, solange man jung ist, an allem Romantischen Gefallen findet? Ich habe das Bild dieses blutigen Grafen Wippo in meinem Zimmer hängen und möchte, wenn ich es künftig ansehe, mehr von dem Original wissen, als ich bisher in Erfahrung bringen konnte.«
»Gut, so hören Sie denn.«
Und nach einem kurzen Nachdenken begann die Traumlore zu erzählen. Sie sprach zuerst eintönig und trocken, nach und nach aber schien sich ihr eigenes Interesse an der Geschichte zu steigern, und ihre Rhapsodie, wenn man es so nennen kann, erhob sich zu einer gewissen Energie, welche ihr auch die Aufmerksamkeit Roberts zuwandte, der während des Gesprächs der beiden Frauen mit halbem Ohr einer Auseinandersetzung Twerenbolds über die Tugenden des Glühweins zugehört hatte.
Die Lore erzählte:
»Zur Zeit, als der Dreißigjährige Krieg droben im Reich zu wüten angefangen hatte, stand die alte Burg der Wippoltsteine, die jetzt in Ruinen liegt, noch in voller Festigkeit und Pracht. Der Burgherr war Graf Hanno, und der hatte zwei Söhne, von denen der ältere Ottokar, der jüngere Wippo hieß. Ottokar war von sanfter, fast mädchenhafter Gemütsart und oft klagte der alte kriegerische Graf leise und laut, daß sein Erstgeborener aus der Art geschlagen, weil er so gar mild war und sich lieber mit Büchern als mit ritterlichen Dingen zu schaffen machte. Wenn er sich mit Bedauern darüber ausließ, pflegte er auch wohl beizufügen, es sei schade, daß der rüstige, wilde Wippo ein Jahr nach seinem Bruder zur Welt gekommen, denn der erstere schiene ihm passender zum Stammhalter eines Hauses von so altem kriegerischem Ruf. Ottokar, dem solche Klagen zu Ohren kamen, erbot sich gegen den Vater, die Tonsur zu nehmen, um sich der Gelahrtheit zu widmen, welche ihm mehr anstände als Harnisch, Schwert und Roß. Dann konnte Wippo das Erbe übernehmen, und so wäre allen dreien geholfen. Davon aber wollte der Graf nichts wissen, denn, sagte er, das Herkommen ist ein heilig Ding. Davon darf kein Tüpfelchen vergeben werden, sonst geht das ganze Geschlecht zuschanden. Der Erstgeborene ist der Erstgeborene und muß es bleiben; er kann seine Rechte weder verlieren noch vergeben. Und er verbot seinem Sohne Ottokar, ihm je wieder von solchem pflichtwidrigen Ding zu reden oder auch nur daran zu denken. Bald hatte er auch Veranlassung, die Vorliebe, mit welcher er auf Wippo zu blicken gewohnt war, zu beschränken, und die Nachsicht, womit er den tollen Knabenstreichen desselben zugesehen, zu bereuen. Denn aus dem wilden Knaben Wippo wurde ein wilder Jüngling, dessen Kraft zu unbändigen Leidenschaften aufschoß, welche auszutoben er durch keine Schranke sich abhalten ließ. Milde Ermahnungen und ernste Strafworte fruchteten gleich wenig, und bald hatte sich Wippo durch die buntesten Abenteuer einen so schlimmen Ruf erworben, daß demselben nur seine anerkannte Meisterschaft in allen Übungen des Kriegers und Jägers und sein bis zur Tollkühnheit gehender Mut einigermaßen das Gleichgewicht hielten. Das Schlimmste jedoch war, daß er auf seinen Bruder einen bitteren Haß geworfen. Er glaubte sich durch denselben um eine Stellung betrogen, die eigentlich ihm gebührte, und die zärtliche Liebe, womit ihm Ottokar begegnete, sänftigte nicht, sondern steigerte nur seinen Ingrimm.
Da geschah es, daß Graf Hanno mit dem gesamten Adel des Landes zu einem großen Ritterfest hinüber nach Graz entboten wurde. Seine Söhne begleiteten ihn. Wippo stach beim Turnier alle Gegner aus dem Sattel und erhielt den Dank aus der Hand des schönsten der anwesenden Fräulein. Und das war die Tochter eines den Wippoltsteinern seit lange befreundeten Hauses, die Gräfin Thekla von Sachselnstein –«
»Thekla?« unterbrach die Gräfin die Erzählerin frappiert.
»Thekla von Sachselnstein,« fuhr die Traumlore gleichmütig fort. »Sie muß sehr reizend gewesen sein, denn der wilde Wippo, welchem bis dahin noch kein Weib eine dauernde Neigung einzuflößen vermocht hatte, fühlte sich beim eisten Anblick von ihr gefesselt, für immer. Es war eine unglückselige, verhängnisvolle Leidenschaft, und die Sage will, Thekla habe sie erwidert.«
Hier sah die Lore im Sprechen auf und bemerkte, daß die Blicke der Liebenden mit einem seltsamen Ausdruck, halb Glut, halb Grauen, aneinander hafteten. Ohne daß die beiden es wahrnahmen, und ohne daß die Erzählerin ihren Faden fallen ließ, fuhr über ihr starres Gesicht ein fahles Zucken, das kam und ging wie ein Blitz. »Ja, wenn die Sage nicht lügt – und warum sollte sie lügen? – erwiderte Thekla von Sachselnstein die Leidenschaft des wilden Wippo. Es kam aber anders, als die beiden Liebesleute sich es dachten. Ihre Väter hatten freilich schon seit Jahren das Übereinkommen getroffen und festgehalten, daß zwischen ihren Kindern eine Heirat stattfinden sollte; nur lautete der Pakt dahin, daß Thekla die Frau des Majoratserben von Wippoltstein werden sollte, nicht aber die des nachgeborenen Sohnes. Und die beiden Herren waren die Leute, ihren Beschluß durchzusetzen. Damals kehrte man sich in vornehmen Häusern nicht an die Tränen und Bitten eines Mägdeleins –«
»Damals! Bloß damals?« flüsterte die Gräfin mit einem tiefen Seufzer in sich hinein.
»Aber auch des halbrasenden Wippo Wüten,« fuhr die Lore fort, »konnte den Gang der Sache nicht aufhalten. Bevor das Fest zu Ende ging, war Thekla die Verlobte Ottokars, der ihr zwar keine so leidenschaftliche Huldigung darbrachte wie sein Bruder, aber vielleicht noch inniger ihr zugetan war. Als im Festsaal der Trinkspruch auf die Neuverlobten ausgebracht wurde, schmetterte Wippo seinen Becher mit einem wilden Fluch auf den Boden und eilte hinweg. Er verschwand aus Graz und aus dem Lande, ohne daß man in Erfahrung bringen konnte, was aus ihm geworden. Vergebens ließ der alte Graf überall nach dem entwichenen Sohn kundschaften, dessen Verschwinden ihm bei all dem Herzeleid, welches der Wildling ihm angetan, dennoch schmerzlicher ans Herz griff, als er sagen mochte. Er verwand den Verlust nicht und starb unlange darauf.
Ottokar hatte inzwischen seine Braut heimgeholt in die Hallen seiner Väter. Er wußte von der Zuneigung, welche Thekla für seinen Bruder gefaßt, aber das vermochte ihn bloß, seine achtungsvolle Zärtlichkeit für die Gattin zu verdoppeln und mit schonender Sorgfalt jeden Dorn von ihrem Wege zu entfernen. Einem solchen Gebaren widersteht eine Frau selten. Thekla lernte ihren Gemahl achten, verehren, lieben zuletzt, denn die Gewohnheit des Umgangs ist mächtig. Dazu kam, daß die Geburt eines Sohnes ein weiteres Band um die beiden schlang. Als die junge Mutter ihren Gatten mit Entzücken seinen Sprößling betrachten sah, da warf sie sich ihm an die Brust und gestand ihm, daß sie ihn nur gezwungen und mit Widerwillen geheiratet, daß aber seine unendliche Güte und Milde ihr allmählich das Herz in der Brust umgewandelt hätte; jetzt liebe sie ihn. Und nun lebten sie ein paar glückliche Jahre mitsammen.
Da plötzlich erschien eines Abends der verschollene Wippo auf der Burg Wippoltstein. Er hatte sich wild in dem wilden Kriegstrubel jener Tage umgetrieben. Früh gealtert und scheinbar beruhigt kehrte er heim. Er ließ sich die aufrichtige Herzlichkeit, womit ihn der Bruder aufnahm, gefallen und benahm sich gegen die Schwägerin mit der ruhigen Freundlichkeit eines Schwagers. Aber er war verschlossen, und über seine männlichen Züge hatte sich ein dunkler Schatten von Schwermut gelagert. Das Leben verlief zwischen den dreien eine Weile im gewohnten Geleise. Damals geschah es, daß ein fremder Maler, welcher sich im Schloß aufhielt, um die Bilder des Grafen und der Gräfin zu malen, auch das Bild Wippos fertigte, welches noch jetzt vorhanden ist, aber nie in die Ahnengalerie zugelassen wurde.
Bald wurde offenbar, daß mit Wippo das Unheil in die Burg eingekehrt sei. Thekla war noch immer sehr schön. Wippo bemerkte es nur zu sehr. Die Glut seiner Leidenschaft schlug plötzlich wieder in hellen Flammen unter der Asche hervor. Das Geloder dieses Feuers konnte den Augen Theklas nicht entgehen und erfüllte sie mit Entsetzen. Sie rang, ihre Angst dem Gatten und sich selber zu verbergen. Aber sie vermochte nicht, sie dem Verursacher derselben zu verheimlichen. Seine Leidenschaft kreiste über ihr wie der Lämmergeier über der geängstigten Gemse. Ottokar ahnte nichts. Ein dringliches Geschäft führte ihn für einige Tage über Land. Er wußte nicht, daß er das Verderben hinter sich zurückließ. Als er am dritten Tage heimkehrte, fand er Gattin und Bruder nicht mehr.
Mit Wippos Selbstbeherrschung war es vorbei. Er benutzte die Abwesenheit des Bruders, um dem Worte zu geben, was er bisher bloß durch Blicke und Gebärden ausgedrückt. Er bestürmte seine Schwägerin um Liebe. Der Schrecken, womit sie sein Drängen erfüllte, erschien ihm nur als frauenhaftes Zieren. Er setzte in seinem Taumel voraus, das Gefühl, welches er vormals in Thekla erregt, sei noch nicht erloschen, sondern verhülle sich nur mit dem Mantel konventioneller Sitte. Die Gräfin litt furchtbar und bereute es brennend, nicht heftiger ihrem Gemahl angelegen zu sein, ihn begleiten zu dürfen. Die Sorge für ihren Knaben hatte sie zu Hause gehalten.
Den Dreijährigen an der Hand, lustwandelte sie abends am Seeufer, als sich Wippo, von der Jagd heimgekehrt, zu ihr gesellte. Er war furchtbar aufgeregt und ganz aus Rand und Band. Er bat, flehte, drohte. Er kniete sich vor ihr die Knie wund und vermischte Tränen mit Flüchen. Dann sprang er auf, außer sich, wütend, durch ihre Weigerung zur Raserei getrieben. Er riß sie von dem Kinde los, schwang sie auf seine Arme und sprang mit ihr in das am Ufer liegende Boot. Ihr Angstgeschrei schlug zur Burg empor, Leute eilten herbei, aber schon hatte der Wütende die Entsetzte, Halbohnmächtige auf die aus dem See aufstarrende Klippe entführt. Dort sahen die ans Gestade eilenden Burgleute den Wippo noch einmal vor der händeringenden Herrin auf den Knien sich winden. Dann gewahrten sie, wie er mit einem Schrei der Verzweiflung und des Wahnsinns auf- und mit gezücktem Dolch auf die Unglückliche einsprang. Und weiter, wie er die tödlich Getroffene mit wütenden Küssen bedeckte, wie er sie dann in den See schleuderte, einen gräßlichen Fluch auf sein Haus, auf sich selbst, auf Gott und die Welt herüberschreiend, die Mordwaffe in der eigenen Brust begrub und mit einem wilden Satz seinem Opfer in die Tiefe nachsprang. Als es den Burgleuten gelang, die Klippe zu erreichen, war alles vorüber. Der Fels erhielt von dem Gräßlichen den Namen Wippostein, der ihm denselben gegeben, den des blutigen Grafen, und ein altes Lied hält die düstere Sage im Gedächtnis der Menschen lebendig.«