Johannes Scherr
Nemesis
Johannes Scherr

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3. Die Heimkehr des Erben.

Während in der Donnerfallmühle das soeben mitgeteilte Gespräch statt hatte, fuhr ein Extrapostwagen die Talstraße herauf.

Der Postillion hatte das lustige Stücklein, womit er die schönen Dörflerinnen ans Fenster lockte, noch nicht zu Ende geblasen, als sich der Kopf eines jungen Mannes aus dem Schlage bog und dem auf dem Bocke sitzenden Diener, einem Greis von straffer, soldatischer Haltung, zurief, den Wagen halten zu lassen.

Das Trara des Posthorns schnappte mitten in einem bedenklichen Triller ab, und das Gefährt hielt vor dem Eingang des Pfarrgartens, welcher sich vom Seeufer bis zur Straße heraufzog und in dessen Mitte das Pfarrhaus stand.

Der alte Diener war an den Schlag getreten.

»Geh fragen, Andres«, befahl ihm der Reisende, »ob der alte Herr zu Hause sei.«

»Sehr wohl, Herr Rittmeister«, versetzte Andres, die Hand an seine Mütze legend, und ging durch das offenstehende Gattertor in den pfarrherrlichen Garten.

Bald kam er zurück und meldete:

»Der Herr Pfarrer ist noch nicht von seinem Morgenspaziergang zurück, welchen er nach der Messe angetreten. Die alte Urschel wird ihn aber bei der Heimkehr sogleich von der Ankunft Euer Gnaden in Kenntnis setzen.«

»Vorwärts also und bedeute den Postillion, daß jetzt des Blasens genug sei. Ich will nicht wie ein Seiltänzer in den Park einfahren.«

Der Alte richtete seinen Auftrag aus, indem er wieder auf den Bock stieg, und der Wagen rollte weiter, entlang das Dorf und dann hinein in den Park. Die Bäume der zum Schloß führenden Avenue begannen erst Laub anzusetzen, und so genoß der heimkehrende Erbe der Grafschaft Wippoltstein eines Durchblicks auf See und Gebirg. Auf den Wagenschlag gestützt, schwelgte er in dem prächtigen Panorama.

»Es ist schön hier, sehr schön, beim Himmel!« sagte er vor sich hin. »Ein müdes und enttäuschtes Herz könnte hier Ruhe und Frieden finden. Aber mein eigenes ist noch nicht müde, und ich bin noch zu jung, um hier den müßigen Träumer oder den Landjunker zu spielen, welcher Ochsen mästet und mit den Pächtern rechnet. Solche Prosa möchte ich mir doch noch möglichst vom Leibe halten. – Ah, sieh dort drüben die Einsiedelei! Ob die Traumlore wohl noch lebt? Ich möchte wissen, ob die Frau mit ihren dunklen Reden auch jetzt noch einen so seltsamen, fast unheimlichen Eindruck auf mich machte wie vordem in meinen Knabenjahren. Ich erinnere mich deutlich der Szene, als sie sich die Einsiedelei von meinem Vater erbat. Er beeilte sich, ihrem Wunsche zu entsprechen, als sie denselben kaum geäußert hatte. Es war in ihrem Auge etwas düster Gebieterisches. Ich mußte mir wunderliche Gedanken machen, so oft ich später daran dachte. Doch fort damit! Da sind wir ja!«

Der Wagen hielt auf dem Hofe vor dem Portal des westlichen Schloßflügels. Andres öffnete den Schlag, und der heimkehrende Sohn des Hauses sah sich beim Aussteigen von einem halben Dutzend Livreemenschen empfangen, an deren Spitze ihm der schwarzgekleidete Hausmeister in wohlgesetzten Worten ein Willkommen darbrachte.

»Wo finde ich meinen Vater?« fragte der junge Edelmann.

»Seine Erlaucht, der gnädige Herr, befinden sich in seinem Kabinett.«

»Gut. Andres, laß meine Siebensachen ins Haus schaffen und vergiß den Postillion nicht.«

Dies gesagt, ging er mit kurzem Gruße durch die Diener hindurch und betrat »die Halle seiner Väter«, auf deren Schwelle ihm keine liebende Hand sich entgegengestreckt hatte. Die Diener, welche ihn mit untertänigen Reverenzen empfangen, waren ihm fremd. Vielleicht mochte den jungen Mann ein Gefühl der Oede beschleichen, als er jetzt den breiten Korridor durchschritt, welcher zur Treppe führte. Er hatte die Reisemütze abgenommen, aber auf seinen Zügen lag nicht die freudige Hast des Wiedersehens. Er ging langsam, wenn auch mit dem elastischen Tritt der Jugend. Seine hohe und schlanke Gestalt zeigte unverkennbar die soldatische Haltung. Auch das aristokratisch feingeschnittene Gesicht mit dem kurzgehaltenen Haar, der Säbelnarbe auf der Stirne, mit den feurig unter schwarzen Brauen hervorblickenden blauschwarzen Augen und dem vollen dunkeln Schnurrbart hätte man ein soldatisches nennen können, wäre nicht um Augen und Lippen ein träumerisch nachdenklicher Zug sichtbar geworden. Dieser Zug konnte einen Physiognomen vielleicht bewegen, dem jungen Mann Mangel an Willenskraft zuzuschreiben. Im ganzen aber zeugte seine Erscheinung von Frische und Unverdorbenheit.

Indem er die Hand an das Treppengeländer legte, blieb er einen Augenblick stehen und sah sich um.

Die Art seiner Begrüßung hatte die Diener nicht ermutigt, ihm zu folgen.

»Wenn ich eine Mutter und Schwester hätte,« murmelte er, »so wäre mein Empfang ein anderer gewesen. Sie würden ans Tor geeilt sein, sowie sie das Gerassel der Wagenräder auf dem Hofe vernommen. Doch das ist nun schon so, und ich weiß gar nicht, warum mich beim Eintritt in dieses Haus so ein – so ein albernes, kindisch banges Gefühl anwandelte, ein Gefühl, als fürchtete ich mich vor der mir noch unbekannten gnädigen Frau Stiefmama«

Nach diesem kurzen Selbstgespräche stieg er die Treppe hinauf und begab sich geradenwegs nach den Zimmern des Grafen. Der Kammerdiener, welchen er im Vorzimmer traf, war ihm von früher bekannt und sagte ihm auf Befragen, daß der Graf in seinem Arbeitskabinette sich befände, dessen Tür er öffnete.

Graf Nepomuk, welcher über einen mächtigen Folianten, dem Anschein nach ein Rechnungsbuch, hingebeugt an seinem Schreibtisch gestanden, kam dem Eintretenden entgegen und empfing ihn mit einer Umarmung, die zwar nicht ohne eine gewisse zeremoniöse Kühle, doch immerhin eine väterliche war.

Robert fand den Vater, welchen er seit drei Jahren nicht mehr gesehen, nicht sehr verändert. Ein hoher Fünfziger, hatte er noch einen lebhaften Blick, von mehr Ruhelosigkeit freilich als Feuer. Seine ziemlich gewöhnlichen Züge mochten, unbeobachtet, epikureische Schlaffheit oder gar Verlebtheit aufzeigen, aber er hatte sie in seiner Gewalt und konnte ihnen, scheinbar ohne Zwang, einen würdevollen Ausdruck geben. Mienen, Gebärden und Redeweise verrieten den gewiegten Höfling, und man konnte ihm anmerken, daß er in früheren Jahren die Laufbahn eines Diplomaten verfolgt hatte. Sein schon zu dieser Morgenstunde mit Sorgfalt behandelter Anzug ließ vielleicht zu große Ansprüche auf Jüngerseinwollen durchblicken. Er trug sich aufrecht, und alles in allem konnte er seiner ganzen Haltung zufolge noch für einen stattlichen Mann gelten. Was für einen Anteil hieran Toilettenkünste hatten, das zu untersuchen fiel dem Sohne nicht ein. Später freilich glaubte er sich zu erinnern, daß ihm die rabenschwarze, mit minutiöser Eleganz zurechtgemachte Perücke des Vaters einen widrigen Eindruck verursacht habe.

Nachdem die Begrüßungen abgetan waren, sagte der Graf:

»Du siehst gut aus, Robert.«

»Ich kann das Kompliment zurückgeben, lieber Vater, denn Ihr Aussehen zeugt von Gesundheit und Rüstigkeit.«

»Nun, man konserviert sich, so gut es gehen will, und die Luft hier oben ist vortrefflich. Aber,« setzte der Redende mit einer Neigung väterlichen Stolzes hinzu, »ich meinte nicht nur das, was man so gewöhnlich unter Gutaussehen versteht. Du bist in diesen letzten drei Jahren ein Mann geworden, der etwas vorstellt in der Gesellschaft. Die Narbe da auf deiner Stirn steht dir gut und reicht vollkommen hin, einen Orden zu ersetzen.«

»Ich habe auch ein Stück solchen mitgebracht, wenn Ihnen das Freude macht.«

»Das größte Vergnügen, sicherlich. Allein mir scheint, daß du selber die Sache ziemlich kühl nimmst.«

»Aufrichtig gestanden, ich glaube, daß ich ziemlich parteiisch bevorzugt worden bin. Ich habe meine Pflicht getan, so viel darf ich sagen, aber andere haben dieselbe nicht weniger gut getan als ich, einige sogar besser, und sie gingen leer aus.«

Graf Nepomuk betrachtete seinen Sohn mit höchlich verwunderten Blicken. Die einfache Äußerung desselben kam ihm sehr sonderbar vor. Er fand darin einen Idealismus, eine Überschwenglichkeit, die er sich erst zurechtlegen mußte, bevor er sich darüber aussprechen mochte. Endlich sagte er:

»Es ist recht schön, liebes Kind, bescheiden zu sein, das heißt, solange man im Katechismus-Alter steht. Später tut man gut, statt bescheiden im Hintergrunde zu bleiben, sich nötigenfalls mit Anwendung der Ellenbogen nach dem Vordergrund Bahn zu brechen. Das sogenannte stille Verdienst ist ganz an seinem Platz in gewissen spießbürgerlichen Sphären nämlich, in unserer Region jedoch muß man Lärm schlagen, um zu zeigen, daß man da ist. Erlaube mir daher, dir zu bemerken, daß man sehr leicht zu viel Bescheidenheit, kaum aber je zu viel Selbstbewußtsein haben kann. Daß man das letztere vorkommendenfalls verschleiere, lehrt schon die gute Lebensart. Aber mit der allerliebsten Bescheidenheit kommt man nicht vorwärts in der Welt. Und du sollst vorwärts kommen. Hast du doch einen vielversprechenden Anfang gemacht. Du bist im Dienst gestiegen, bist dekoriert, hast dir, wie ich mir aus der Hauptstadt schreiben ließ, in den gesuchtesten Kreisen Freunde gemacht und Freundinnen, welchen letzteren Umstand ich besonders betone, weil die Frauen in der Gesellschaft doch immer den Ausschlag geben. Es liegt demnach eine so schöne Laufbahn vor dir, als nur je ein Wippoltstein eine durchlaufen hat, und ich hoffe und bin überzeugt, daß du, wie du bisher unserem Namen Ehre gemacht, den Glanz unseres Hauses mehren wirst.«

»Wenigstens glaube ich versprechen zu dürfen, daß ich mich bemühen werde, unserem Namen keine Unehre zu machen. Wenn ich jedoch keineswegs ohne Selbstbewußtsein bin, lieber Vater, so möchte ich Ihnen doch zu bedenken geben, ob Sie mein Können und Wollen nicht vielleicht überschätzen. Ich will,« fuhr er nach einer Pause fort, »Ihnen gegenüber ganz offen sein, wie ich es bisher gewohnt gewesen. Man hat mir in der Hauptstadt von einflußreicher Seite her zu verstehen gegeben, daß man an mir Kenntnisse und Fähigkeiten bemerkt zu haben glaube, welche über den Gesichtskreis eines gewöhnlichen Kavallerieofftziers hinausgingen, und daß man es daher gern sehe, wenn ich mich während des Friedens zu diplomatischen Geschäften verwenden ließe. Ich bin nicht darauf eingegangen, weil ich zum diplomatischen Schachspiel weder Beruf noch Geschmack in mir fühle. Auf der andern Seite ist auch mein Verhältnis zum Militärstand nicht mehr das eines willenlosen Kadetten. Der letzte Feldzug gab mir Veranlassung, manches zu beobachten und in Erwägung zu ziehen, was bis dahin noch gar nicht in den Kreis meiner Gedanken getreten war, und habe ich mir unter anderem über das Verhältniß der Nationalitäten zu- und untereinander meine eigenen Ansichten gebildet. Endlich habe ich die Erfahrung gemacht, daß mir das Soldatenleben im Frieden, der Schlendrian des Garnisonsdienstes, geradezu unerträglich werden müßte.«

Diese Eröffnungen verliehen den Zügen des Grafen einen sehr bedenklichen Ausdruck, welchen zu verbergen er sich keine Mühe gab. Er zog ein paarmal unbehaglich die Schultern in die Höhe und sagte dann:

»Ich will nicht hoffen, mein Sohn, daß du dich in deiner jugendlichen Unerfahrenheit von dem demokratischen Schwindel unserer Tage hast anstecken lassen.« »Bah,« entgegnete Robert wegwerfend, »ich bin Aristokrat von Geburt, Erziehung und Neigungen.«

»Das gewährt mir Beruhigung, und was das übrige betrifft, so siehst du, denke ich, ein, daß du noch viel zu jung bist, um den Dienst zu quittieren und hier oben in den Bergen den Landjunker zu spielen.«

»Ich habe mir, während ich durch den Park fuhr, das nämliche gesagt.«

»Das freut mich. Und wohin gehen deine weiteren Absichten?«

»Ich habe Ihrer gütigen Einladung zufolge Urlaub für die Sommermonate genommen –«

»Ja, ich dachte mir, es würde dir gut tun, wenn du dich von den Strapazen des Feldzuges und des Salonlebens hier oben erholtest.«

»Ich bin Ihnen dankbar hierfür und werde mit Vergnügen einige Zeit in den heimatlichen Bergen zubringen, welche mir schöner vorkommen als je. Dann aber –«

»Dann?«

»Dann möchte ich, wenn Sie es mir erlauben, reisen.«

»Reisen?«

»Ja.«

»Aber du hast ja deine Tour schon früher gemacht, warst in Paris und London, hast Deutschland bereist und jetzt auch Italien gesehen,«

»Wohl, aber wie sah ich diese Orte, namentlich Paris und London? Mit der gaffenden Urteilslosigkeit eines jungen Menschen, der auf Treu und Glauben hinnahm, was ihm sein Hofmeister mitzuteilen für gut fand. Ich möchte die Hauptstädte von Frankreich und England noch einmal und zwar sozusagen mit eigenen Augen sehen und dann einen Abstecher nach Nordamerika machen.«

»Nach Nordamerika? Was ist das für eine Grille?«

»Keine Grille, mit Ihrer Erlaubnis, oder wenn eine, jedenfalls eine zu entschuldigende. Ich habe über jenes Land so viel Wunderbares, Seltsames, sich Widersprechendes gehört und gelesen, daß ich das lebhafteste Verlangen empfinde, mir über eine so unerhörte, nach unseren Begriffen so ganz abnorme Entwickelung einer neuen Gesellschaft nähere Aufklärung zu verschaffen.«

»Eine seltsame Laune, sich diese prosaische Flegelei mitansehen zu wollen. Und die weite Seereise? Bedenke, daß du außer mir der einzige Wippoltstein bist und gegen mich und unsern Namen Verpflichtungen hast.«

»Ich gedenke sie zu erfüllen, lieber Vater, aber von Gefahr kann da doch wohl kaum die Rede sein. Eine Reise von England aus nach den Vereinigten Staaten ist ja heutzutage nur noch eine Spazierfahrt.«

Der Graf stand auf und durchschritt nachdenklich das Zimmer. Eine Reise wissenslustiger Neugier in das Land demokratischer Gleichheit? Das stand so ganz außerhalb des Kreises seiner Vorstellungen, daß ihm vorkam, da müsse irgend etwas anderes dahinter stecken.

Von diesem Gedanken eingenommen, blieb er vor seinem Sohne stehen und sah ihm forschend ins Gesicht.

Robert hielt den Blick ganz unbefangen aus, allein dies tat dem Vater kein Genüge, und er sagte daher:

»Höre, Robert, ich muß dir wiederholen, daß dein Aussehen mir gefällt. Du bist männlicher und reifer geworden in jeder Hinsicht, seit wir uns zum letztenmal sahen. Und doch ist da zwischen deinen Augen ein Zug, der wie Melancholie aussieht. Du weißt, ich bin dir stets ein gütiger Vater gewesen.«

»Sagen Sie: ein liebevoller,« entgegnete Robert mit Wärme und ergriff die Hand seines Vaters. »Ja, ein sehr liebevoller, ich erkenne es mit dem herzlichsten Dankgefühl. Aber Sie irren, wenn Sie mich für einen Melancholikus halten. Ich bin das nicht mehr als Demokrat.«

»Nun, ich wollte damit nicht sagen, daß ich dich für einen Empfindler, oder, wie man jetzt großartig zu sagen pflegt, für einen Weltschmerzler ansehe. Indessen, du bist in dem Alter, wo die Leidenschaften das große Wort zu führen und den Verstand zum Schweigen zu bringen pflegen. Übrigens weißt du, daß du mir alles mitteilen darfst, und handelte es sich auch um irgend eine jugendliche Unbesonnenheit. So etwas läßt sich leicht wieder in Geleise bringen. Vielleicht stehen deine Reisepläne mit irgend einer Liaison in Verbindung, wie?«

Und so sprechend sah er den Sohn wieder fragend an.

Man sieht, Graf Nepomuk sprach in väterlicher Weise mit seinem Sohn und Erben. In der Tat, er liebte ihn, liebte ihn sehr. Er liebte Robert mehr als irgend ein Wesen auf der Erde, ein einziges ausgenommen, sich selbst nämlich. Robert glich so sehr seiner Mutter, welche die Geburt des Knaben nur um ein Jahr überlebt hatte, und diese Frau hatte dem Grafen Gefühle eingeflößt, über die er sich später nur noch verwundern konnte, fragend verwundern, wie er sie jemals habe hegen können. Es hat jeder Mensch ein Paradies hinter sich , das heißt eine Zeit, wo er an das Ideal glaubte. Diese Zeit war für den Grafen seine kurze erste Ehe gewesen. Kein Wunder also, daß er dem einzigen Sprößling derselben lebhaft zugetan war.

»Sie täuschen sich, lieber Vater,« äußerte Robert auf die von dem Grafen hingeworfene Vermutung. »Sie schreiben mir einen viel abenteuerlicheren Sinn zu, als ich besitze. Eine Liaison irgend einer Art ist bei meinen Wünschen, die alte Welt genauer kennen zu lernen und die neue zu sehen, gar nicht im Spiele. Ich habe mich überhaupt keiner Liaison zu rühmen oder zu schämen und bringe nach Wippoltstein ein so freies Herz zurück, als ich vor vier Jahren von hier mitgenommen.« Diese Erklärung wurde in einem so unbefangenen, überzeugenden Tone gesprochen, daß sie den Grafen merklich beruhigte.

»Ich sehe,« sagte er, »daß ich mich deiner Heimkehr in jeder Beziehung zu freuen habe, lieber Robert, und will daher auch deinen Reiseplänen nicht gerade entgegentreten. Aber du wirst dich mir zu Liebe auch nicht zu sehr mit ihrer Ausführung beeilen, und ich rechne auf dein Hierbleiben den Sommer über um so mehr, als ich selber zu wiederholten Malen von Hause abwesend sein werde. Geschäfte rufen mich in die Hauptstadt und auf unser Gut in Böhmen. Da kannst du dich inzwischen daran gewöhnen, künftig hier der Herr zu sein. Glaube mir, auch das will gelernt sein, und hat man sich erst in die Widerwärtigkeiten, die eine solche Stellung unausweichlich mit sich bringt, gefunden, so findet man wohl auch Interesse an der Sache. Es ist zur Verbesserung unserer Güter noch manches zu tun, und ich erinnere mich, daß du in deinen Knabenjahren an Landwirtschaft und Forstkultur ein lebhaftes Gefallen fandest. Jetzt aber will ich dich zu der Gräfin führen.«

»Zu meiner –«

»Stiefmutter, willst du sagen? Ich denke, du bist Weltmann genug, um dieses Verhältnis zu nehmen, wie es ist. Du weißt, daß durch diese Verbindung deine Rechte in keiner Weise beeinträchtigt wurden.«

»Sie mißverstehen mich, lieber Vater. Ich wage zu glauben, daß ich Ihnen nie Veranlassung gegeben, mich gemeiner Regungen fähig zu halten, und wüßte ich meinerseits nicht den geringsten Grund anzugeben, warum ich ein Verhältnis nicht achten sollte, welches zu Ihrem Glück und zu Ihrer Zufriedenheit beiträgt.«

Ein leichte Wolke überflog die Stirne des Grafen, aber er ließ seinem Sohn kaum Zeit, dies zu bemerken, indem er sagte:

»Ich kann, ohne mich der Parteilichkeit schuldig zu machen, die Gräfin als eine ausgezeichnete Frau rühmen. Sehr gebildet und reich an Geist und Gemüt, beschäftigt sie sich vorzugsweise mit der Literatur, sogar mit der wissenschaftlichen Seite derselben. Doch wirst du dessenungeachtet keine der widerwärtigen Eigenheiten an ihr bemerken, welche die Engländer mit dem Worte Blaustrümpfelei bezeichnen. Sie will keineswegs für eine Gelehrte gelten, und die moderne Schreibewut der Frauen reizt sie eher zum Spott als zur Nachahmung. Möglich, daß du sie ein bißchen exzentrisch findest, aber daran braucht ja die Jugend keinen Anstoß zu nehmen. Ich hoffe, ihr werdet euch befreunden, und da sie eine kühne Reiterin und eifrige Bergsteigerin ist, wird es euch an den Amüsements, welche das Landleben bietet, nicht fehlen. Gehen wir also.«

»Wäre es nicht schicklich, daß ich mich zuvor der Reisekleider entledigte?« fragte Robert, welcher dieser Zusammenkunft mit einer seltsamen, ihm unerklärlichen Befangenheit entgegenging.

»O,« entgegnete der Graf, »das ist gar nicht nötig. Sie wird dich auch in den Reisekleidern empfangen, wie es ihr dem Sohn des Hauses gegenüber geziemt. Überdies liebt sie das Zeremoniell nicht.«

Robert folgte dem voranschreitenden Vater und war froh, daß sie mehrere Minuten zu gehen hatten, um von dem westlichen Flügel des Schlosses in den östlichen zu gelangen, wo die Gräfin ihre Zimmer hatte. So konnte er doch inzwischen die Bangigkeit bewältigen, die ihm als eine sehr alberne erscheinen mußte.

In einem Vorgemache trafen sie einen phantastisch mit roter Jacke und weißem Turban aufgeputzten Mohrenknaben, den letzten Sprößling einer Negerfamilie, welche im vorigen Jahrhundert ein Wippoltstein aus Konstantinopel mitgebracht hatte.

»Berdoa,« sagte der Graf zu ihm, »geh und melde mich deiner Gebieterin.«

Der Knabe verbeugte sich und verschwand.

»Hm,« dachte Robert, »die Frau Gräfin scheint doch auf das Zeremoniell zu halten.«

Dann sagte er:

»Der kleine Berdoa, der letzte Mohikaner unserer afrikanischen Dienerschaft, hat sich tüchtig gestreckt, seit ich ihn zuletzt gesehen.«

»Ja,« versetzte der Graf, »und dieses letzte Überbleibsel einer Rokokomode ist ein kleiner Taugenichts, welchen seine Gebieterin tüchtig verzieht. Es geht so mit derartigem Spielzeug.«

Der schwarze Knabe kam zurück und meldete kurz, daß die Frau Gräfin den gnädigen Herrn im Turmzimmer erwarte.

Um dahin zu gelangen, mußte man mehrere prachtvoll ausgerüstete Zimmer durchschreiten, die keinen besonderen Charakter trugen und den flüchtigen Blicken Roberts das bunte Hunderterlei von Luxusgegenständen zeigten, welches den Frauengemächern der vornehmen Welt eigen zu sein pflegt. Aus diesen Zimmern traten sie in ein zweites Vorgemach, dessen gegenüberliegende Türe ihnen eine ältliche Dienerin schweigend öffnete.

Das Turmzimmer, wie Robert später erfuhr, der Lieblingsaufenthalt der Gräfin, nahm das ganze Mittelgeschoß des Turmes ein, in welchen der östliche Schloßflügel auslief. Das hohe, breite, dreiteilige, bis auf den Boden herabreichende Bogenfenster, nur mit einem einfachen grünen Vorhang drapiert, gewährte einen entzückenden Ausblick auf See und Gebirg und diente zugleich dazu, die Verbindung des Turmzimmers mit dem Pavillon auf der kleinen Felseninsel herzustellen; denn es öffnete sich auf den Steg, welcher, wie schon früher erwähnt worden, aus dem Turme nach dem Felsen hinüberführte. Jetzt stand diese Türe offen, und die Frühlingssonne warf einen Strahl goldener Lichter in das Gemach. Ungewöhnlich hoch und weit, unterschied sich dasselbe von den vorher durchmessenen ganz auffallend. Es konnte weit mehr eine Bibliothek als ein Damenzimmer vorstellen. An dem mit Schnitzwerk versehenen Eichengetäfel der Wände stiegen Bücherschränke in die Höhe, die eine ansehnliche Bücherei enthielten. In den Zwischenräumen zwischen den Schränken bemerkte man auf aus der Wand vorspringenden Piedestalen die Büsten von Lessing, Goethe, Schiller, Dante, Shakespeare, Byron und Spinoza. Von Gemälden sah man nur ein einziges, ein großes historisches Porträt, in schwerem, verblichenem Goldrahmen. Es stellte einen Krieger in der Tracht des Dreißigjährigen Krieges dar, mit dunklen, feurigen Augen und einem fesselnd schwermütigen Ausdruck der männlich schönen Züge. Dieses Porträt hing über einem Schreibtisch von altertümlicher Form, welcher rechts vom Fenster an der Wand stand. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Tisch, ganz bedeckt mit Kartenwerken und buchhändlerischen Novitäten, zur Seite ein Lehnstuhl mit Lederpolsterung. Was sonst noch von Mobiliar vorhanden, war ebenso anspruchslos, und nur die zierlich geformte, von reicher Vergoldung glänzende Harfe, welche links vom Fenster in einer Art Nische stand, deutete etwa darauf hin, daß hier eine große Dame wohne.

Sie erhob sich vom Büchertisch, wo sie gesessen. und kam den Eintretenden entgegen, eine vollendet harmonisch gebaute Gestalt, deren jugendlich frische und runde Formen ein bis zum Halse hinaufgehendes dunkelgrünes Seidenkleid weder verbarg, noch zur Schau stellte.

Als Robert diesen edelgeformten Kopf mit dem hellenischen Profil, diese großen, dunkelbraunen, unter herrlichen Brauen »still und bewegt« hervorblickenden Augen, diese Fülle kastanienbrauner Haare, überhaucht von einem rötlichen Goldschimmer, diese ganz von Jugend und Schönheit strahlende Erscheinung plötzlich gewahr wurde, hatte er Mühe, einen Ausruf der Überraschung zu unterdrücken,

Ihrerseits schien die Gräfin ebenfalls von der Erscheinung des jungen Mannes überrascht; aber wenn sie auch ihre Bewegung mit dem ihrem Geschlecht eigenen Takt nicht augenblicklich bewältigt hätte, so würde man dieselbe ganz gut der Befangenheit einer Stiefmutter haben zuschreiben können, welche sich zum erstenmal einem Stiefsohn gegenüber sah, der älter als sie selber war.

»Madame,« sagte der Graf, seinen Sohn vorstellend, »ich bringe Ihnen hier den jungen Husaren, dessen Ankunft ich mit Sehnsucht entgegengesehen und der, wie ich glaube, ein echtes Reis vom alten guten Stamme der Wippoltsteine ist. Lassen Sie ihn, ich bitte, Ihrer Freundschaft empfohlen sein.«

»Er ist willkommen,« erwiderte die Gräfin, dem Vorgestellten mit mädchenhaftem Erröten die Hand reichend.

Robert beugte sich über diese schöne warme Hand hin und führte sie ehrerbietig an die Lippen, Dann ließ er sie langsam los und sagte:

»Gestatten Sie mir, gnädige Frau, der Bitte meines Vaters die Versicherung beizufügen, daß ich mich nach Kräften bemühen werde, Ihre Freundschaft zu verdienen.«

Der junge Mann fühlte recht wohl das Hölzerne dieser Phrase, allein er war zu verwirrt, um etwas Besseres vorzubringen. Die Schönheit der Gräfin hatte ihn staunen machen, die Stimme, womit sie ihn willkommen hieß, übte einen wunderbaren Zauber auf ihn.

Es gibt weibliche Altstimmen, voll und rund, deren Metallklang ein magnetisches Fluidum durch das Ohr in die Seele zu strömen scheint. Man möchte schwören, die sonoren Töne kämen nicht aus dem Kehlkopf, sondern unmittelbar aus dem Herzen,

Eine solche Stimme besaß auch die Gräfin Thekla von Wippoltstein.

»Ich nehme Ihre Versicherung an,« sagte sie mit jenem Lächeln der Befriedigung, welches ganz naturgemäß aus die Lippen einer Frau tritt, wenn sie einen Mann in ungeheuchelt huldigender Stellung vor sich sieht. »Ich nehme Ihre Versicherung an und will Ihnen nicht verschweigen, daß ich, als ich vorhin Ihre Ankunft erfuhr, ein geheimes Vorgefühl empfand, wir würden Freunde werden. Daher auch habe ich Sie an einem Orte empfangen, mit dem ich sonst geize.«

»Ja, Robert,« fiel der Graf munter ein, »du kannst dir etwas darauf zugute tun, daß Madame dich sogleich in ihr Sanktissimum zuließ, dessen Türe zwar kein Drache bewacht, wohl aber, wie du gesehen, die essigblickende Jungfer Gertrud, ein höchst ehrsames Stück Hausrat.«

Robert brachte ziemlich zusammenhangslos etwas von ehrendem Vertrauen vor und wie ihm sein Empfang in diesem Gemach ein gutes Vorzeichen schiene.

Seine Verlegenheit machte auch die junge Frau befangen, und so spann sich die Unterhaltung ziemlich dürftig noch eine Weile fort, bis der Graf sagte, er wolle nun seinem Sohn die Zimmer zeigen, die er im Obergeschoß des Mittelbaus für ihn habe einrichten lassen. Robert könne gerade noch vor dem Diner davon Besitz nehmen.

Als die Herren gegangen, verharrte die Gräfin einige Minuten unbeweglich auf der Stelle, wo sie dem jungen Mann ihre Abschiedsverbeugung gemacht hatte. Dann atmete sie tief auf und wandte sich nach dem offenen Türfenster, als müßte sie frische Luft schöpfen. Im Vorübergehen streifte ihr Blick das Bildnis über dem Schreibtisch, und sie blieb nachdenklich davor stehen.

»Seltsam!« sagte sie leise. »Mir kommt vor, Robert gleiche dem unglückseligen alten Wippo da. Aber es ist wohl nur eine Phantasie.«

In ungewöhnlicher Bewegung ging sie ein paarmal das Zimmer auf und- ab und hierauf rasch in das Vordergemach.

»Gertrud,« sagte sie zu der alten Dienerin, welche dort mit einer Stickerei am Fenster saß, »laß mir Berdoa schnell den Schlüssel zum Ahnensaal vom Hausmeister holen.«

Gertrud gehorchte, konnte sich jedoch im Weggehen nicht enthalten, einen Blick besorgten Erstaunens auf das Gesicht der Herrin zu werfen, welches sonst das Gepräge stiller Resignation trug, jetzt aber von großer Aufregung zeugte.

Der Ahnensaal, das eigentliche Prunk- und Festgemach des Schlosses, nahm fast den ganzen Mittelstock des Hauptgebäudes nach dem Garten zu ein. Er führte seinen Namen von dem Umstand, daß ihm der Erbauer des Schlosses unter anderen Bestimmungen auch die gegeben hatte, die Familienbilder zu beherbergen. Man sah da in zwei langen Reihen die Porträts aller männlichen und weiblichen Mitglieder des Hauses Wippoltstein, soweit es überhaupt Bilder von denselben gab. Zwei mächtige Flügeltüren am östlichen und westlichen Ende gewährten den Zutritt in den großen, hallenden Raum. Kam man durch den östlichen Eingang, so hatte man die männlichen Porträts zur Rechten, die weiblichen zur Linken. In chronologischer Ordnung zogen sich beide Bilderreihen von der Ostseite zur Westseite hinab, aus sagenhafter Vorzeit in die Gegenwart hereinreichend. Die vier jüngsten der männlichen Bilder gehörten dieser schon ganz entschieden an. Das vierte in der Reihe stellte einen Mann dar in der Uniform eines kaiserlichen Feldmarschall-Leutnants aus der den napoleonschen Kriegen unmittelbar folgenden Periode. In abwärts steigender Folge hing diesem Bild das eines fünf- oder sechsjährigen Knaben zur Seite, mit bleichen, eingefallenen Wangen, Todesmattigkeit in den großen, blauen Augen. Dann folgte das Bild des in prächtigem Hofkleide gemalten Grafen Nepomuk, und zuletzt kam das seines Sohnes, zu welchem Robert vor drei Jahren gesessen, in den ersten Tagen, wo er die phantastisch kleidsame Uniform eines Husarenoffiziers trug. Diesem Bilde gerade gegenüber hing an der entgegengesetzten Seite des Saales das der Gräfin. Sie war im Brautkleid dargestellt, den Myrtenkranz in den Haaren, mit der harmlosen Lebensfreudigkeit eines Mädchens von achtzehn Jahren aus dem Rahmen hervorblickend.

Die Gräfin betrat den Saal durch die östliche Türe und ging rasch zwischen den Bilderreihen hin. Dann wandte sie sich zuerst linkshin und blieb vor ihrem Porträt stehen.

»Ja,« sagte sie vor sich hin, »so sah ich in die Welt, so fröhlich und wohlgemut – damals. Und,« setzte sie mit einem Seufzer hinzu, »es ist seitdem nur zwei Jahre her.« Hierauf durchkreuzte sie den Saal und fand sich, mit niedergeschlagenen Augen gehend, plötzlich dem Bild ihres Gemahls gegenüber. Dann wandte sie sich mit einer Gebärde der Verachtung, fast des Abscheus zur Seite und heftete ihre Blicke auf das Porträt Roberts.

Lange und fest sah sie das Bild an und flüsterte dann in sich hinein:

»Der Maler hat ihm nicht geschmeichelt, nein! Oder – er ist schöner geworden inzwischen.«

Und wieder sah sie das Bild an, bis ihr vorkam, das kecke Jünglingsauge lebe und ruhe mit brennendem Ausdruck auf ihr.

Sie senkte den Kopf, bedeckte mit den Händen das hocherrötende Antlitz und verließ langsam und ohne sich umzusehen den Saal.


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