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Der Dichter, dessen Werke hier zum erstenmal zu einer Auswahl größeren Umfanges verbunden werden, hat ein merkwürdiges Schicksal gehabt: er ist nach dem Durchbruch seines eigentlichen inneren Berufs plötzlich aus völliger Einsamkeit unter anerkennende, ja bewundernde Genossen und Freunde gekommen, hat hohen Ruhm erworben und genossen und ist dann wiederum als ein halb Vergessener dahingegangen, nach seinem Tode aber selbst denen, die noch mit ihm gelebt hatten, fast völlig aus dem Gesichtskreise verschwunden. Seine Dichtungen werden nun ihre eigne Flugkraft aufs neue zu beweisen haben und wohl auch beweisen können – nicht nur, weil wir die Jahrhundertfeier der Siege durchlebt haben, die er besungen hat, sondern weil in diesen Sängen ein eigentümlicher persönlicher Ton erklingt, den kein anderer so gefunden hat.
Christian Friedrich Scherenberg stammte aus einer künstlerisch reichbegabten Familie. Unter seinen Geschwistern war einer, Hermann, Maler, unter seinen Neffen einer Schauspieler und Theaterdirektor, ein zweiter, Ernst Scherenberg, Dichter, eine Nichte Malerin. In dem Geschlecht des Vaters ist wohl freilich diese Kunstneigung von Haus aus nicht heimisch gewesen; die Scherenbergs stammten von einem westfälischen Hofe und waren ursprünglich eine Bauernfamilie, die ihren Stammbaum bis ins Jahr 1477 zurückführen kann. Erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts ist ein Scherenberg nach Stettin gewandert und dort Kaufmann geworden, wie es auch Christian Friedrichs Vater, Johann Friedrich, gewesen ist. Durch die Mutter aber kam ganz neues Blut in die Familie, nämlich französisches, so daß Scherenberg wenigstens zur Hälfte derselben Abkunft ist wie so manche deutsche und im besondern preußische Dichter – Fouqué, Chamisso, Alexis, Fontane vor allem. Auguste Courian stammte aus einer jener Flüchtlingsfamilien, die der Große Kurfürst nach der Aufhebung des Edikts von Nantes mit ebenso gütiger wie kluger Gastlichkeit in seinen Landen aufnahm, und die dann auf verschiedenen Gebieten starke und feine Kräfte entfalteten. Als zweiter Sohn dieser Ehe ward Christian Friedrich am 5. Mai 1798 zu Stettin geboren, wo er später mit seinem älteren, in der Schlacht von Dennewitz gefallenen Bruder das Gymnasium besuchte. Als dieser Bruder 1813 als Freiwilliger unter die Waffen trat, kam Christian Friedrich als Schreiberlehrling zu einem Rechtsanwalt nach Stepnitz bei Stettin; doch kehrte er aus dieser Lehre bald wieder auf die Schule der pommerschen Hauptstadt zurück, dieselbe Anstalt, die später ein anderer Stettiner Dichter, Hans Hoffmann, besucht hat. Der alte Scherenberg war inzwischen nach Swinemünde übergesiedelt und trat dort später mit den Eltern Theodor Fontanes in freundlichen Verkehr; in diesen Jahren nach den Kriegen müssen aber seine Verhältnisse nicht die besten gewesen sein, zumal da der Kindersegen des Hauses sehr groß war: der Dichter hatte fünf rechte Geschwister, zu denen nach dem frühen Tode der Mutter noch vier aus des Vaters zweiter Ehe mit Henriette Villaret, gleichfalls einer Kolonistin, traten. So stellte sich Christian Friedrich früh auf eigne Füße und ging nach Berlin, um sich dort zuerst als Kaufmann zu versuchen, dann aber ganz bewußt auf den Schauspielerberuf vorzubereiten. Die Anregung hierzu gewann er außer durch den eignen Zug zur Kunst durch die Freundschaft mit seinem Stettiner Landsmann Friedrich Wilhelm Porth, der in der Tat ein ausgezeichneter Darsteller wurde und als Professor der Schauspielkunst und gefeiertes Mitglied des Dresdener Hoftheaters gestorben ist. Aber Scherenberg gab den Gedanken an diese Laufbahn rasch wieder auf und strebte lieber danach, als dramatischer Dichter auf die Bühne zu kommen. Der noch von Weimar her berühmte Spielleiter und Schauspieler Pius Alexander Wolff, der damals am Berliner Königlichen Schauspielhause wirkte, fand die (später verlorengegangenen) dramatischen Arbeiten Scherenbergs verheißungsvoll, verwies ihn aber zunächst auf die praktische Bühnentätigkeit und empfahl ihn an das Magdeburger Stadttheater, wo Christian Friedrich in der Tat im Anfang des Jahres 1819 als sogenannter jugendlicher Liebhaber eintrat. Er verlobte und verheiratete sich im Jahre 1821 mit Karoline Hoffmann, muß aber als Schauspieler wenig Erfolg gehabt und wenig innere Befriedigung empfunden haben; denn bald nach der Vermählung bemühte er sich wieder, im kaufmännischen Beruf einen Platz zu finden, gelangte aber statt dessen zu einer ganz andern und sehr eigentümlichen Tätigkeit. In Magdeburg lebten die Donataires, Männer, denen unter französischer Herrschaft frühere preußische Staatsgüter, und zwar mit notgedrungener Einwilligung der preußischen Verwaltung, überwiesen worden waren. Diese Donataires wurden aber von Preußen nun nicht mehr als rechtmäßige Eigentümer der Liegenschaften anerkannt und führten deshalb einen langwierigen Rechtsstreit mit der preußischen Regierung. Rechtsvertreter dieser Fremden hatten Scherenberg an einer Magdeburger Wirtstafel kennengelernt und zogen den schönen, welt- und redegewandten Mann als Sekretär in ihren Dienst, in den er noch im Jahre seiner Eheschließung eintrat. Als im Jahre 1832 der Rechtsstreit zu Ende gegangen war, ernährte sich Scherenberg eine Zeitlang durch Lieferungen für das Heer, gab aber bald alles und den Wohnsitz in Magdeburg auf, weil seine Ehe tief unglücklich geworden war und im Jahre 1838 zunächst tatsächlich getrennt wurde; die rechtliche Scheidung erfolgte später. Beide Gatten hatten sich, jung und unerfahren, zu rasch zum Ehebunde entschlossen, dem eine dauerhafte Wärme infolge ganz entgegengesetzter Neigungen und Anlagen nicht beschieden war. Scherenberg überließ seiner Frau sein ganzes Vermögen und zog mit seinen Kindern nach Berlin, wo er sich mit dem elfjährigen Sohne Julius, der sechzehnjährigen Karoline und der kaum geborenen Auguste in der Bendlerstraße einmietete; der älteste Sohn, Theodor, war früh gestorben.
Die Bendlerstraße lag damals noch nicht mitten im voll angebauten Westen Berlins, sondern am äußersten Rande der noch so sehr viel kleineren Stadt. Und hier wiederum, in einem kleinen Hause am Tiergarten, wohnte Scherenberg in denkbar engster Beschränkung, in zwei untapezierten, im Winter sehr kalten Stuben, für die die Kinder im Tiergarten Reisig sammelten. Paul Lindau hat dies Leben in seiner Erzählung »Toggenburg« (1882) novellistisch geschildert. In solcher Einsamkeit und Not aber brach endlich die wirkliche Künstlernatur Christian Friedrich Scherenbergs durch, und er schrieb Gedichte, wenn die Nachhilfestunden und die gelegentliche Tätigkeit als Abschreiber und Bittschriftenhersteller vorüber waren; für diese Berufsarbeit, wenn man es so nennen will, ward er noch dazu häufig nicht in barem Gelde, sondern mit Nahrungsmitteln, zumeist Kartoffeln, bezahlt. Als aber einst für eine größere Anzahl von Stunden gerade zu Ostern eine reichlichere Ablohnung erwartet wurde, brachte der Schüler als besondere Freude eine Lerche im Bauer dar, die freilich der Dichter am Ostermorgen dem ungebundenen Leben zurückgab. Vgl. das Gedicht »Mein Ostermorgen 1844«, S. 83.
Eine Wendung in den äußeren Verhältnissen Scherenbergs trat ein, als er dem Hofschauspieler Louis Schneider (1805–78), den er gar nicht kannte, eine Anzahl seiner Gedichte und Dramen überreichte. Schneider war von dem Gelesenen geradezu begeistert und schlug Scherenberg vor, ihn bei nächster Gelegenheit in den »Tunnel über der Spree« zu begleiten und dort seine Gedichte zum besten zu geben.
Der »Tunnel über der Spree« stand zu jener Zeit in seiner ersten Blüte. Er war im Jahre 1827 von dem damals in Berlin lebenden Wiener Humoristen M. G. Saphir gegründet worden, jetzt aber längst als Berliner Sonntagsverein ein Dichterbund, der sich Sonntags nachmittags an verschiedenen Stellen versammelte, zuletzt im Café Belvedere, das damals neben dem Opernhaus und der Hedwigskirche lag. Seinen merkwürdigen Tunnelnamen verdankt der Verein einem Berliner Witz, der in dem Bundeslied Rudolf Löwensteins (1819-91) nachklang, wo es hieß:
»Zu London unter der Themse
Der mächtige Tunnel liegt,
Der Strom, scheu wie die Gemse,
Hin über die Tiefe fliegt«
– und dann der berühmte Brunelsche Tunnel unter der Themse diesem leichten Gebilde der Künstlerlaune, dem »Tunnel über der Spree«, gegenübergestellt wurde. vgl. Scherenbergs Gedicht »Der Tunnel«, S. 28. Das Leben der heitern Gesellschaft bewegte sich in festen Formen, über die der Vorsitzende, das angebetete Haupt des Tunnels, mit seinem Eulenzepter wachte; die Kritik, die hier geübt wurde, war scharf – von fünf vorgelesenen »Spänen« erhielten immer vier das vierte Prädikat »Verfehlt«. Der Schriftführer hatte die Aufgabe, in der nächsten Sitzung über die vorige protokollarisch zu berichten. Unter den Dichtern, die in den vierziger und fünfziger Jahren im Tunnel aus und ein gingen, waren Theodor Storm und Franz Kugler, Paul Heyse und Bernhard v. Lepel, Hugo v. Blomberg und Heinrich Seidel, vor allem aber Theodor Fontane (1819-98); dieser hat nicht nur den Tunnel und sein Leben in meisterhaften Schilderungen für die Dauer festgehalten, sondern auch Christian Friedrich Scherenberg ein glänzendes lebensgeschichtliches Denkmal gesetzt in dem zuerst 1885 erschienenen Werke »Christian Friedrich Scherenberg und das literarische Berlin von 1840 bis 1860«, einem Buch, dem auch diese Darstellung das meiste dankt. Neben den Dichtern standen Maler und Bildhauer wie Adolf Menzel, Hermann Stilke, Theodor Hosemann, Wilhelm Wolff, Friedrich Drake, von dem eine Büste Scherenbergs herrührt. Und da jeder im »Tunnel« nicht bei seinem bürgerlichen, sondern mit einem Übernamen genannt wurde, konnten zu den Künstlern ganz anders geartete Kunstliebhaber treten: gewordene und werdende hohe Beamte, wie die späteren Minister Heinrich v. Mühler und Heinrich v. Friedberg, der Kammergerichtsrat Wilhelm v. Merckel, selbst Erzähler, und Männer, die in zwei Lagern standen, wie Otto Gildemeister, der sich ebenso als Meisterübersetzer wie als hanseatischer Staatsmann bewährt hat.
In diesen übermütigen, aber scharf kritischen Kreis trat im September 1840, durch Louis Schneider (Übername: Campe, der Karaibe) eingeführt, Christian Friedrich Scherenberg; Mühler war angebetetes Haupt, Friedberg Schriftführer. Scherenberg las vier Gedichte: »Der Feind«, »Der gestrandete Sklavenhändler«, »Der Leuchtturmwächter« und »Fischers Heimbucht«, und errang einen außerordentlich starken Erfolg. »Der Leuchtturmwächter« und »Fischers Heimbucht« sind in diese Sammlung aufgenommen. Den »Gestrandeten Sklavenhändler« hat Scherenberg selbst nicht in seine Sammlung hineingebracht, und »Der Feind« steht nicht auf der Höhe der übrigen Gedichte.
Am 17. Januar 1841 ward Scherenberg dann förmlich in den »Tunnel« aufgenommen und mit dem Namen Cook belehnt. Ein besonders unterhaltendes Mitglied ist er nicht immer gewesen; Paul Heyse (geboren 1830), der zu Ende der vierziger Jahre in den »Tunnel« trat, schreibt von ihm:
»Und neben ihm schwieg stundenlang
Der Mann, der Waterloo besang.«
Aber Scherenberg war durch seine nun in die Reife tretende Dichterkraft, durch die immer wieder bewunderte Eigenart seiner Gaben, durch sein liebenswürdiges und mildes persönliches Wesen jahrzehntelang das am meisten geliebte und bewunderte Glied der Gesellschaft, zumal nachdem er Dichtungen wie den »Verlorenen Sohn« dargebracht hatte.
In den äußeren Verhältnissen Scherenbergs trat jetzt eine erhebliche Besserung ein, und zwar vornehmlich durch die Bemühungen Heinrich Friedbergs (1813-95), der damals Staatsanwalt in Berlin war, und seiner Gattin. Sie zogen Scherenberg in ihr Haus, verschafften ihm literarische Aufträge als Korrektor an einer militärischen Zeitschrift. Schneider sorgte dafür, daß er für einen Bühnenverlag französische Stücke zur Übersetzung erhielt, die dann freilich Frau Amalie Friedberg gelegentlich (ohne sein Wissen) für den Dichter anfertigte, der sich an den Zwang solch regelmäßiger Tätigkeit nicht mehr recht gewöhnen mochte. Vor allem aber verschaffte Friedberg Scherenberg einen Verleger für seine Gedichte, die schon zu Weihnachten 1844 bei Th. Chr. Fr. Enslin erschienen und seitdem wiederholt in vermehrten Ausgaben aufgelegt wurden; die vierte und letzte ist 1869 bei A. W. Hayns Erben in Berlin erschienen, mit denen der Dichter inzwischen in Verbindung getreten war.
Im Herbst 1845 las Scherenberg dem »Tunnel« sein erstes Schlachtenepos »Ligny« vor. Und wenn sich auch die Hörer gegenüber dieser ganz neuen Art von Dichtung zuerst in einiger Verlegenheit befanden, so errang er damit doch in Berlin und Preußen überhaupt seinen ersten nachhaltigen Erfolg, als im Sommer 1846 durch Schneiders Vermittlung Hayn das Werk in Buchform herausgebracht hatte.
Freilich wurde der Ruhm dieser Dichtung, der vor allem von soldatischen Kreisen verkündet wurde, bei weitem übertroffen durch den von »Waterloo«, das drei Jahre später erschien und schon vor dem Druck durch Louis Schneider bei Hofe vorgelesen wurde, wie denn auch andere Rhetoren und Rezitatoren Scherenbergs Verse durch Deutschland trugen, unter ihnen vornehmlich Julius Schramm. Der König Friedrich Wilhelm IV. und die königliche Familie waren durch die vaterländische Dichtung ergriffen, und der Prinz von Preußen, der spätere Kaiser, schrieb am 4. März 1849 an Scherenberg: »Mit bestem Dank und größter Freude habe Ich Ihr wunderbar schönes Gedicht ›Waterloo‹, Mein lieber Herr Scherenberg, empfangen. Es enthält so viel patriotische Anklänge neben seinem dichterischen Werte, daß sein Erscheinen in diesem Augenblick doppelt erfreulich ist.« Und ähnliche Anerkennungen von anderer Stelle blieben nicht aus, zumal da Scherenberg inzwischen in dem Württemberger Adolf Widmann (1818–78), einem eigenartigen Erzähler und Politiker, und dem Schweizer Heinrich v. Orelli (1815–80), einem Kunsthistoriker und Ästhetiker, neue Freunde und Bewunderer gefunden hatte; beide waren Tunnelbrüder. Orelli, der gelegentlich in Scherenbergs Abwesenheit sein Haus hütete, hat ihm eine eigne kleine Schrift gewidmet: »Charakteristiken zur Kulturgeschichte der Gegenwart. Erstes Heft. Die vaterländische Richtung in der Kunst und schönen Literatur unserer Zeit, mit Bezug auf Scherenberg und Bleibtreu« (Berlin 1860). Auch zu Theodor Fontane kam Scherenberg jetzt in nähere Beziehungen, namentlich durch den gemeinsamen Freund Bernhard v. Lepel (1818–85), auf dessen Stube in der Kaserne des Kaiser-Franz- Gardegrenadier-Regiments die beiden oft zusammen waren. Ja, Scherenberg vertraute damals (1849–50) Fontane die zweite Auflage seiner Gedichte zur Feile und Durchsicht an.
Trotz der Auszeichnung durch den Hof und den Bemühungen der Freunde lebte Scherenberg wiederum in knappen, ja manchmal bedrängten Verhältnissen; er hatte sich im Jahre 1847 zum zweitenmal, mit Henriette Henschler, verheiratet und war im Jahre 1848 Vater einer Tochter, Marie, geworden. Immerhin war ihm eine kleine Stellung als Bibliothekarassistent im Kriegsministerium übertragen worden, die der Kriegsminister, Feldmarschall v. Boyen, ihm auf Verwendung des Königs verschafft hatte; sie wurde mit 20 Talern monatlich bezahlt. Aber dieses Ämtchen gestaltete sich recht unerquicklich, als der Erzähler Heinrich Smidt (1797–1867), auch ein Tunnelgenosse, als Bibliothekar Scherenbergs Vorgesetzter wurde und es sich zur Aufgabe machte, dem Dichter gegenüber nach Möglichkeit den Beamten und Vorgesetzten zu spielen. Scherenbergs Volkstümlichkeit wuchs in jenen Jahren immer mehr; sie erwies sich unter anderm in der Bitte zahlreicher junger Dichter, die in seinen Spuren gingen, ihnen Vorreden für ihre Werke zu schreiben; und er lehnte, genau wie später Liliencron, solche Anliegen niemals ab. Neben der behaglichen und liebevoll geführten Häuslichkeit und dem Zuspruche der Freunde war ihm die weitere Förderung durch das königliche Haus ein Trost. Seine Dichtung »Leuthen« (1852) wurde wiederum durch Schneider, mit dem sich Scherenberg später leider durch Zwischenträgereien verfeindet sah, bei Hofe vorgelesen, und die Vorlesung wurde auf Befehl des Königs auf einer königlichen Rheinreise vor allen Generalen des rheinischen Armeekorps wiederholt. Dazu erhielt Scherenberg ein Ehrengeschenk von 20 Friedrichsdor von Friedrich Wilhelm IV. und endlich auf Verwendung Friedbergs, der damals als Oberstaatsanwalt in Greifswald lebte, und des Grafen Bismarck-Bohlen auf drei Jahre (1854–56) eine Pension von je 300 Talern. Im Jahre 1855 aber wurde er, wiederum durch Bismarck-Bohlens Vermittelung, eingeladen, seine 1854 erschienene Dichtung »Abukir, die Schlacht am Nil« in Charlottenburg den Majestäten selbst vorzulesen.
Ganz im Gegensatz dazu erfreute Scherenberg den Begründer der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle, während einer langwierigen Krankheit dadurch, daß er ihm in seinem Hause in der Bellevuestraße vor einem größeren Kreise aus seiner nie vollendeten Dichtung »Franklin« vorlas und durch die Schilderung der Eiswelt um den Polarfahrer die Zuhörer die überheiße Luft des Krankenzimmers vergessen ließ. Unter den Hörern des Schlachtendichters war auch der Schlachtenmaler Georg Bleibtreu und Scherenbergs letzter, ihm sehr zugetaner Verleger Franz Duncker, zu dem er seit »Leuthen« in Beziehung stand.
Damit aber hatte Scherenberg die Höhe seines Ruhmes überschritten, zumal da er über ein Jahrzehnt kein Werk mehr veröffentlichte. Erst 1868 erschien sein letztes vollendetes Epos »Hohenfriedberg«. Noch einmal trat er in den Vordergrund, und ihm ward der Lebensabend gesichert, indem der Kronprinz Friedrich Wilhelm und die Kronprinzessin Viktoria ihm auf Lebenszeit eine Pension aussetzten, zu der König Wilhelm eine zweite fügte; sein drückendes Amt hatte er aufgeben dürfen.
Aus der Bendlerstraße war Scherenberg noch weiter hinaus an das Ende der Potsdamer Straße, dicht am Botanischen Garten, gezogen, und hier lebte der Dichter mit seiner Gattin und seinen beiden Töchtern Auguste und Marie und in naher Freundschaft mit dem Schöneberger Schloßprediger Frege und dem Pfarrer a. D. Ernst, seinem Hausgenossen. Aus dem »Tunnel« war es jetzt vornehmlich der um 15 Jahre jüngere Leo Goldammer, der die Verbindung mit Scherenberg aufrecht hielt, ein eigenartiger Mensch, von Haus aus Bäcker, dann Stadtwachtmeister, und ein Dichter, der immer vergeblich um Erfolg rang, auch mit einer »Schlacht bei Sadowa« hervortrat, einer in Scherenbergschen Spuren wandelnden epischen Dichtung; sein eigentliches Gebiet war die Erzählung, und Paul Heyses Novellenschatz bewahrt zwei eindrucksvolle Proben dieser Kunst.
Im Jahre 1877 wurde Scherenberg am fünfzigjährigen Stiftungsfest des »Tunnels« noch lebhaft gefeiert, 1878 aber verbummelte der »Tunnel« den achtzigsten Geburtstag des Meisters, der nun an den Sitzungen der langsam versandenden Gesellschaft nicht mehr teilnahm. Er beschränkte sich fast ganz auf seinen Familienkreis (Marie war 1871, die Gattin 1881 gestorben), die wenigen Freunde und die Kinder einer früh verstorbenen Schwester, Emilie Schöneberg; insbesondere sein Neffe, Dr. Otto Schöneberg, nahm sich des alten Oheims liebevoll an.
Von kleinen Schlaganfällen, die ihn seit dem Ausgang der siebziger Jahre heimsuchten, erholte sich Scherenberg immer wieder, bis er am 1. September 1881 ernsthaft krank wurde; er siedelte in das Asyl Schweizerhof des Dr. Laehr in Zehlendorf über und ist hier am 9. September 1881 gestorben. Am 12. September ward er auf dem Kirchhof in Schöneberg begraben.
Über seine Person haben nahe Freunde, wie Leo Goldammer, begeistert, Theodor Fontane trotz manchen Einschränkungen doch mit wärmster Anhänglichkeit geurteilt. »Er war und bleibt«, schreibt Fontane, »ein herrlicher und entzückender Mann, der liebenswürdigsten einer, und keinen hab' ich gekannt, der in seiner keuschen und liebevollen Persönlichkeit so den Eindruck des Echtgermanischen, so den der direktesten Abstammung von Gott Baldur gemacht hätte wie er.«
Während Christian Friedrich Scherenberg in unsern neueren Literaturgeschichten zumeist nicht viel mehr als einen Achtungsplatz einnimmt, hat er bei Lebzeiten und kurz nach seinem Tode zahlreiche Beurteilungen gefunden. In der eingehenden Untersuchung Heinrich v. Orellis kommen die Gedichte bei weitem schlechter weg als die Epen. Diesen schreibt Orelli einen Ernst zu, »welcher sich von allen jenen Reizen fernhält, wodurch die Mehrzahl das alltägliche Leben genießbar zu machen pflegt«. Er nennt die Epen »gewaltige Konzeptionen« und charakterisiert den Antrieb zu ihnen folgendermaßen: »Es treibt den Dichter, auf diesem Felde ewige Gestalten zu bilden, an welchen der immer mächtiger sich erneuernde Verlauf menschlicher Schicksale sich entwickelt. In ›Ligny‹, ›Waterloo‹ und ›Abukir‹ hat Scherenberg drei solche erhabene Zeugnisse von Schuld und Fall des Menschen aufgestellt, in welchen der unerbittliche Gang der Verhängnisse von der Geschichte deutlich vorgezeichnet ist ... So setzt er das Gedicht von Waterloo mit einem Stoß auf das Riesenpendel des weltgeschichtlichen Vorgangs in Schwung, daß es hin und her kreisend die Geschicke mit sich führt und zuletzt an dem Verlaufe ihrer Triebkräfte sich erschöpft.« Orelli setzt auseinander, wie der Geist der Befreiungskriege, »innig verschmolzen mit den Errungenschaften der späteren Epochen«, in des Dichters schaffender Seele fortwirke, wie er sich durch Isolierung die jugendliche Frische gerettet habe, mit der er die Doppelaufgabe einer Schilderung von dem Sturze Frankreichs zu Wasser und zu Lande gelöst hat. Orelli findet zu rühmen, wie nirgends bei Scherenberg Raum für eine fremdartige Reflexion, für eine fremde Form sei, und nur der Drang der Bewegung, die naturalistische Seite, in den Vordergrund trete. Nicht neben Homer, Ossian und Ariost will Orelli Scherenberg stellen, weil eine in zahlreiche entgegengesetzte und verwickelte Interessen gespaltene Zeit keine Epen als Gesamtbilder des Lebens hervorbringe; vielmehr: »Die Erhebung der freien Menschennatur aus Druck und Zwang, die Erhebung zu glänzenden Siegen, der Blick auf jähen Sturz geben Scherenbergs Dichtungen einen lyrischen Charakter und stellen ihn neben Äschylos und Pindar.«
Gottfried Kinkel, der als politischer Dichter auf der entgegengesetzten Seite stand, hat Scherenberg in den fünfziger Jahren den einzigen nennenswerten deutschen Dichter genannt, und Scherenbergs engerer Landsmann, Robert Prutz, überhaupt einer der gescheitesten älteren Literarhistoriker, hat ihn zwar mit aller Schärfe, aber doch als eine denkwürdige und merkwürdige Natur charakterisiert, wenngleich auch er das wirkliche Epos bei ihm vermißte, die plastische Ruhe, die weite Weltanschauung.
Theodor Fontane hat am Ende seines Lebens (in einem Brief an Moritz Lazarus) recht ungünstig über Scherenbergs Dichtung geurteilt, von vornherein aber den Standpunkt eingenommen, daß seine kleineren Gedichte am höchsten stehen; insbesondere hat er den »Verlorenen Sohn« nachdrücklich für eine Leistung erster Ordnung erklärt. Vor allem aber hat Fontane Scherenberg den großen Vorzug der Originalität zugeschrieben und darin seine wesentliche Bedeutung gesehen. Und hierin liegt in der Tat die nicht gut zu übersehende Stellung Scherenbergs in unserer neueren Literatur. Als er auftrat, galt den Zeitgenossen einstweilen der vaterländische Gedanke, das preußische Gefühl in seinen Dichtungen am meisten; und das war etwas in einer Zeit, die das preußische Königtum soeben tief gedemütigt hatte. Wer ihn jetzt, von solchen Zeitempfindungen frei, betrachtet, wird ihn jedoch nicht nur um deswillen, so gewiß Stoff und Form nicht zu trennen sind, herausheben müssen. Es lag in Scherenberg eine neue und eigenartige Kraft, die Orelli mit dem Wort »Naturalismus« und Adolf Stern mit »beschränktem und einseitigem Realismus« nur unvollkommen bezeichnen; man wird hier vielmehr schon von einem Impressionismus in durchaus neuzeitlichem Sinne sprechen dürfen. Fontane hat gesagt, daß Chamisso der einzige neuere Dichter sei, mit dem Scherenberg Ähnlichkeit gehabt habe – die Ähnlichkeit ist richtig erfaßt; aber Scherenberg steht nicht nur mit Chamisso auf einer Linie. Sie haben vielmehr beide ein Element, das dem französischen Dichter Béranger gleichfalls in starkem Maße eigentümlich ist, die unbekümmerte Neigung zur Darstellung des Überraschenden, Starken, ja Grellen. Auch das leichte Talent des Freiherrn Franz v. Gaudy, der mit Chamisso Béranger übersetzt hat, versuchte sich in dieser Art, und vollends August Kopisch, ein Vorläufer der Tunnel-Dichtung, mit seinen holzschnittmäßigen Versgeschichten aus preußischer Zeit und Vorzeit, ist auch eine Art Vorläufer Scherenbergs, der sich wiederum in manchen seiner kleineren Gedichte mit Ferdinand Freiligrath berührt, wenn der in wüstenhafte Fernen schweift und dort seine Phantasie sich ergehen läßt. Scherenberg aber vollendet als erster in epischer Form, wenn auch noch nicht in der höchsten epischen Form, diesen Drang zu eindrucksvoller Darstellung erregter Szenen, und er baut oft in seinen Epen alles meisterlich auf bis zu der höchsten Höhe, bis zum tiefsten Sturz. Ein Bild springt – man darf das kühne Gleichnis wagen – dem andern oft genug auf den Nacken, aber wie sie dahinstürmen, regen sie das Gefühl auf und halten die erregte Empfindung unausweichbar fest.
Freilich blieb Scherenberg mit dieser Art von Darstellung allein, wenn er sich auch gerade mit mancher älteren Dichtung Theodor Fontanes, des in der Form bei weitem Feineren, berührte. Aber es führt von ihm wieder eine deutliche Spur zu einer neupreußischen Dichtung hinüber. Denn Scherenberg war in der Tat ein durch und durch preußischer Dichter, wie er denn auch in seinem Leben kaum über die Grenzen Preußens hinausgekommen ist. Wohl empfand er deutsch, klagte schmerzlich darüber, daß das Vaterland nicht ein kräftiger Eichbaum, sondern nur ein Buscheichbäumchen sei:
»Wann wirst du, graues Land, einst mündig werden,
Da dir's in tausend Jahren nicht gelungen?«
Doch ist sein Ton der des Sohnes eines Soldatenstaates, und er dichtete aus innerer Berufung in den aufreizenden Klängen, die oft genug an die Musik marschierender oder zum Sturm schreitender Truppenmassen erinnern. Als der nationalen Einigung von 1870/71 späte dichterische Früchte reiften, kurz nachdem Scherenberg gestorben war, kam die Linie deutlich wieder zum Vorschein, die von dem ganz berlinischen Chamisso über diesen Preußen weiterführte: in Ernst v. Wildenbruchs Schlachtenepen, in seinen unbefangen hingesungenen Balladen und Liedern, und schließlich in dem größten neueren impressionistischen Dichter, in Liliencron. Heinrich v. Orelli hatte den Schlachtenmaler Georg Bleibtreu mit Scherenberg in Vergleich gestellt; Georg Bleibtreus Sohn, Karl Bleibtreu, nahm Scherenbergs Thema der Schlachtschilderung in bewegter Prosa wieder auf, und Detlev v. Liliencron vollends erreichte darin die Meisterschaft, nicht nur in den Kriegsnovellen, sondern auch in seinen Versen, vor allem in dem kunterbunten, doch künstlerisch strengen Epos »Poggfred«. Man ist versucht, Scherenberg in vielem geradezu einen künstlerisch weniger bedeutenden und künstlerisch weniger erzogenen frühen Liliencron zu nennen. Und der »Tunnel über der Spree« hat mit richtigem Gefühl diesen Meister so hoch gestellt, weil die in ihrem Grundton ganz preußische Dichtergesellschaft in der Tat in ihm eine Art Vollendung erblicken durfte: eine frührealistische, episch-lyrische Dichtung von noch nicht ganz reinem, aber fortreißendem und durchaus norddeutschem Klang.
Scherenberg war ein unermüdlicher Arbeiter, der sich, wie noch seine ihn überlebende Tochter bezeugte, nie genugtun konnte und unermüdlich an seinen Dichtungen feilte, zumal dann, wenn die Vorlesung, das rechte Maß jeder Dichtung, falsche Einstellung ergab. So hieß es, um eine solche Stelle zu nennen, in »Waterloo«:
»nachschifft Britannia
Auf mehr denn hundert schimmernden Palästen,
Hoch schäumt der Grund, die Kuppel fliegt, und um
Die Säule donnernd weht der Wände Marmor.«
Beim Vorlesen ergab sich die Unverständlichkeit des gewagten, ja gesuchten Ausdrucks; und jetzt heißt es:
»Nachschifft aus ihrem Nebelland
Die stolze Königin der Wikinger,
Britannia, auf hundert schwimmenden
Palästen, schäumend wogt ihr Grund, die See,
Hoch fliegen die beflaggten Kuppeln, donnernd
Um ihren Mast, die schlanken Säulen, weht.
Ein weh'nder Marmor, ihre Segelwand.«
Sein »Franklin« ist über dieser unablässigen Umformung niemals fertig geworden, und die Zahl der von Scherenberg veröffentlichten Dichtungen erscheint für sein langes Leben sehr gering.
Die »Gedichte« umfassen in der letzten Auflage nur 66 Stücke, allerdings verschiedensten Umfangs und verschiedensten Inhalts. Das kurze lyrische Gedicht gelang Scherenberg, seiner ganzen Art nach, selten – um so häufiger die kräftige, im lebhaftesten Zeitmaß schreitende Ballade, deren Meisterstück »Der verlorene Sohn« ist. Gern stellt er verschiedene Zeiten, Menschen, Lebensarten knapp und hart gegeneinander, den König und den vor dem Schloß wachenden Posten, die Jahreszeiten als Herrscher der Erde, die starrende Waffenpracht des Zeughauses und die zwischen ihr aufgebaute Gewerbeschau, den Menschen und den Strom. Fast ohne Verbindung läßt er Handlung auf Handlung, Aussprache auf Aussprache folgen; Humor gibt er selten und dann in eigentümlicher Trockenheit, auch Ironie kommt selten (etwa in dem Gedicht »Frühlingshohn«) zum Ausdruck. Aber neben den dunkeln, rasch gesteigerten Verserzählungen stehen dann ein paar liebenswürdige Strahlen kindlicher Naturbetrachtung, wie in dem Gedicht »Mein Ostermorgen 1844«. Soldatisches Treiben im Biwak oder auf dem Heereszug wird gern abgeschildert; davon sind die Epen ganz und gar erfüllt.
Das älteste und an Umfang geringste »Ligny« schildert den Sieg Napoleons über Blücher am 15. Juni 1815. Tastend kommt hier noch manches heraus, halbe Bilder fehlen nicht, Anläufe werden gemacht und der Sprung nicht vollführt; aber nach einer knappen Einführung wird gleich mitten in die Sache gegangen und die Aufstellung der Franzosen und der Preußen einander gegenüber gegeben, rasch der Höhepunkt der Schlacht erreicht, der zweite Höhepunkt, Blüchers Verwundung und Sturz, blitzt auf, und am Schluß folgt ein für den Stil des Ganzen zu starker Ausblick auf Waterloo.
Es war ein Wagnis, diese zweite und größere Schlacht vom 18. Juni, den Sieg der Preußen und Engländer über Napoleon, episch zu schildern, nachdem Scherenberg erst wenige Jahre vorher Ligny dargestellt hatte. Aber es mochte den Dichter wohl reizen, gerade Ligny noch einmal, jedoch in einem weit größeren Rahmen, vorzuführen, und er hat trotz gelegentlicher wörtlicher Gleichheiten alles aufs neue vertieft und durchgearbeitet. Da heißt es in »Ligny«:
Dreimal schon brandete der Feind heran,
Doch dreimal brach sein ehernes Geflut
Sich an dem Feuerdamm der Batterien.
Geschütz vor auf Geschütz! – Und brüllend packen
Die ehernen Löwen sich mit heißer Tatze,
Und kahl und brandig wird's, wohin sie greifen;
Und Reihe rückt an Reihe, und endlos rollend
Aus bleicher Wolke streicht der trockne Regen,
Und feucht wird's, wo er fällt – doch ohne Wanken
In heißer Traufe dauern aus die Preußen.
Da plötzlich rauscht's, da bricht's durch Heck' und Zweig,
Da klettert's über Mauer und Plank' – und knatternd
Am Leib der Preußen sitzt der flinke Feind.
In »Waterloo« aber wird dieselbe Gefechtslage so erzählt:
Schon dreimal brandete versiegend her
Die Flut am heißen Damme seiner Feuer:
Geschütz vor auf Geschütz! – Und aus dem Wald
Der Bajonette vor, entgegen aus
Der Hölle Ligny packen heulend sich
Die ehernen Löwen mit der heißen Tatze.
Erstürmt den Friedhof! Und durch Heck' und Zweig
Herrauscht's, und über Plank' und Mauer knatternd
Am Leib den Preußen sitzt der Voltigeur.
Abschütteln sich die starren Reihen auf
Gut preußisch, und was fällt, bleibt liegen bis
Zum Jüngsten Tag – gesegnet wird der Kirchhof!
Wir sehen, wie Scherenberg in der zweiten Fassung die sprachlich unschöne Wendung »sein ehernes Geflut« durch das einfache »die Flut« ersetzt hat. Dann wieder hat er die umständliche Schilderung: »Da klettert's über Mauer und Plank' – und knatternd« zusammengezogen in das einheitliche Bild: »Und über Plank' und Mauer knatternd« und schließlich den »flinken Feind«, der ihm zu allgemein war, durch den »Voltigeur« ersetzt. So ist er überall auf diesem Wege weiterer Vergegenständlichung vorwärtsgeschritten. und hat dabei ferner in ganz anderem Maße als vorher die weltgeschichtliche Größe der Kämpfe mitsprechen lassen, die schon in dem prachtvollen Anfang von »Waterloo« voll zum Ausdruck kommt: zuerst der rasche Siegerschritt des zurückkehrenden Napoleon, dann der neue Aufbruch der Preußen, der andern Deutschen, der Engländer, der Russen, der Hinabstieg nach Flandern, endlich das Aufeinandertreffen der Gegner – die Farben strömen Scherenberg nur so zu –; um so knapper dann am Schluß die Silhouette des verlorenen Napoleon vor dem Abendhimmel von Waterloo und, ohne jede Schadenfreude über den gesunkenen Feind, die Mahnung, aus der Vergangenheit für die vielleicht schwere Zukunft zu lernen.
Ganz im Gegensatz zu dem immer wieder lebhaft gesteigerten Gange von »Waterloo« steht die Erzählung von der Schlacht bei Leuthen. Schon äußerlich tritt hier fast überall der seit Uhland deutsch-herkömmliche Nibelungenvers in leichter Abwandlung an die Stelle des fünffüßigen Jambus – man denkt unwillkürlich an die fast gemütliche Art, in der Kopisch preußische Geschichten erzählt. Hier gilt es ja nicht dem dämonischen Genius und seiner alle tiefsten Leidenschaften aufrufenden Bekämpfung, sondern Friedrich dem Großen, dem Alten Fritz, der mitten unter den Seinen, ein geschlagener Mann, dasitzt und sich nun nach allen Seiten gegen die Feinde zu wehren hat. Glänzend ist die preußisch-knappe Weise seiner Heerführer der gemächlich-läßlichen der österreichischen Generale gegenübergestellt. Wir werden nicht so stark erregt, aber wir nehmen im kleinen noch mehr Anteil.
Dafür freilich schmettert uns das See-Epos Scherenbergs, »Abukir«, wieder die vollsten Klänge erregtester Schilderung ins Gesicht. Bon ihm vor allem gilt, was Richard M. Meyer in seiner Charakteristik des Dichters sagt: »All' seine Schlachtenbilder und die Mehrzahl seiner Gedichte sind ganz auf eine Explosion gerichtet. Mit leidenschaftlicher Hast steuert er die Regimenter, die Schiffe dem Augenblick der höchsten Spannung zu.« Und zumal die Schilderung des brennenden französischen Admiralschiffs ist ein solches Meisterstück impressionistischer Kunst. Fast dreißig Jahre nach Heines lyrischen Nordseebildern bezwang hier ein Dichter in epischer Form das Meer und das furchtbarste und stärkste Leben, das sich auf ihm entfalten kann, indem er die Seeschlacht darstellte, die am 1. August 1798 der englische Admiral Nelson der französischen Flotte lieferte, und in der er diese fast völlig aufrieb.
Freilich ist hier des Gesuchten mehr als in »Waterloo«. Und vielleicht wollte Scherenberg nun in seiner letzten veröffentlichten Dichtung »Hohenfriedberg« im Sinne von »Leuthen« die Schlacht zwischen Friedrich dem Großen und dem Prinzen Karl von Lothringen am 4. Juni 1745 um so einfacher schildern. Aber schon das gewählte Versmaß, eine zehnzeilige Balladenstrophe, lag Scherenberg gar nicht; er muß sich immer wieder zum Ausdruck zwingen und hat seine früheren Dichtungen in diesem Werke nicht im entferntesten erreicht.
Scherenberg war am Ende seines Lebens fast vergessen und ist es, trotz Fontanes Werk, ein Menschenalter hindurch geblieben. Der »Tunnel«, der ihn emporgetragen hatte, war langsam eingeschlafen, wenn er auch rein äußerlich erst im Jahre 1910 zur Rüste ging und seinen reichen Schatz von Schriften und Kunstwerken durch sein letztes Haupt, Oskar Roloff, der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin übermachte. Heute sind wohl, mit Ausnahme Paul Heyses, alle Dichter dahin, mit denen Scherenberg noch gelebt hat. Seine bezeichnende und doch wieder einsame Erscheinung verdient es, dieser Vergessenheit entrissen zu werden. Nun wird er auf die meisten Leser wie etwas ganz Neues wirken, Leser, die in der engeren Welt Preußens und Deutschlands von 1840 bis 1866 nicht mehr gelebt, sondern eine andere Zeit und eine andere Dichtung als selbstverständliches Gut überkommen haben. Ich hoffe, daß sie mit mir empfinden: Hier handelt es sich nicht um eine literarhistorische Ausgrabung, sondern um ein Stück dichterischen Lebens, das man einst zu rasch beiseitegelegt hat, und das es verdient, noch einmal mitfühlend genossen zu werden. Fräulein Auguste Scherenberg in Berlin und Herrn Friedrich Fontane in Dahlem ist der Herausgeber für einige Auskünfte zu herzlichem Danke verpflichtet.