Paul Scheerbart
Immer mutig!
Paul Scheerbart

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Märchen vom blauen Hund

Der Ritter Knut Lemcke von Bullerstein hat endlich ausgeschlafen, hat gleich sein Panzerhemd angezogen, Stahlhaube auf den Brummschädel gestülpt und sein Schwert in die Hand genommen.

Mit dem rechten Fuß stößt er die Tür zum Altan grimmig auf und saugt die frische Abendluft in langen Zügen schmunzelnd ein.

Da steht er nun auf seinem Altan. Die Sonne geht drüben über'm Birkenwäldchen grade unter.

»Lange geschlafen!« sagt der Knappe und setzt den Morgenimbiß auf den Tisch – Eier, Schinken, Butter, Brot, sauren Aal und eine Kanne Moselwein.

Der Ritter ißt und trinkt und denkt an die wüste Nacht, die nun auch hinter ihm liegt.

Die Sonne geht unter – der Mond geht auf.

Der Knappe bringt ein gebratenes Huhn nebst rotem Wein und verschwindet wieder – lautlos wie ein stiller Schatten.

Knut beugt sich über die Brüstung des Altans und schaut in die tiefen, bewaldeten Abgründe; er denkt an was, vergißt es aber gleich wieder. Die Spitzen der Tannen, Fichten, Buchen, Erlen und Eichen sind tief, tief unter Knut. Der Mond bescheint die welligen Waldberge und auch die stramme Burg.

Der Ritter beißt ins Huhn und läßt die Wälder das sein, wie sie sind. Doch plötzlich hört er's bellen da unten.

»Wetter!« ruft er, »ist das nicht mein toter Hund? Der bellte doch grade so.«

Er erhebt sich und brüllt: »Hopsmajor!« – denn so hieß der Hund bei Lebzeiten.

Der Vollmond leuchtet unheimlich hell. Hopsmajor bellt – die Echos umhallen Knutens Ohr.

Der Hund kriecht langsam an der Burg empor; Knut hört's ganz deutlich. In den Hecken raschelt's, alte Ziegelsteine rollen ins Tal, und dazwischen bellt der dumme Köter.

Dem Ritter Lemcke von Bullerstein sträuben sich sämmtliche Haare, er murmelt mit großen Augen: »O Karoline!«

Jetzt ist der Hund dicht unter der Brüstung, das Gebell wird schrecklich laut, Lemcke stößt vor Schreck auffahrend mit dem linken Ellenbogen die Kanne um, und der gute Rotwein übersprudelt die Fliesen des Altans.

»Knut! Knut!«

So hört der Ritter rufen unter der Brüstung, und »Hopsmajor!« stößt er heiser hervor. Und danach sieht der Herr von Bullerstein seines toten Hundes Antlitz über der Brüstung.

»Das Tier hat sich doch stark verändert,« denkt sein Herr, »denn es ist ganz blau, ganz blau – wie Blaubeeren.«

»Nu?« brüllt der Hund finster, »wunderst Du Dich denn gar nicht, mich heute Abend im Mondenschein wiederzusehen?«

Hopsmajor, eine kräftige Dogge, legt die Vorderpfoten auf die Brüstung, der Ritter stottert: »Ich – ich wun – wundre mich nie!«

»Denn nich!« erwidert lächelnd die blaue Dogge. »Weißt Du auch, was ich jetzt vorstelle!«

»Nee!« versetzt der Lemcke, »nee!«

Zwei haarfeine Blitze umzucken den Mond – wie Eichenäste sehen sie aus.

Hopsmajor zieht die Hinterbeine nach und geht auf der Brüstung des Altans langsam auf und ab. Der Ritter reicht dem Tier den Rest des Huhns, doch der Hund winkt mit der linken Vorderpfote ab.

»Aber!« ruft der gute Knut – Hand mit Huhn sinkt in den ritterlichen Schoß.

Des Hundes rechtes Hinterbein, das auch ganz blau ist wie der ganze Hund, wird dick – und dicker – und dann immer länger – riesiglang – bis in den Himmel reicht es bald hinein – bis an die Sterne. Die Krallen kratzen an den Sternen, und dann wird das Bein wieder so, wie's war.

»Nu?« fragt der Hund, »weißt Du nu, was ich vorstelle?«

»Nee!« heißt es wieder.

Itzo wird der Kopf des Hopsmajors immer größer und dicker – so groß, daß der Ritter gar nicht mehr das ganze Tier sehen kann – bloß die große Riesenschnauze sieht er – Nichts als Schnauze! Die Schnauze drückt den Herrn Ritter an die Wand, daß der »Au!« schreit. Und da wird der Hundskopf wieder, wie er war.

Der Hund fragt abermals: »Nu?« und abermals heißt es: »Nee!« Indeß – alsdann wird der ganze Rumpf hinter den Vorderpfoten größer und dicker – so groß und dick, daß der Leib bald die sämtlichen Täler unterm Altan ausfüllt.

»Donnerwetter! So blau und so dick!«

Also Knut.

Der Hund fragt aber zum dritten Male: »Nu?« und zum dritten Male heißt es: »Nee!«

»Ich will's Dir sagen,« brüllt nun ärgerlich der blaue Hopsmajor, dessen Kopf lächerlich klein aussieht dem riesigen Sackleibe gegenüber, »ich bin – das sag ich Dir unter vier Augen – das Symbol des Vornehmen.«

»Dacht ich mir – scho – schon!« stottert der Knut, »wi – willst Du – Du mir – wei – weiter Nichts mi – mitteilen?«

Hopsmajor räuspert sich und bemerkt in distinguiertem Tonfall:

»Ich werde mich ganz klar aussprechen.«

Den Mond umzucken wieder zwei haarfeine Blitze. Knut beißt noch mal ins Huhn, ärgert sich, daß er nichts zu trinken hat, freut sich, daß dem Hunde jetzt die sämtlichen Tannen, Eichen, Erlen, Buchen und Ahorns in den Bauch picken – der Hopsmajor aber beginnt so:

»Mein lieber Freund Knut Lemcke von Bullerstein, Du bist sonst ein ganz famoser Kerl, dessen vornehme Lebensallüren mir schon während meiner gewöhnlichen Lebenszeit beträchtliche Genüsse verschafft haben. Du bist unter allen Umständen zu allen Zeiten ein wahrhaft vornehmer Mann, den man ohne Weiteres seines Umganges würdigen darf. Nimm zunächst mal eine kleine Prise!«

Der blaue Hopsmajor nimmt fix eine Schnupftabaksdose aus seiner rechten Backentasche und reicht sie seinem früheren Hausherrn. Beide schnupfen und niesen, und der Blaue fährt fort:

»Nur dann, wenn Du angetrunken bist – die Bauern sagen ›Sternhagelduhn‹ – dann bist Du so, daß man Dich nicht für ›vornehm‹ erklären kann. Mensch, merkst Du nicht, daß diese Angelegenheit höchst peinlich geworden ist? Du wirst im angesoffenen Zustande – und in diesem befindest Du Dich doch in jedweder Gesellschaft – teils zu grob und teils zu liebenswürdig. Du behältst nicht die Balance. Du drückst die größten Peter der Menschheit, die selbstverständlich ›Peter‹ niemals heißen, in ungebändigter Rührung an Dein edles Ritterherz und merkst gar nicht, daß diesen Petern Deine Rührung höchst lächerlich vorkommt, da sie von der ewigen Sehnsucht der Besoffenheit nicht die blasseste Ahnung haben. Andrerseits aber geht's wieder folgendermaßen: Merkst Du, daß Du Dich mit Deiner seelischen Entblößung lächerlich machst, so haust Du dem nächsten Besten – und das sind immer noch die Leidlichsten – ohne Scham und Mitleid ins lachende Antlitz. Und aus solchen Wutausbrüchen entstehen dann ganz alberne Mopsgeschichten, da Du nachher von Nichts mehr die blasseste Ahnung hast und oftmals in sehr wenig vornehmer Weise grade diejenigen um Entschuldigung bittest, die Du hättest verhauen sollen. Mensch, höre: Sterne verkratzen, mit der Schnauze Alles bedrängen und Sich recht breit machen – darin allein steckt das wahrhaft vornehme Wesen – das zügellose Temperament sollen Andre nicht sehen!!!

    Sauf drum hinfüro ganz allein,

    Mein lieber Lemcke von Bullerstein!«

Und es gibt einen fürchterlichen Knall, Knut springt in die Höhe – und sieht die Täler mit blauen Mondnebeln bedeckt.

In der Hand hält der Ritter noch immer das Stück Huhn, und der Altan schwimmt – Alles Rotwein!

»Stimmt!« sagt Knut Lemcke von Bullerstein.

»Gäste!« sagt devot der Knappe, der etwas verschlafen aussieht.

»Achherrjeh!« schreit dazu der arme Knut, »o Karoline!«

Der Knappe eilt davon, der Herr Ritter folgt ihm, denn die Gäste warten – er murmelt in seinen krausen Bart:

    »Sauf drum hinfüro ganz allein,

    Mein lieber Lemcke von Bullerstein!«

Wie der große Knut die Treppen runterstolpert – zum Ahnensaal – murmelt er noch:

»Na – nächstens!«

Als ich glaubte, die Herren vom Nil müßten zu Ende gelesen haben, rieb ich mir die Augen und – ja – und ich war nicht mehr im Bett – ich saß wieder wie sonst den alten Herren gegenüber.

Und der King Thutmosis sprach mit seiner sanften Stimme:

»Wir haben Deine leichten Bilder und das Märchen vom blauen Hund gelesen und freuen uns, daß Du jetzt ausgeschlafen hast.«

Ich sah die Herren etwas verdutzt an – aber sie lächelten – und das sah so verschmitzt aus – des breiten Mundes wegen. Nun – ich war wohl neugierig, jedoch ich vergaß meine Neugierde, denn mich bewegte plötzlich eine andere Sache.

»Ich möchte,« sagte ich, »über die Unsichtbaren, die uns hier bedienen, ein wenig aufgeklärt werden.«

»Du willst also,« sagte nun der Oberpriester Lapapi, »andre Erscheinungsformen der Welt kennen lernen.«

»Das ist,« erwiderte ich, »nicht so ganz richtig, daß Geister, die mit einer anderen Substanzäußerung zusammenhängen, über ihre Sphäre hinausgehen und in die unsre hineinragen – und in dieser sogar tätig sind. Diesen Zusammenhang zweier Sphären möchte ich begreifen lernen. Im gewöhnlichen irdischen Leben habe ich ein derartiges Zusammenklingen zweier Sphären wohl für möglich gehalten – aber es war mir doch im Grunde sehr rätselhaft und unwahrscheinlich. In diesem Felsenpalaste werde ich nun scheinbar eines Besseren belehrt; was mir unmöglich schien, ist hier ein Alltägliches. Also kurz gesagt: ich möchte wissen, wie die Erscheinungsformen der Welt sich zu einander verhalten.«

Dazu sagte der Oberpriester Lapapi:

»Es wäre doch allzu seltsam, wenn die unzähligen Erscheinungsformen der Welt nicht zu einander Beziehungen haben sollten. Die unendliche Zahl der Kombinationen und Permutationen wird auch in den Beziehungen der Erscheinungsformen unter einander das herrschende Prinzip sein. Also: es wird Wesen, die in mehreren Sphären zu gleicher Zeit leben, ebenso gut geben, wie Wesen, die nur in einer Sphäre leben. Es wird auch Wesen geben, die sich Letzteres bloß einbilden, dieweil sie die anderen Sphären, in denen sie sonst noch leben, für eine kurze Zeit vergessen haben. Es gibt auch hier die unendliche Zahl von Komplikationen, die auszudenken uns naturgemäß etwas schwer fällt. Vielleicht denkst Du mal darüber nach – vergiß es nur nicht!«

Der Pyramideninspektor Riboddi fragte mich hiernach, ob ich mich mal ans Fenster setzen möchte, um mir die Gebirge anzusehen.

Ich war gerne bereit dazu.

Doch der König Ramses wollte nun noch ein paar Manuskripte von mir haben.

Das berührte mich plötzlich sehr peinlich – und ich sagte schnell:

»Es liegt etwas Demütigendes in Ihrem Wunsche, Herr Ramses! Sie wissen, daß meine Arbeiten Ihnen nichts bieten können. Ich vermisse jetzt selber in meinen Arbeiten den großen Hintergrund, und es tut mir daher gar nicht mehr leid, daß sich einzelne meiner Geschichten verloren haben – den großen Hintergrund haben sie ja sämtlich nicht. Kurzum: ich kann nur sagen, daß ich mich eigentlich aller meiner Geschichten schäme. Ich sehe durchaus ein, daß nur die Poesie einen Wert hat, die von Leuten hervorgezaubert wird, denen die Grandiosität der Welt in Fleisch und Blut übergegangen ist – und die niemals vergessen, daß Alles, was wir mit unsern Sinnen wahrnehmen und durch Komposition der Sinneswahrnehmungen denken können – nur einer einzigen Sphäre angehört, hinter der unendlich viele andere Sphären stecken. Nur wer das ganz in sich aufgenommen hat, kann Kunstwerke schaffen, die der Rede wert sind.«

Nach dieser Rede erhob sich der König Ramses und sagte zu den andern Nilpferden:

»Edelste Pferde vom edelsten Nil! Hebt mich auf den Tisch, denn ich will eine Rede reden, die der Rede wert ist.«

Die sechs andern alten Herren taten, wie der Ramses bat – und er sprach nun mit beweglichen Gesten, während er eine Pincette auf jeder Vorderpfote auf und zu schnappen ließ, auf dem Tisch wie folgt:

»Edelster Onkel aus Europa! Wenn wir so denken wollten wie Du in Deiner scheinbar harmlosen Bescheidenheit zu denken beliebst, so würden wir 99% der Welt für überflüssig erklären – und mit dem letzten großen Perzent würden wir auch nicht viel anzufangen wissen. Edelster Onkel, es ist eben durchaus verkehrt, wenn wir bloß das scheinbar Edelste für wertvoll halten mögen – Alles hat seinen Wert – mindestens seinen Übergangswert. Das Edelste ist ein solches nicht, wenn es sich nicht aus einer weniger edlen Masse herausheben kann. Und außerdem sind doch die Faktoren der ganzen Wertschätzungsgeschichte nur Scheinfaktoren, nicht wahr? Was wir Dir beibringen wollen, ist doch hauptsächlich:

Schätzung der ganzen Welt. Du sollst Dich daran gewöhnen, in Allem etwas Edles zu sehen. Oh, wir wissen ja, daß du das stets gewollt hast – aber vom Wollen bis zum Können ist noch ein weiter Schritt – wohl mehrere weite. Wir wissen andrerseits sehr genau, daß Du zuweilen Diesem und Jenem aus moralischen Gründen ins Gesicht schlagen möchtest. Das tut aber doch kein gebildeter Mensch – für den gibt's eben keine Schurken. Der Gebildete haßt die Dummköpfe in keinem Falle – er weiß, daß auch Schurken bloß Schurken sind infolge Mangels an Verstand. Ein wirklich intelligenter Lump wird ein ganz anständiger Kerl sein, da nur ein Schafsgesicht einen nicht ganz sauberen Gedankengang in sich entstehen lassen kann. Und darum – entschuldige, daß ich's mit der Logik nicht sehr genau nehme – sind wir überzeugt, daß an Allen was auszusetzen ist, da es mit der Verstandeskraft der uns bekannten Lebewesen nicht vollendet aussehen kann. Denn wäre der Verstand Aller vollendet – so müßte ein Ei dem andern gleichen – was bekanntlich nicht der Fall ist. Und darum verlangen wir auch in den Kunstwerken nicht bloß die edelsten Terrassen und Dächer – sondern auch alle Stufen, die hinaufführen. Und darum – – – sind uns Deine Manuskripte durchaus nicht so überflüssig. Und Dir soll das Geschreibsel der größten Rhinozerosse auch nicht so überflüssig erscheinen. Und darum wollen wir itzo in erster Linie wieder was von Dir lesen. Hast Du nun wieder Mut? Ja? Na – da siehst Du es.«

Ich mußte lächeln, biß mir auf die Unterlippe, gab drei Sachen und ließ mich auf einen Balkon führen, um die weißen Schneekuppen der Berge zu sehen – blauen Himmel, Schatten und Sonnenschein –

Während ich allein auf dem Balkon saß, lasen die Ägypter, was ich ihnen gegeben hatte.


 << zurück weiter >>