Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Das war ein freudloses Weihnachtsfest für das unglückliche Bergheim. Graue Regenwolken zogen tief und schwer am Himmel dahin, ein heulender West warf den Regen prasselnd auf Dächer und Gassen und verwandelte die grundlosen Wege in reißende Gießbäche. Endlos dehnte sich die Nacht, und kaum hatte eine graue, trostlose Dämmerung sich durch den Wolkenhimmel gekämpft, so senkten sich schon wieder die Schatten des Abends auf Dorf und Flur. Auch auf den Seelen lag eine schwüle Atmosphäre; wie draußen die Finsternis mit dem Licht, so rangen auch in den Gemütern feindliche Mächte.

Die Wilden setzten alle Hebel an, die Christbescherung in der Schule zu stören. Der Schulz – in seiner kindischen Torheit – plauderte seinen Zusammenstoß mit dem Lehrer aus und wurde natürlich nicht wenig verlacht. Es gab auch Männer unter den Wilden, die an solchem zweideutigen Wesen des Dorfoberhauptes ernstliches Ärgernis nahmen. Um diesen übeln Eindruck zu verwischen, steuerten die Häupter eine ansehnliche Summe zusammen und verteilten sie unter ihre Anhänger mit der Bedingung, daß ihre Kinder an der Bescherung in der Schule nicht teilnehmen dürften. So fanden sich kaum drei oder vier Kinder ein, der Schein der Wachslichter schimmerte auf enttäuschten und unmutigen Gesichtern. Die Kinder hofften natürlich, die ganze Bescherung sei allein für sie bestimmt, als nun Reinhardt mit Zustimmung des Becken- und Bergbauern die Geschenke der Weggebliebenen für spätere Zeiten aufbewahrte, erregte das den Neid der Beschenkten – nach kurzem Dank rannten sie heulend nach Hause. »Lassen Sie sich das nicht anfechten, Herr Lehrer! Gut gemeint war es wenigstens, hoffentlich sieht's übers Jahr anders aus!« tröstete der Bergbauer, allein Reinhardt schüttelte traurig den Kopf. Wer mochte übers Jahr an seiner Stelle hier walten? Er dankte fast Gott, als er endlich durch die Rabennacht einsam dahinwanderte, als Regen und Hagel toll und wild auf ihn niederprasselte – das paßte zu seiner Stimmung.

In Sülzdorf kam er zur Armenbescherung. Groß war der Jubel und der Dank; aber aus Annas Augen leuchtete eine schwüle Glut, die Bäuerin saß matt im Lehnstuhl, und der Bauer war merkwürdig zerstreut und vergeßlich. Kaum hatten die Armen die Stube verlassen, da lag, ehe er noch seine Geschenke für Anna und die Patenleute auskramen konnte, das Mädchen an seinem Hals, ganz aufgelöst in Jammer und Tränen; auch die Bäuerin begann laut zu schluchzen, und der Hausherr trommelte finster an die Scheiben, an denen draußen der Regen in Strömen niederrann. »Setz' dich, Fritz!« sagte er auf Reinhardts bestürzte Frage. »Was wir beide lange befürchteten, das ist nun eingetroffen! Der Herrnbauer, mein Schwager, ist zum Jockenhannes übergegangen und hält öffentlich zu ihm!«

Fritz sprang vom Stuhl auf und starrte sprachlos dem Bauer ins Gesicht. »Ja – was guckst du?« fuhr der Bauer fort. »Will das auch dir nicht in den Kopf? O, unsre Ehre! unser guter Name! – Werde heute nach Bergheim berufen – schwant mir gleich ein Unheil! In Bergheim finde ich das Haus in Aufruhr; der Bauer brüllt und wettert, meine Schwester ist halb ohnmächtig, die Margaret stand ihrem Vater entgegen, bleich wie 'ne Leiche, aber ruhig, eiskalt, keine Ader zuckte in ihrem Gesicht, obgleich der Bauer wild genug mit den Fäusten um sie herumfuchtelt. Wie sie mich sieht, bricht sie zusammen und weint. Lange frage ich vergebens, was los ist, endlich brüllt mich der Bauer selber an: ›Meinst, ich verkriech' mich vor dir? Hast mir schon genug Unheil ins Haus gebracht! Aber ich fürcht' mich nicht und heute noch mache ich reinen Tisch. Du betrittst mein Haus nimmer, merk' dir's! Gott's ein Donner auch, ich bin selber Manns genug, in meinen vier Pfählen Ordnung zu halten, und wenn ihr euch allesamt auf den Kopf stellt – ich tu' doch, was ich will und was ich für recht halte. Dem Hannes sein Glauben kümmert mich nichts, es sind mehr' Leut', denen nicht zu trauen ist, und ich muß mir ihren Umgang gefallen lassen. Und wenn mir der Hannes zu meinem Recht hilft, ist er mein Mann, euch und aller Welt zum Trotz. Und wenn mir die Dirne da noch ein Wort in meinen Kram redet, dann hat sie sich's selber zuzuschreiben, fällt's übel aus! Was? Soll ich mir in allen Stücken auf der Nase tanzen lassen? Ich bin der Herrnbauer!‹ Damit rannte er hinaus. – Um was es sich eigentlich handelte, konnt' ich nicht erfahren, die Weiber wußten selber nichts. Nur so viel ist gewiß, daß er mit dem Hannes und dem Schulzen zusammensteckt und mit ihnen oft halbe Tage lang in der Flur herumrennt. War er schon vorher schlimm gegen seine Weiber, so ist er jetzt ein völliger Teufel. Zum Ausbruch kam der Lärm, da er die Margaret nun doch an den Schäfersfrieder zwingen will. Morgen sollte Verspruch sein. Da bäumte sich denn auch das Mädle auf! Zum erstenmal tritt sie dem Vater entgegen; das Kind muß ihn mit Reden scharf getroffen haben, der Alte war ja wie sinnlos; Gott allein weiß, was geschehen wäre ohne meine Dazwischenkunft. Kannst dir denken, daß die Weiber gleich mit mir nach Sülzdorf wollten – mit Not und Mühe brachte ich sie so weit, daß sie wenigstens noch abwarten. – Darauf such' ich den Herrnbauer und finde ihn im Hof bei dem Schäfersbauer. Nicht schlecht fahr' ich auf die beiden los – im Nu ist der Zank fertig! Den Schäfersbauer macht es stutzig, da ich ihm rundweg erkläre: wenn er die Heirat mit der Margaret und seinem Frieder erzwingt, enterbe ich das Mädle, nicht einen roten Heller bekommt sie von mir. Überdem sei ich auch noch da und würde mich um meiner Schwester Kind annehmen; auch die Gewalt eines Vaters habe ihre Grenzen. Der Schäfersbauer geht fluchend davon, und nun kommt der Herrnbauer über mich! Heiliger Gott! Ich habe viel erlebt, solch eine Wut aber habe ich noch nicht gesehen. Mit einer Pflugreute geht er mir zu Leib – mit Not erwehre ich mich seiner; lange dauert's, ehe ich ihm das Eisen entreiße. In der Stube höre ich die Margaret jammern: ›Die Mutter stirbt!‹ Nun steigt mir's auch heiß auf, im Nu liegt der Bauer am Boden und ich knie ihm auf der Brust. Gott im Himmel! ich – meinem leiblichen Schwager! – O, Fritz, das verwinde ich nimmer! Das Röcheln des Bauern bringt mich zu mir selber, ich fahr' empor, helf' ihm auf die Beine, bitte um Verzeihung, er antwortet mir nicht, sein böser Blick – du kennst diesen Blick! – ist seine einzige Entgegnung. So lasse ich ihn laufen, um nach meiner Schwester zu sehen. Ich finde die Weiber gefaßt und ruhig. Unser Zusammenstoß gab ihnen die Besinnung wieder, sie dankten Gott, daß es noch ohne Unglück abgegangen war. Unter Tränen baten sie mich, das Haus zu verlassen, meine Anwesenheit müsse den Bauer nur noch mehr reizen. Wie ich sie nun auch bitte, gleich mit mir nach Sülzdorf zu gehen, meine Schwester und die Margaret bleiben fest – sie sind zum Glück klüger als ich! Nach diesem Zank dürften sie den Vater nicht verlassen, sagten sie; solange es irgend möglich, wollten sie bei ihm aushalten, im allerschlimmsten Fall würden sie in Sülzdorf Zuflucht suchen, eher nicht. So drängten sie mich fast mit Gewalt aus der Stube; ich mußte gehen, mit dem Bewußtsein: statt den Frauen eine Stütze zu werden, hatte ich ihre Lage verschlimmert! Mir war, als sei ich vor den Kopf geschlagen, im Hirn brauste und siedete es! Was hatte ich getan! Wie ich so durch das Heckengäßle taumle, steht plötzlich der Herrnbauer – er muß mich erwartet haben – triefnaß, noch mit dem Schmutz seines Falles an den Kleidern, vor mir, blasend und schnaubend. Lang' kann er nicht zu Wort kommen, Stimme und Atem versagen ihm, wie ein Irrsinniger greift er mit beiden Händen in die leere Luft. Endlich sprudelt und gurgelt er: ›Schmach und Schande über dich! Du hast mich beschimpft, auf meinem eignen Grund und Boden hast du die Hand wider mich erhoben! Unglück und Schande hast du über mein Haus gebracht und nun auch noch die Hand gegen mich erhoben! Wir sind geschieden! Mein Haus und Hof ist für dich nicht mehr auf der Welt; treffe ich dich noch einmal auf meinem Grund, so gibt's kein Erbarmen für dich!‹ – Ich hörte das wie im Traum; mir war die Kehle wie zusammengeschnürt, kein Wort brachte ich über die Zunge. Als ob das ganz in der Ordnung wäre, nicke ich dem verstutzten Herrnbauer zu, dann wende ich mich und gehe langsam wie im Traum nach Sülzdorf. Erst der Jammer meiner Weiber daheim brachte mich zu mir selbst! – Das ist's, Fritz! Gern hätten wir zu dir geschickt, aber wozu? Helfen kannst auch du nicht, hast ohnedies schon genug zu tragen, und das Unglück erfährst du immer noch zu früh! Und wie soll's enden? Arme Kinder, was wird euch bevorstehen?«

Fritz saß regungslos und starrte in das Licht. Er machte keinen Versuch, die weinenden Frauen zu trösten – er hörte ihr Weinen auch nur wie im Traum. »Weine dich aus, Anna!« sagte er aufstehend. »Einen Trost weiß ich nicht! Denke und grüble nicht – hier hilft kein Denken, es verwirrt nur und öffnet der Verzweiflung Tür und Tor. Trage und sei still! – Ich gehe, morgen komme ich! Lebt wohl!«

Der Schulbauer begleitete ihn bis an das Hoftor. »Trage – trage! Freilich gibt es keinen andern Trost, und was bleibt uns zuletzt übrig? – Und doch, meine ich, das Schicksal müsse zu zwingen sein! Ich bin dem Hannes auf der Spur, dem verfluchten Mörder! Die Kreise ziehen sich enger und enger um ihn zusammen! Ich habe den Schurken, aber – es ist zum Verzweifeln – sooft ich auch zugreifen will, springt er ab, und ich muß aufs neue auf die Suche! O Fritz, mein Hirn dreht sich im Kreise, wirre, wilde Gedanken schießen auf! – Halte du den Kopf oben, Fritz! wir brauchen deinen Beistand!«

Der feste, ernste Mann, der das schwerste Schicksal getragen und überwunden, lag an Reinhardts Hals wie gebrochen, sein Atem rang sich schwer aus der Brust empor. Und um Häuser und Scheunen heulte der Sturm, pfiff durch die Spalten der Türen und Tore, trillte die Wetterfahne auf dem Schloßturm und zerzauste das Haar des alten Mannes. Droben am Himmel wogten schwarze Massen dahin, oft schien sich das treibende Wolkenmeer auf die Erde zu senken, Regen sprühte nieder und durchnäßte das Haar des alten Mannes! Sturm und Wetter überall! – War denn alles Licht aus dem Leben genommen?

O nein! Wie strahlten die Fenster des Jockenhauses so hell durch die Nacht, Musik schallte das Dorf herab, im fröhlichen Tanz drehten sich Bursche und Mädchen – recht dem Pfarrer zum Trotz, aus dessen Wohn- und Studierstube das Licht nur in dünnen Streifen durch die Spalten der festgeschlossenen Läden blitzte. Ihr Gelächter übertönte oft noch das Pianoforte. Und der Hannes saß breit unter seinen Genossen, und der Beckenkarl flog in den Armen der Line dahin. – Wie schon einmal wendete sich Fritz schaudernd ab. Hätte er nur wenige Stunden später in die Herzen derer schauen können, deren Glück ihn so erregte! Der Beckenkarl war freilich wie toll und rasend im Arm seiner Braut dahingeflogen; allein seine bleichen Wangen röteten sich nicht, der starre, tote Blick wollte sich nicht beleben. Die Mädchen blickten scheu auf ihn und flüsterten: »Mit dem Karl ist's nicht richtig! Blickt er nicht drein, als wäre um ihn leere Luft und als müsse er in weiter Ferne etwas suchen? Oder – Gott sei bei uns! als sähe er einen Geist?« – Sie hatten recht, die Mädchen. Des Burschen Geist war weit weg, umflatterte ein stilles dunkles Haus, in dem ein armes, verlassenes Mädchen weinte und klagte. Lina war die Zerstreuung ihres Bräutigams nicht entgangen, sie ahnte, wohin seine Gedanken schweiften. Eine Zeitlang hielt sie mit Gewalt an sich; als aber ihre Gespielinnen die Köpfe zusammensteckten, als der Wagnerspaule so giftig-höhnisch lachte, als selbst der Vater den Burschen vergeblich zur Rede stellte, da war es aus mit ihrer Selbstbeherrschung. Glühend, zitternd und weinend vor Zorn erklärte sie dem Erstaunten: sie wisse wohl, was er im Kopf habe; er solle sich nur keinen Zwang auflegen und hinlaufen, wohin ihn seine Gedanken zögen. Sie halte ihn nicht, und seine Geschenke könne er nur auch gleich mitnehmen, vielleicht machten ihm die wo anders gutes Wetter! – Tiefe Stille folgte diesen Worten. Alles blickte erschreckt auf Karl, dessen Augen verwundert umhergingen. Der Wagnerspaule schlug eine kurze, höhnische Lache auf, der Hannes dagegen fuhr fluchend auf seine Tochter ein und kam gerade noch recht, zu verhindern, daß sie in ihrer sinnlosen Wut dem Bräutigam die empfangenen Weihnachtsgeschenke vor die Füße warf.

Karl stand wie aus einem Traum erwacht; langsam strich er sich über die Stirne. Es war nicht das erstemal, daß er seine Braut zornig sah, so wild war sie noch nie gewesen. Als sie ihm die Geschenke vor die Füße werfen wollte, griff er still nach seiner Mütze und verließ langsam das Haus. Der Regen schlug ihm ins Gesicht – er schien es nicht zu bemerken, trotzdem er nach wenigen Schritten bis auf die Haut durchnäßt war, beschleunigte er seinen Gang nicht im mindesten. Tief seufzte er, als er durchs Fenster die Mutter noch über die Bibel gebeugt sah. Leise schlich er ins Haus, auf seine Kammer, setzte sich auf seine Lade und stützte den Kopf in die Hände. Wirre Gedanken kreuzten sich in seinem Hirn. Er dachte an Margaret und an Reinhardt! Wie glücklich, wie reich war er gewesen durch Liebe und Freundschaft! Beides hatte er in sinnloser Wildheit von sich geworfen, um frei zu werden. – Frei wollte er werden im Denken und Handeln, und er war zum Werkzeug eines Mannes geworden, den er verachten und hassen mußte. Je genauer er den Hannes und seine Freunde kennenlernte – und als er erst einmal des Burschen sicher zu sein glaubte, ließ Hannes vor dem künftigen Schwiegersohn allmählich die Maske fallen – desto größer wurde sein Schmerz. Oft war er nahe daran, die Fesseln, die ihn so schmerzlich verwundeten, gewaltsam zu zerreißen, Versöhnung zu suchen mit dem Mädchen, das seinen Verlust – er wußte es ja – nie und nimmer verschmerzte. Aber ein ihm selbst unerklärbares Etwas hielt ihn zurück. Freiwillig hatte er Lina sein Wort gegeben – sollte er dieses Wort brechen? Durch eine neue Untreue sein Glück erkaufen? War das überhaupt zurückzukaufen? – Lange kämpfte er mit sich selbst ohne Entscheidung; jeden Morgen beseufzte er sein Geschick und schleppte die Ketten weiter. Da kam die Rede Reinhardts im Wirtshaus – tief erschüttert wankte er heim; dann die Leichenfeier der Lichtenkunnel – sein Herz klopfte bei der Rede des Schulbauern, das war ihm wie aus der Seele gesprochen! Der Schulbauer, Reinhardt, sie waren frei und selbständig; ohne Menschenfurcht verfochten sie, was sie für wahr erkannt! Und er? – ein Sklave war er eigner und fremder Leidenschaft, ein Werkzeug fremder Pläne und Absichten. Mit dieser Erkenntnis war ein Feuer in ihm aufgebrannt, das nimmer erlosch! Als dann beim Schulfest Reinhardt so herzhaft und unverzagt zu den Bergheimern redete, da übermannte ihn der Schmerz, er mußte den Saal verlassen. Sein Herz drängte nach Versöhnung mit dem Freund, der – er fühlte es – ihm allein helfen konnte. Allein abermals drängte sich ein dunkler Schatten zwischen Wünsche und Entschlüsse. Wenig Beachtung schenkte er den schändlichen Gerüchten, die mit höhnischer Schadenfreude von Hannes und seinen Genossen über Reinhardt verbreitet, jetzt gewannen sie plötzlich eine ernste Bedeutung. Der Schein zum mindesten sprach gegen Reinhardt, seine plötzliche Freundschaft mit Robert, seine häufigen Gänge zu dem Justizrat Stein ließen kaum eine andere Deutung zu, als ihnen Hannes gab. Wie, wenn Reinhardt in der Tat die Welt täuschte, wenn seine Rechtschaffenheit und Bravheit nur ein Mantel war, der sein wahres Wesen verhüllte? – Heute, als Karl am Weihnachtsabend einsam auf seiner Kammer saß, kamen diese Widersprüche mit verdoppelter Gewalt über ihn. Was bedeutete die plötzliche Annäherung des Hannes an den Herrnbauer? Was konnte den stolzen, strengen Hofbauer veranlassen, mit seinem Todfeind in Verbindung zu treten?

Was sollte aus ihm werden? Konnte er auf die Dauer zu dem Hannes stehen, den er verachten, hassen mußte? – Konnte, durfte er ein Mädchen heiraten, in deren Nähe sein Herz zu Eis erstarrte? Wie aber konnte er sich frei machen aus den Fesseln, die er sich in seiner Torheit selbst angeschmiedet? – Frei! – Karl stöhnte. Für ihn gab es keine Freiheit mehr. Schon wurde er von den Nachbarn mit zweifelnden Blicken angesehen, man traute ihm nicht mehr, verlachte ihn, seit er so plötzlich in die ihm gestellten Fallen gegangen war. Brennend heiß quoll es in ihm auf: »In Bergheim ist deine Rolle ausgespielt! Deines Bleibens kann nicht länger sein!« Karl preßte die Stirne an die kalten Scheiben, an welche das Wetter schlug. Also das war das Ende! – Auswandern! – Arme Mutter! Aber – es muß sein!

Nicht bloß der Beckenkarl starrte finster hinaus in die Nacht! Die unerwartete Entfernung des Bräutigams machte der Lust im Kirchbauernhaus ein rasches Ende. Auf der Stirn des Hausherrn kündete ein Wetterleuchten das nahende Gewitter, niemand mochte seinen Losbruch abwarten. Das Jungvolk huschte geräuschlos aus der Tür, der Wagnerspaule gratulierte im Weggehen der Lina, daß sie beizeiten beginne, ihren künftigen Gemahl an ihre Art zu gewöhnen, die alte Base schlüpfte seufzend auf ihre Kammer. Bald standen sich Vater und Tochter allein gegenüber. – Das Gewitter brach los. Zuerst versuchte Lina ihren alten Trotz hervorzukehren, dem Vater die Stirne zu bieten; aber als sie der wilde Mann, dessen Fäuste sich schmerzhaft in ihr Fleisch gruben, auf das Kanapee niederschleuderte, da lähmte ein tödlicher Schrecken ihren trotzigen Mut. Es war durchaus nicht das erstemal, daß sie ihren Vater in solcher Wut sah. Stets hatte sie gelacht; je mehr die Hausleute zitterten, desto lustiger. Nie kehrte ja auch der Vater seinen Zorn gegen sie, in der größten Wildheit nahm er sich gegen die Tochter zusammen. Warum heute nicht mehr? – Hannes war unterdes mit geballten Fäusten auf und ab gerannt; hörbar knirschte er mit den Zähnen. »Fluch und Verdammnis!« brach er los. »Hat sich alles gegen mich verschworen, soll mein Untergang mit Gewalt herbeigeführt werden? Muß mein eigen Fleisch und Blut dazu helfen, mich zu verderben? – Mädle, Mädle!« schrie er und schüttelte die Tochter von neuem: »Du hast Freiheit gehabt in allen Stücken, jeden Wunsch habe ich dir erfüllt; aber Gnade dir Gott, läßt du dir beikommen, meine Wege zu durchkreuzen! Morgen gleich in der Frühe muß die Sache mit dem Beckenkarl in Richtigkeit kommen – verstanden? – Kein Wort dagegen, ich will's, und du tust's! Nimm dich in acht, Mädle! Der Karl muß dein Mann werden, aufs Wollen oder Mögen kommt's hier nicht an, er muß – verstanden? Richte dich danach, leg' deiner Wildheit Zaum und Zügel an, schlimm für dich, müßt' ich's tun – und es geschieht, kommt nochmals solch eine Geschichte vor. Nimm dich in acht – 's geht an Leib und Leben, da gelten keine Rücksichten mehr!«

Er nahm eines der Lichter und schlich aus der Stube. Lina saß aufrecht und blickte ihm mit großen Augen nach. Sie empfand nicht den Schmerz der blutunterlaufenen Druckflecken an ihren Armen, sie hatte nur einen Gedanken: was bedeutet das? Erst wild wie ein Stier, schleicht der Vater jetzt auf seine Kammer wie ein gebrochener, alter Mann. Lina blickte lange und starr ins Licht, allmählich wich aus ihrem Gesicht alles Blut; erdfahl, ein Bild des Schreckens, der Verzweiflung saß sie da, dunkle Geschichten aus ihrer Kindheit kamen ihr ins Gedächtnis, sie erinnerte sich, was die Leute ihrem Vater nachredeten; sein geheimnisvolles Treiben brachte sie mit jenen Gerüchten in Verbindung, sein Leben, sein Umgang, seine letzten Worte – plötzlich vergrub das stolze, wilde Mädchen ihr Gesicht in die Kissen des Sofas, um einen lauten Schrei der Verzweiflung zu ersticken! – Lange nach Mitternacht fand sie die Base schluchzend und weinend in der kalten Stube; erst nach langem Zureden ließ sich das in Tränen aufgelöste Mädchen zu Bett bringen; allein wie die Alte auch bitten und drängen mochte, kein Wort kam über ihre Lippen.

Hinter seinen, heute mit doppelt ängstlicher Vorsicht dreifach verschlossnen Türen wandelte Hannes ruhlos auf und ab. Abermals waren die Gespenster seiner Vergangenheit erwacht und ängsteten ihn mit den Schreckbildern eines nahen Verhängnisses. Ja, das Gebäude von Lug und Trug, das ihn bisher geborgen, krachte und wankte in allen Ecken! Der Herrnbauer und Ungerskasper waren ja freilich gewonnen, allein dieser Erfolg legte ihm selbst neue Fesseln an und gab dem Wagnerspaule, den er hassen und fürchten mußte, neue Gewalt über ihn. Des Lehrers Ruf war freilich durch die ausgestreuten Gerüchte arg geschädigt, aber was nützte das, wenn nicht bald ein Hauptschlag den Lehrer völlig zu Boden warf, ihm die Möglichkeit nahm, sich zu rechtfertigen? Und was hatte er durch den Untergang des Lehrers gewonnen, so lange ihm der Schulbauer gegenüberstand? Der Uhrmacherle wurde täglich liederlicher, selten sah man ihn noch nüchtern; wenn er sich trotzdem bis heute im Vertrauen des Pfarrers erhalten, so konnte das nicht mehr lange dauern. Verstieß aber Walter den Verkommenen, dann war er völlig verloren. Wie lange konnte dann sein Geheimnis noch bewahrt werden, das auf der Zunge eines wahnsinnigen Säufers lag? Auch der Simesschuster ängstete ihn. Der Mensch war so still geworden, floh die Menschen, schloß sich in seine Stube oder irrte einsam durch die Flur. Mit welchen Vorsätzen trug er sich? Wie stand er endlich mit dem Wagnerspaule? Wußte der schlaue Heimtücker um den Mord in Einzelberg? – Und wenn nicht, was lag daran? War er nicht dennoch hilflos in die Hände des unersättlichen Blutsaugers gegeben, dessen Übermut und Hohn täglich unerträglicher wurden? Hannes rang die Hände. Wie sollte das enden? Sein Vermögen schmolz furchtbar zusammen, seitdem ihn die Rücksichten zwangen, seinen Wucher aufzugeben. Womit sollte er Paule und den Uhrmacherle auf die Dauer befriedigen, da sich trotz aller Arbeit und Mühe noch nicht die geringste Aussicht zeigte, das Gemeindevermögen in seine Gewalt zu bekommen? Wurden nicht seine Anhänger täglich schwieriger und unfügsamer? Zeigte ihm nicht der Abfall des Beckenbauern, das störrige Wesen des Beckenkarl, was er zu erwarten hatte, kam es zum Hauptschlag? Und doch war das alles noch nicht das Schlimmste, sein gefährlichster Feind war und blieb der Schulbauer. Spürte der nicht allen seinen Schritten nach? Warum nahm er den Bundorfer Schäfer in seine Dienste, den er doch gar nicht brauchte? Warum forschte er so unablässig danach, wo sich der Uhrmacherle an jenem Unglückstage herumgetrieben?

Hannes gab das Sinnen und Grübeln auf. Heute griff er nicht nach dem Gewehr; das blieb ihm ja immer als letztes Mittel. Auch die Gedanken an eine gerechte Vergeltung, an Gott und Ewigkeit wies er trotzig ab. Er hatte einmal versucht zu beten – damit war es nichts, und Hannes war nicht der Mann, der sich vergebens plagte. Deswegen hatte er den Vorsatz, sich mit Gott auszusöhnen, – wenn es am Ende doch einen gab – nicht aufgegeben. Dazu aber mußte ihm der Pfarrer helfen – und die Zeit war noch nicht gekommen. Viel mußte noch geschehen, ehe er daran denken durfte! Erst galt es, auf Erden sicher stehen, dann konnte man ja auch an den Himmel denken.

Hannes kam in dieser Weihnacht nicht ins Bett. Er lehnte am Fenster und starrte hinaus in die Finsternis. Stunde nach Stunde verkündete die Schlaguhr an der Wand; der Nachtwächter begann sein Amt und dankte ab, das Licht war lange tief in den Leuchter hineingebrannt und zischend erloschen – und noch immer stand Hannes am Fenster; wilde, düstere, blutige Gedanken arbeiteten in seinem Hirn. –

Lichtlos gingen die Feiertage vorüber. Die Wolken schwanden nicht, der Regen prasselte fort, auch das neue Jahr brachte neue Stürme; der reinigende, klärende Frost, mit fast schmerzlicher Ungeduld herbeigesehnt, blieb aus. –

Die Aufregung, welche sich sogleich in den ersten Tagen des neuen Jahres der Gemüter bemächtigte und das ganze Dorf wieder in Bewegung brachte, ging nicht vom Pfarrer Walter aus, obgleich er den Mittelpunkt des Streites bildete. – Lange vor Beginn des Konfirmandenunterrichtes hatten der Jockenhannes und der Wagnerspaule dagegen geeifert, Walter den Religionsunterricht zu übertragen. »In Grund und Boden verdirbt er die Kinder durch seine Lehre, durch die Bibelsprüche und Liederverse, die er auswendiglernen läßt!« lärmten sie, und diesmal blieben ihre Worte selbst bei den Frommen nicht ohne Eindruck, da allerdings aus Walters früherer Pfarrei sehr bedenkliche Klagen gerade über seinen Konfirmandenunterricht laut geworden waren. Lärmend beschlossen die Wilden im Wirtshaus, ihre Kinder in Schottendorf oder Einfelten konfirmieren zu lassen. Die Frommen hielten das natürlich für leeres Geschrei, die Wilden mochten es selbst nicht allzu ernstlich meinen. Der Bergbauer sagte gar nichts, ging dafür in desto tieferen Gedanken herum. Dennoch trat eine große Spannung ein, als der Tag zur Anmeldung der Konfirmanden heranrückte! – unstreitig war es ein folgenschwerer Schritt, machten diesmal die Wilden ihr Wort wahr. Doch hatte es nicht das Ansehen, die Wilden waren mäuschenstill, niemand rührte an die heikle Sache. Da durchlief eine sonderbare Mär das Dorf. Der Bergbauer solle beim Pfarrer gewesen sein, sich nach der Weise seines Unterrichtes zu erkundigen; natürlich habe Walter den unberufenen Frager derb ablaufen lassen. Der Bergbauer jedoch habe, ohne sich auf weitere Verhandlungen einzulassen, seine Tochter beim Schottendorfer Superintendent zum Konfirmationsunterricht angemeldet. Nun trat auch der Kriegsrat der Wilden zusammen; an die treuesten Anhänger des Hannes wurde der Befehl ausgegeben, die Anmeldung bis auf weitere Anordnung zu unterlassen. Pfarrer Walter war außer sich, als ihm fast ein Drittel seiner Konfirmanden fehlte; er zürnte, schalt, drohte. Groß war die Aufregung unter Wilden und Frommen – was wird der Pfarrer tun?

Schon darüber schüttelten ernste und strenge Leute den Kopf, daß Walter bei den Wilden Besuche machte und sich aufs Bitten legte. Das Erstaunen wurde aber zum Schrecken, als Walter den Jockenhannes aufsuchte, dort mit dem Wagnerspaule, Schulzen und Veitenbauer eine Beratung abhielt, in deren Folge die Wilden ihre Kinder ungesäumt beim Pfarrer anmeldeten. Damit hatte der Streit sein Ende gefunden, die Wilden schickten ihre Kinder in die Pfarrschule, und der Geistliche hatte scheinbar einen vollständigen Sieg errungen. Scheinbar! In Wahrheit war er gänzlich geschlagen! – Was war das? Der Bergbauer, einer der ersten Männer in der Gemeinde, bis vor kurzem der eifrigste Anhänger des Pfarrers, schickte nach einer Verhandlung mit dem Pfarrer sein Mädchen nach Schottendorf in die Pfarrschule, und Walter ließ das geschehen? Dagegen den Wilden, die doch nur aus Trotz, um ihm einen Streich zu spielen, ihre Kinder von der Pfarrschule fernhielten, denen lief er zu Gefallen? Menschen, die nach seinen eigenen Worten längst mit Leib und Seele der Hölle verfallen waren, mit denen verhandelte er? Sogar des Jockenhannes Beistand rief er an? Des Mannes Hilfe nahm er in Anspruch, den er öffentlich verflucht und verdammt hatte? Waren etwa der Hannes und die Wilden umgekehrt? Nun, stiller waren sie geworden; man merkte, sie schonten, nahmen Rücksichten, wollten da und dort nicht anstoßen und den Herrnbauer, Ungerskasper, den Pfarrei selbst nicht zu Gewaltschritten drängen. Sonst aber trieben sie freilich ungescheut das alte Wesen fort. Wie sollte man sich nun das Verhalten des Pfarrers erklären? War es Furcht vor den Wilden, was ihn zu solch schimpflicher Nachgiebigkeit bewog? War es etwas anderes, Schlimmeres? – Das Gefühl sträubte sich gegen solche Annahme, und doch war die Befürchtung nicht abzuweisen. Wohl wurden Stimmen laut, die darauf hinwiesen, wie er auch bei dem Bergbauer nichts unversucht gelassen, wie aber all sein Bemühen an dem starren Sinn des Bauern gescheitert sei. – Und das war es nicht allein, was die Gemüter ängstete. Schon vorher hatte der Abfall des Bergbauern Aufsehen erregt, allein die zugleich erfolgende Scheidung des Beckenbauern von den Wilden machte diesen Schritt minder auffallend. Nun aber kam die Annäherung des Herrnbauern und Ungerskasper an den Jockenhannes, und so laut sie auch versichern mochten, daß sie, was den Glauben betreffe, dem Hannes so feindlich gegenüberständen denn je, niemand glaubte daran, um so weniger, als unter den vernünftigen Bergheimern früher schon im stillen die Vermutung ausgesprochen worden war, der übermäßige Eifer des Herrnbauern für die Religion möge wohl weniger in Glaubenstreue als im persönlichen Haß seinen Grund haben. Und nun dennoch diese Annäherung? Wie sollte man sie erklären? Was immerhin den Herrnbauern bewogen haben mochte, sich mit Hannes einzulassen, es blieb eine Ungeheuerlichkeit. War sein Haß gegen den Hannes grundlos, oder hatte er ihn nur geheuchelt? War seine vielgerühmte Frömmigkeit von jeher nur Schein und äußerliches Wesen, oder gedachte er dadurch nur persönliche Interessen zu fördern? So grübelten nicht allein die Frommen; die Wilden waren nicht minder bestürzt. – Das gärte in den Gemütern; die ohnedies verwilderten Gemüter verbitterten völlig, gegenseitiges Mißtrauen vernichtete die letzten Bande gemütlicher Teilnahme, die bisher noch die Nachbarn verbunden hatten. Um das Unglück voll zu machen, wurden nun auch die Frauen von der Bewegung ergriffen, und ihre leidenschaftliche Heftigkeit riß die Männer vollends in den wildesten Strudel.

Und Reinhardt, der Schulbauer und ihre Freunde? Den Schulbauer hatte sein häuslicher Jammer völlig übernommen; der Bergbauer, Beckenjörg und Lichtennikele standen zögernd, unentschlossen von ferne, und auch Reinhardt war nicht mehr der alte. Der Kummer um seine Lieben drückte ihn nieder, zugleich ängstete ihn jenes unheilvolle Etwas, das nicht weichen wollte und seinen Horizont verdüsterte, ohne doch Gestalt und Farbe zu gewinnen. Freilich – nur für ihn hüllte es sich in den Schleier des Geheimnisses, im Dorf selbst gewann das Gerücht täglich größere Bestimmtheit. Warum war er auch fast täglich mit dem Sülzdorfer Lehrer zusammen? Was hatte Reinhardt so eifrig mit dem Justizrat Stein zu verhandeln? Zu welchem Zweck kündigte er auf der städtischen Sparkasse solch bedeutendes Kapital? – Vor allem aber, war er nicht vom Wagnerspaule und Jockenhannes mit der Dirne, die so plötzlich Schottendorf verlassen mußte, in der Stadt zusammengesehen worden? Reinhardts beharrliches Schweigen über die Sache war ein weiteres Argument seiner Gegner. War zu glauben, daß er in der Tat noch nichts von dem Gerücht wußte? War es möglich, daß er die feinen und groben Anspielungen, die es von allen Seiten regnete, wirklich nicht verstand? O, der Reinhardt war ein Fuchs, ein Hauptspitzbube, so rechnete man, hier zeigte sich das schlagend. Dumm stellte er sich, bis die Sache mit Geld zugedeckt war, dann lachte er sich ins Fäustchen, wer darf ihm dann etwas vorwerfen?

Zu verwundern war, daß auch den Herrnbauers- und Schulbauersleuten, daß vor allem Anna all diese Gerüchte fremd blieben. Hielt die Teilnahme mit den ohnedies schwer genug heimgesuchten Familien die Zungen im Zaum? Sorgten Hannes und Genossen wohl selbst dafür, daß die Gerüchte nicht allzu offenbar wurden, vorzeitig die Betreffenden erreichten und eine Enthüllung herbeiführten? Genug, während die Verleumdung auf Fledermausfittichen von Haus zu Haus huschte und sich auch schon in benachbarte Orte verirrte, ahnten die am meisten Beteiligten – Reinhardt ausgenommen – nichts von dem neuen Wetter, das gegen sie heraufstieg.


 << zurück weiter >>