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Vierundzwanzigstes Kapitel

Ein rauher, wilder Novemberwind zerrte an den Mänteln der beiden Männer, die mühselig auf unergründlichen Wegen, von Sülzdorf kommend, Bergheim zustrebten. Er riß die Worte dem Sprechenden vom Munde weg und zerstreute heulend die schwachen Laute. Dennoch unterbrachen die Männer ihr Gespräch nicht einen Augenblick.

»Ich fürchte,« sagte der Schulbauer zu Reinhardt, »dem Herrnhaus steht noch schweres Unheil bevor. Es ist kein Zweifel, der Herrnbauer brütet über bösen Gedanken, und umsonst umschleicht ihn der Wagnerspaule nicht. O, ich kämpfe täglich mit mir selber, allein in einem Punkt werde ich nicht Herr über mich, die rachsüchtigen Gedanken gegen den Jockenhannes wollen sich nicht unterdrücken lassen! – O wenn ich den einmal unschädlich machen könnte! Aber noch ist nicht aller Tage Abend, und es finden sich doch Fäden, die sich aber vielleicht einmal zu einer Schlinge für ihn drehen lassen. Fritz – das Blut steigt mir zu Kopfe, wenn ich so da und dort Spuren finde, die es zur Gewißheit machen, daß Hannes doch ein Mörder ist, wenn ihn auch die Gerichte damals freisprachen!«

»Jörg! Was redest du?«

»Stille! der Wind hat Flügel und Ohren! Merke: es ist gewiß, der Uhrmacherle, sonst des Hannes Todfeind, hat mit diesem heimliche Zusammenkünfte; ich weiß ganz gewiß, das Geld, das der Lump in allen Dörfern ausstreut, hat er von Hannes! Weiter: der Hannes war an jenem Tag, da der Mord geschah, nachts nicht mehr in Schottendorf. Der Bundorfer Schäfer, ein liederlicher Geselle, der, um seinen Schuldnern zu entgehen, in derselben Nacht heimlich seinen Dienst verließ und nach Amerika ging, ist heimgekehrt und suchte bei mir ein Unterkommen. Er wußte noch nichts von dem Mord; als ich ihm die Umstände berichtete, verblaßte er sich und sagte: ›Herr, den Mörder kenn' ich! Am selben Tag hütete ich gegen Abend im Holz an der Einzelberger Grenze. Auf einmal schlägt mein Hund an und stellt den Jockenhannes, der von Bundorf 'raufkommend durch die Büsche kriecht. Da ich mir denke, was er vorhat, mach' ich mir den Spaß, ihn um Tabaksfeuer anzureden!‹ Der Mann steht in meinem Dienst und ist bereit, jeder Zeit seine Aussage vor Gericht zu beschwören!«

»Und du? Warum klagst du nicht?«

»Was gilt ein Zeuge, dem Hannes zehn falsche gegenüberstellen kann? Nein, so gewiß diese Aussage in meinen Augen den Täter feststellt – vor Amt kann ich damit noch nichts ausrichten, da müssen noch schlagendere Beweise dazukommen. O, wenn ich nur einen Haken wüßte, an den Uhrmacherle zu kommen – denn daß der auch falsch geschworen, steht fest, nachdem mein Schäfer den Hannes allein durch die Büsche kriechen sah. Wo aber war der Uhrmacherle an jenem Abend? Mein halbes Vermögen gäbe ich darum, könnte mir hier jemand auf die Spur helfen!«

»Wie lange aber kann das noch dauern, bis du weitere Anhaltspunkte findest?« rief Fritz. »Und was wird mit uns in der Zeit? Sollen wir dem Schurken Frist geben, sein Bubenstück zu vollenden? – Jörg, ich kann nicht länger mehr schweigen, ich fühle auch, ich darf nicht. Gehe du deine Wege, mich aber laß offen den Schurken entgegentreten! – Die Wilden scheinen es darauf anzulegen, mich ins Feuer zu treiben; wo ich mich blicken lasse, fallen sie mit Spott und Stachelreden über mich ein. Ich kann und darf nicht länger schweigen, will ich nicht den Vorwurf der Feigheit auf mich laden!«

»Recht so, Fritz! Dasselbe dir zu sagen, begleite ich dich heute. Tue das, tritt ein für deine und meine Überzeugung. Gebe der Himmel, daß ich dir bald zu Hilfe kommen kann. Noch eins, Fritz! Wie steht es mit unserm Schulmeister? Was bedeuten deine Gänge zu dem Justizrat Stein?«

Überrascht kehrte sich Fritz nach dem Freunde um. »Ich tat, was du an meiner Stelle getan haben würdest; ich suche einem Verirrten zu helfen; mehr kann und darf ich nicht sagen.«

»Gut, gut, Fritz! Wir kennen uns, du weißt, ich vertraue dir. Nicht meinetwillen fragte ich. Die Verhältnisse unsres Lehrers sind auffallend, eure plötzliche Annäherung und ihre Folgen sind so ungewöhnlich, daß es bösem Willen leicht werden könnte, deinem Namen einen Makel anzuhängen. Darum fragte ich. Warum kommt Schulz nicht zu mir?«

»Ich verhinderte ihn, er soll sich erst deiner Achtung wert machen. Laß ihn vorerst noch; wenn ich die rechte Zeit gekommen glaube, werde ich dich bitten: nimm dich seiner an.«

Sie waren in die Nähe des Wirtshauses gekommen, dessen hell erleuchtete Fenster schimmernde Streifen über die feuchten Straßen warfen, und aus dem ihnen lautes Reden und Gelächter entgegenschallte.

Es war, wie der Schulbauer sagte; die Wilden erwarteten Reinhardt, sein langes Wegbleiben gab ihnen Gelegenheit, ihn zu verspotten. Der Herrnbauer saß mürrisch neben dem Paulesnikel, Ungerskasper und Bergjörg; sein rotes Gesicht erhellte sich jedoch im gleichen Maße, als sich des Bergbauers Züge verfinsterten. Je härter über den Lehrer geurteilt wurde, desto freundlicher blinzelte er auf den Ditterswinder Schäfersbauer, was dieser mit zufriedenem Grinsen und heimlichen Kopfnicken erwiderte. Plötzlich wurde es stille im Zimmer, dunkelrot im Gesicht wendete der Herrnbauer sich ab – der Schulbauer und Reinhardt waren eingetreten. Freundlich begrüßten beide den Lichtennikele, der sich ausnahmsweise hier herein verirrt hatte, und nahmen neben ihm Platz, ohne den Herrnbauer oder sonst jemand zu begrüßen.

Die Stille in der raucherfüllten Stube wurde ungemütlich, Erwartung lag auf allen Gesichtern, und doch schien selbst der Wagnerspaule zu zögern, das Gespräch wieder aufzunehmen. Nikel stieß Reinhardt an und flüsterte ihm heimlich zu: »Es ist was im Werk dort, die droben am Herrentisch haben's auf Euch abgesehen. Nehmt Euch in acht, Herr Schulmeister!«

Der Wagnerspaule hatte unterdes das Gefecht durch leichtes Geplänkel eröffnet. Er spottete über die Lehrer, wußte manche lustige Geschichte über ihre Armut und Torheit zu berichten, die mit Jubel aufgenommen wurde. Allmählich kam man auf den Stolz der Lehrer zu reden. »Unerträglich ist ihr bettelstolzer Übermut!« schrie Hannes. »Zwei solcher Klopfgeister wollten um meine Line herschnurren – ich habe beiden gezeigt, wo Barthel den Most holt und mir das Haus rein gehalten! Donner und Hagel! Das fehlt noch, solche Hungerleider, die man erst ein Jahr oder noch länger durchfüttern muß, daß sie im Sonnenschein nur einen Schatten werfen, solch ein Lausewenzel sollt' mein Schwiegersohn werden? Brrr! mich schüttelt's, wenn ich nur an die Möglichkeit denke!«

Der Herrnbauer hatte seinen Kopf auf die Brust sinken lassen und seine Faust ruhte wieder schwer auf dem Schenkel. Am Herrentisch schien man eine Antwort des Lehrers erwartet zu haben; als sie jedoch ausblieb, sahen sich die Wilden – der Simesschuster fehlte auch heute am Herrentisch – genötigt, bestimmter auf ihr Ziel loszugehen. Der Paule eröffnete abermals den Angriff. Diesmal nannte er das Kind beim rechten Namen, und Reinhardt nickte dem Schulbauer lächelnd zu. Seine Wirksamkeit in der Schule wurde der härtesten Kritik unterzogen, und da man ihm weder Untüchtigkeit noch Nachlässigkeit vorwerfen konnte, mußten sich seine Gegner darauf beschränken, seine religiöse Stellung anzufechten. Freilich war das gerade der Punkt, mit dem in Bergheim alle Leidenschaften sicher und schnell zu entflammen waren. Als darum Hannes und Paule über die Zustände der Schule ein großes Klagelied anstimmten, fielen die Frommen lebhaft ein. Ein großes Geschrei erhob sich wider den Lehrer, besonders auch seine sogenannte Parteilosigkeit wurde bitter angefeindet; stürmisch forderte man, daß er endlich einmal Farbe bekenne.

Reinhardt hatte sich erhoben. Ruhig überblickte er die Versammlung, und merkwürdig, die lautesten Schreier verstummten zuerst; bald trat an Stelle des Lärmes eine erwartungsvolle Stille. Mit voller Bruststimme begann Reinhardt: »Auf eure Schmähungen zu antworten, halte ich unter meiner Würde. In einem Fall habt ihr recht: Ihr könnt Klarheit verlangen über meine Stellung zu den Parteien im Dorf.

Was zunächst mein Glaubensbekenntnis betrifft – worauf die Versammlung so großes Gewicht zu legen scheint – so habe ich das schon bei anderen Gelegenheiten gründlich dargelegt. Ich wiederhole es heute nicht noch einmal.

Man hat mir Heuchelei, Achselträgerei vorgeworfen, weil ich mich an keine Partei angeschlossen. Jedermann muß sofort klar geworden sein, daß meine religiösen Ansichten mit keiner Partei zusammenstimmen. Dem Herrn Metzner und Genossen bin ich nicht radikal genug, sie verzeihen mir nicht, daß ich weder dem Herrgott die Berechtigung zu seinem Dasein bestreite, noch aus Christus einen ganz gewöhnlichen Aufklärer und Revolutionsmann machen lasse, daß ich die Bibel nicht kurzweg als Lügenbuch abtue, überhaupt Kirche und Religion, und was sonst noch damit zusammenhängt, nicht kurzerhand zu den Toten werfe. Den Frommen bin ich nicht buchstabengläubig genug, das trennt mich für immer von ihnen; wer mag auch Gemeinschaft mit einem ewig verdammten Menschen haben? So stehe ich allein, mitten zwischen beiden Parteien. Ist es nun Heuchelei, Achselträgerei, wenn ich, von allen Seiten verleumdet und angefeindet, dennoch meinen Standpunkt unverrückt festhalte, bei jeder Gelegenheit nach rechts und nach links meine Überzeugung vertrete? Ich meine, solch ein Verhalten verdiene wohl einen ganz andern Namen!

Ich glaube zur Klarlegung meines Standpunktes genug gesagt zu haben. Da man aber so stürmisch auf mich eindrang, will ich doch die Gelegenheit benützen, auch einmal mein Urteil über die streitenden Parteien auszusprechen.

Was zunächst den religiösen Standpunkt der Frommen betrifft, so habe ich dagegen nichts einzuwenden. Wie ich Achtung meiner eignen Überzeugung verlange, respektiere ich auch fremde religiöse Meinungen. Freilich setze ich dabei voraus, daß sie aufrichtig sind. Betrachten wir aber diese Stützen der Religion genauer. Finden wir bei ihnen besondere Tiefe des religiösen Gefühls? Sie sind religiös, weil sie von Jugend auf dazu erzogen wurden; sie beteiligen sich eifrig an den kirchlichen Gebräuchen – nicht aus Herzensbedürfnis, sondern weil nun einmal Gebet und Kirchengehen als Freipaß in das Himmelreich gelten. Und die sittliche Bewährung? – Hier kommen wir vollends auf ihre wunde Stelle. Anstatt die traurigen Wirren im Dorf als Mahnung zu nehmen, ernstlich mit sich selbst zu Gericht zu gehen, was finden wir? – Den alten Schlendrian; ja, man ist eher noch lässiger in Erfüllung auch der einfachsten Pflichten geworden, da man sich ja mit dem Herrgott auf einem guten Fuß weiß. Und eben dieses Bewußtsein, welche Auswüchse hat es erzeugt! Welche pharisäische Selbstgerechtigkeit ist eingerissen unter unsern Frommen! Heuchelei ist an der Tagesordnung; Herrschsucht, oft die gemeinste Rachsucht, Neid und Scheelsucht, treibt zum Kampf gegen die ›Wilden‹, der angeblich um der Ehre Gottes willen geführt wird.

Wer kann nun im Ernst verlangen, daß sich ein ehrlich vorwärtsstrebender Mann dieser Gesellschaft anschließen solle?«

Tiefe Stille herrschte, nur der Herrnbauer blies und schnaubte. Die Frommen hatten die Köpfe gesenkt, keiner wagte eine Entgegnung. Nach einem tiefen Zug aus dem Bierglas fuhr Reinhardt fort:

»Unter den Frommen werde ich längst als Gottesleugner und Glaubensverächter verketzert; ich bin nun aber weder ein Gottesverleugner, noch ein Religionsverächter. Aber eben weil ich den Geist des Christentums höher stelle als äußere Formen, muß mir das Treiben der Partei, die sich um Herrn Metzner sammelt, im höchsten Grade anstößig sein!

Was wollen diese Leute? Fraget um, außer den Führern hat niemand auch nur eine Ahnung von dem Ziel dieser Bewegung. Vorläufig lärmt man gegen die kirchlichen Ordnungen, gefällt sich in sinnlosen, kindisch lächerlichen Gotteslästerungen; ja, in neuerer Zeit scheint man in der Tat mit der Religion äußerlich so ziemlich fertig geworden zu sein; wenigstens spricht der an die Stelle eines unregelmäßigen Kirchenbesuches getretene außerordentlich pünktliche Wirtshausbesuch dafür. Äußerlich, sage ich; wie es in den Seelen aussieht, wer weiß es? Weiter ruft man fortdauernd nach Aufklärung und Freiheit! Welcher Art die ›Aufklärung‹ ist, welche die Wilden suchen, weiß ich nicht. Etwas Besonderes muß aber an ihrer Aufklärung nicht sein, denn statt daß es nun lichter in ihren Köpfen wird, statt daß sie sich durch Klugheit, verständiges Wesen und wachsende Bildung vor uns auszeichneten, versinken sie täglich tiefer in sinnlos wildes Treiben. Freiheit wollen sie. Meinen sie damit aber das Recht, ihre Ansichten frei bekennen, ungestört nach ihren Überzeugungen leben zu dürfen? Wer hat dieses Recht je bestritten? Nein, frei sein, das heißt für sie: die Herren im Dorf; herrschen wollen sie, um Raum zu bekommen für ihre Leidenschaften, die zu befriedigen ihre gewöhnlichen Mittel vielleicht bald nicht mehr ausreichen dürften!«

Hannes sprang auf und griff in die Luft, während seine blauen Lippen bebten. Mit stärkerer Stimme fuhr Reinhardt fort: »Ich bin von den Führern der Partei, den Herren Metzner und Scheler, von einer gewissen Zeit ab mit ihrer besonderen Feindschaft bedacht worden. So ehrenvoll mir dies ist, so hat es doch seine unangenehme Seite, die nämlich, daß es mich zwingt, ihnen auch einmal öffentlich zu erwidern. – Lebhaft beklage ich, daß mir heute noch nicht schlagendere Beweise für die Nichtswürdigkeit dieser Herren zu Gebote stehen – da es denn aber von jener Seite darauf angelegt zu sein scheint, mich zum äußersten zu treiben, da Herr Metzner mich sogar in meiner Gegenwart beschimpft, will ich ihm die richtige Antwort nicht vorenthalten. All das Geschwätz von meiner Bewerbung um die Lina ist erlogen; von einer Abfertigung kann keine Rede sein, da mir nie beikam, mich um das Mädchen zu bewerben. Erinnert sich niemand mehr, wie mich die tolle Dirne überlief? Wie es eine Zeit gab, da die Herren Metzner und Konsorten von Liebe und Güte gegen mich überflossen? Ach, wenn gewisse Leute unter den Wilden wie unter den Frommen wüßten, welche Anstrengungen Herr Metzner und Scheler machten, mich für ihre Partei zu gewinnen, sie würden mich vorsichtiger beurteilen. Und so spreche ich in öffentlicher Gesellschaft frei aus: ich verachte Herrn Metzner und Scheler als gewissenlose Schurken! Zwischen uns besteht Krieg auf Leben und Tod; nicht eher werde ich ruhen, bis entweder ich unterlegen oder jene Schurken entlarvt sind!«

Eine merkwürdige Bewegung entstand um den Herrentisch. Abgerissene Flüche, wilde, unartikulierte Laute durchbrachen das Getöse. Man schien sich dort hinten Bahn brechen zu wollen und auf unerwarteten Widerstand zu stoßen, der zugleich den Zorn steigerte und doch am vollen Losbruch hinderte. Eine Weile blickte Reinhardt in das Getümmel, dann verließ er, vom Schulbauer, dem Lichtennikele und noch einigen begleitet, rasch die Wirtsstube. Nikel und der Schulbauer nahmen mit herzlichem Händedruck stumm Abschied; an seiner Gartentür traf Reinhardt mit dem Bergbauer zusammen. »Gott segne Sie für Ihr mannhaftes Wort«, sagte der tiefbewegte Mann. »Sie stehen nicht mehr allein, von dieser Stunde gehöre ich zu Ihnen mit Leib und Seele!«

Als sei ein Wirbelwind in einen Haufen dürrer Blätter gefahren, so prasselte nach Reinhardts Entfernung die Gesellschaft auseinander. Der Boden schien ihnen unter den Füßen zu brennen, selbst ganz gefüllte Biergläser ließen sie im Stich, sonst nicht die Art der Bergheimer! In wenigen Minuten war die Stube leer, der bestürzte Wirt schlich kopfschüttelnd von Tisch zu Tisch. Am Herrentisch saßen allein der Schulz, Wagnerspaule und Jockenhannes – war es Zufall, daß ihnen gegenüber der Herrnbauer noch blies und schnaubte?

Karl Schubert war der erste, der ins Freie stürmte. In seinem Kopf brauste und dröhnte es; ihm klang nur das eine Wort in den Ohren: betrogen! Ob ihm gleich der Wind die Mütze entführte und den Regen ins Gesicht peitschte, er achtete nicht darauf und rannte im weiten Kreis um das Dorf. »Betrogen!« pochte und hämmerte es in seinen Schläfen: »betrogen!« brannte es in seinem Hirn, betrogen – und durch meine Schuld betrogen! Sagte nicht der Lehrer voraus, wie es kommen würde? – O warum glaubte ich ihm nicht, der mich doch nie betrogen? – Und was soll aus mir werden? Umkehren? – Zu spät! nie kann mir Margaret verzeihen, was ich an ihr gesündigt!«

Spät in der Nacht erst kehrte er heim. Seine Mutter, die noch weinend über der Bibel wachte, erschrak zum Tod über sein verstörtes Aussehen. Allein ihre besorgten Fragen, ihre ängstlichen Klagen schien der Sohn nicht zu hören, stöhnend warf er sich auf die Bank hinter dem Tisch und legte das Gesicht auf die Arme.

Ein Pochen an das Fenster schreckte die Bäuerin auf. Als sie zitternd den Flügel öffnete, prasselte ein Windstoß in das Zimmer und verlöschte die Lampe, draußen aber sagte ihr Ältester, der Beckenjörg, in einem Ton, den sie lange nicht mehr vernommen: »Mutter, wo ich Euch weh' getan, verzeiht mir, von heute an werde ich ein anderer Mensch, ich bin zur Einsicht 'kommen. Und macht Euch bereit, morgen in der Frühe soll Euch mein Knecht nach Dammsbrück fahren. – Mutter, bringt mir Frau und Kinder mit; Ihr dürft nicht abgehen drüben ohne mein Mariebärble und meine Kinder – habt Ihr's verstanden? Sagt meinen Schwiegerleuten und meinem Mariebärble, ich wollte jede Straf' auf mich nehmen, nur soll mich mein Mariebärble nimmer allein lassen, ich ertrag' das Leben nimmer. Gelt, Ihr tut das, Mutter? Der Herrgott wird's Euch lohnen!«

Karl hatte inzwischen seine Lage nicht verändert, die dringenden Fragen der Bäuerin schien er zu überhören. Als ihn nun aber die Mutter weinend bat, den Umgang mit dem Jockenhannes aufzugeben, die Freierei mit der Lina rückgängig zu machen und sich mit der Herrnbauersmargaret auszusöhnen, da fuhr er, wie aus einem Traum erwachend empor, blickte wild und verstört um sich. »Zu spät!« rang es sich keuchend aus seiner Brust los, damit rannte er aus der Stube.

Der Nordwind heulte um die Giebel, die Dachrinnen rauschten, der Regen prasselte an die dunkeln Fenster des hochragenden, stattlichen Kirchbauernhauses. Der Herr des Hauses wankte fassungslos hinter dreifach verschlossenen Türen im dunkeln Zimmer herum, kalten Todesschweiß auf der Stirn, das geladene Doppelgewehr in der Hand.

»Verloren!« stöhnte Hannes. »Alles verloren! Der Schuster sinnt auf Verrat, der Uhrmacherle ist ein sinnloses Vieh, der Paule ist mir auf der Spur – und nun auch der Schulmeister! Warum habe ich ihn nicht erkauft um jeden Preis? – Verloren! Der heutige Abend ist mein Untergang! – Sah mich der Beckenkarl nicht an, als wolle er mir an die Gurgel fahren? Ist nicht auch der Beckenjörg von mir abgesprungen? – Und was ist das für ein Leben? Warum sind mir jetzt die drei Finger immer kalt wie Eis? Warum durchschauert's mich, so oft ich mein Halstuch binde? Soll ich das Elend ewig mit mir herumschleppen? Warum mache ich nicht ein Ende? –

Aber wenn es nun mit dem Fingerdruck doch nicht aus wäre? Wenn es eine Ewigkeit gäbe? Einen gerechten Gott? – Wenn die Toten aus ihren Gräbern aufstiegen? – Und doch, kann's drüben schlimmer sein? Kann es ärgere Pein geben, als ich sie jetzt schon erdulden muß? Wie? Soll ich auch noch den Menschen in die Hände fallen, meine Feinde über mich jubilieren hören, mich in Gerichten und Gefängnissen langsam zu Tode martern lassen, während mir das drüben dennoch unverkürzt bleibt? Was zaudere ich noch? Was auch kommen mag, schlimmer kann es nicht werden – vorwärts! –

Und soll ich dem Schulmeister den Triumph gönnen, daß er mich auf den ersten Anlauf über den Haufen wirft? Soll ich mir nachreden lassen, ein trauriger Schulmeister habe mich, den Jockenhannes, gründlich überwunden? – Bleibt mir der Schuß nicht immer gewiß? Warum nicht wenigstens erst versuchen, meine Gegner zu demütigen, daß sie ihr Lebtag mit Herzklopfen an den Jockenhannes denken? Und steht es denn überhaupt so schlimm, daß ich feige die Flinte ins Korn werfen müßte? Der Uhrmacherle und der Wagnerspaule, der Schuster auch, die müßten freilich stumm gemacht werden seiner Zeit – warum sollte mir das nicht gelingen? Und jetzt weiß ich auch, was mir so schwer auf dem Gemüt liegt. – Gewissen? Hätte ich nur erst die Mitwisser vom Hals, dann wollt' ich mit dem Gewissen wohl sanft schlafen! – Und warum denn verzagen? Habe ich nicht den Herrnbauer so gut wie sicher? Und die heutige Rede dem Pfarrer in der richtigen Weise hinterbracht – wenn das dem Schulmeister nicht den Hals bricht, dann will ich ein Schulbube werden und nochmal das Abc lernen! Und wenn die Rede des Schulmeisters die Brücke würde, mich ernstlich mit dem Pfarrer zu verbinden? Er ist ein heiliger Mann, niemand leugnet's! – Wenn ich erst Ordnung um mich geschaffen habe, dann mache ich meinen Frieden mit dem Herrgott, der Pfarrer muß meine Sünden wegbeten, und dann will ich ja auch fromm und gut werden, mild und barmherzig!«

Heiße Tränen rollten dem Mann in dunkler Kammer über die Wangen, er hörte nicht, wie der Sturm gespenstisch um das Haus heulte, an Fenstern und Laden rüttelte und den Regen prasselnd auf Gassen und Dächer niederwarf.


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