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Als Piddl aus den Ferien zurückkehrte, fand er in dem Hause seiner Pflegeeltern alles unverändert, und während er dasaß und erzählte, was er an Sonnenschein und frohen Tagen erlebt hatte, konnte er die bittere Empfindung nicht los werden, daß es unrecht von ihm gewesen war, glücklich zu sein, während zu Hause Sorge und Kummer mit dumpfem Druck auf allen lasteten. Immer einsilbiger und stiller wurde er, und als er am Abend zum erstenmal wieder in seine enge, kleine Kammer trat, lag es wie ein Alp auf ihm, als wenn die ganze Last an Sorgen und niederdrückenden Gedanken, die in dem kleinen Hause täglich neu gedacht wurden, sich auf ihn gelegt hätte und ihn langsam erdrücke.
Anschütz hatte noch keine Arbeit wieder. Er hatte den ganzen Abend, trübe vor sich hinstarrend, in der Hinterstube gesessen, hatte den Erzählungen Piddls zugehört, war zuweilen leise seufzend aufgestanden und hatte mit einigen Schritten stumm das Zimmer durchmessen, um sich dann wieder in seine Ecke zu setzen.
Das Gute war, daß Anschütz nicht trank, nun er ohne Arbeit und Verdienst war. Aber grau, unter schleppendem Gleichmaße vergingen die Tage, und scheu und gedrückt gingen die Kinder aus und ein. Es war, als wenn ein Toter im Hause wäre. Kein Lachen, kein lautes Wort scholl durch das Haus. Die Sorge des stummen, von heimlicher Unruhe und Sorge gequälten Mannes, der in der Hinterstube auf und ab ging, seufzte und wieder auf und ab ging, tagein, tagaus, lag auf allen mit bangem Druck.
Die Fabrik war längst wieder im Betriebe, aber Anschütz war nicht wieder eingestellt worden. Warum – wußte niemand, außer Anschütz selbst, der nicht darüber sprach und das Unausgesprochene hinter seiner von schweren Sorgenfalten durchfurchten Stirn verbarg.
So verging der Sommer und machte einem regnerischen, trüben Herbste Platz, der das Laub von den Bäumen zerrte, mit scharfem Zuge durch die Straßen fegte und des Abends mit pfeifendem Sausen über die Dächer fuhr.
Es ging wie ein Aufatmen durch das ganze Haus, als Anschütz endlich im Herbst wieder Arbeit bekam. Er war nach unzähligen vergeblichen Wegen und nutzlosen Bemühungen bei einer Arbeitskolonne eingestellt worden, die am Hafen beim Entlöschen der Frachtschiffe beschäftigt wurde. Schweißbedeckt von der ungewohnten Arbeit kam er des Abends heim, bestaubt und schmutzig, kleine Riß- und Quetschwunden an den Händen, die er sich beim Hantieren an den mit scharfrandigen Blechstreifen benagelten Kisten und Fässern geholt hatte.
Alle waren um ihn beschäftigt, wenn er abends heim kam. Anny hatte das Waschwasser schon für ihn bereitgestellt, und Piddl prickelte ihm beim Schein der Küchenlampe mit feiner Stecknadel die Holzspänchen aus den Händen, die er sich bei der Arbeit hineingestoßen hatte. Die Brotschnitten wurden allmählich wieder dicker, die Mahlzeiten reichlicher, und langsam wich das graue Gespenst der Sorge wieder aus dem kleinen Hause, in dem es so lange mit seiner dumpfen Gegenwart alles bedrückt hatte.
Aber allmählich mischte sich in den Atem des Vaters wieder jener Geruch, der wie ein Gifthauch von ihm ausging und die stille Zärtlichkeit, die ihm entgegenwuchs, wieder ertötete, der Geruch des genossenen Branntweins. – –
Im Frühling des folgenden Jahres wurde Piddl konfirmiert. Es war an einem feuchtkalten Märzmorgen. Noch lag der Schnee des Winters auf den Straßen, zusammengetreten und zu einer schwarzen Kruste erstarrt, die an jedem Tage unter der Mittagssonne zu schmelzen begann, um in der folgenden Nacht von neuem zu gefrieren.
Die Luft war klar und scharf, und selbst des Mittags, als Piddl mit seiner Mutter aus der Kirche heim kam, wehte ein kalter, schneidender Wind, gegen den die Sonne, die unter lichten, ziehenden Wolken am Himmel stand, nicht aufzukommen vermochte.
Frau Anschütz war stolz und froh zumute. Ihr war, als wenn sie ein eigenes Kind zur Konfirmation begleitet hätte, und mit stiller Zärtlichkeit blickte sie auf Piddl, der in seinem schwarzen Anzuge, den steifen Konfirmationshut auf dem Kopfe, neben ihr ging. Der Anzug war ihm zu groß, gewiß. Die Ärmel drängten sich wirklich zu weit über die Hände. Aber es war doch wahrscheinlich, daß Piddl in den nächsten Jahren ins Wachsen kommen würde, und dann würden ihm die Ärmel bald zu kurz geworden sein, wenn man sie so genommen hätte, wie sie jetzt eigentlich hätten sein müssen.
Still ging Piddl neben ihr, das Gesangbuch in den von der Kälte rot angelaufenen Händen. In seinen Ohren lag noch der Klang der Orgel, die noch eben mit mächtigem Brausen das hohe Kirchenschiff erfüllt hatte. Traurig dachte er an seine Mutter, die heute den größten Freudentag ihres Lebens gehabt hätte, wenn sie ihn erlebt hätte.
Vorher, während des Abendmahls, hatte er immerfort an ihr Begräbnis denken müssen, und der in feierlichen Akkorden verhallende Chor auf der Empore der Kirche hatte ihn mit schier überirdischer Gewalt durchschauert. Ihm war, als trete jemand zu ihm, fasse ihn bei der Hand und führe ihn fort. Langsam war die Kirche um ihn versunken. Die Stimme des Geistlichen klang aus weiter Ferne zu ihm herüber, dunkel und unverständlich. Dann sah er sich über eine Wiese gehen. Ein schmaler Weg führte zu einem Berge hinauf, und er stieg und stieg. Eine klare, reine Luft umgab ihn, und trotzdem er niemand sah, meinte er doch, es sei jemand neben ihm und führe ihn aufwärts. Immer freier und lichter war ihm geworden. Ein paar Bäume standen am Wege, schlank und hoch und feierlich still, wie ein paar Säulen, unbeweglich in der stillen Luft.
Ihm war froh und selig wie in seinem Leben nicht. Er hätte immerfort so weiter gehen mögen, höher und höher. Plötzlich hörte er dann einen Gesang über sich erklingen, weit entfernt, von wunderbarem Wohlklang getragen. Aber nirgends war ein Sänger zu sehen. Ihm war, als habe die Stille um ihn herum plötzlich ihre Stimme erhoben und singe.
Da hatte ihn plötzlich sein Nachbar am Ärmel gezupft und geflüstert: »Du, Piddl, wir sind dran!« Und stolpernd war er aus der Kirchenbank getreten und war auf den Altar zugeschritten, Brot und Wein zu empfangen, zitternd vor Aufregung und Verwirrung, einen faden, sonderbaren Geschmack im Munde, den er jedesmal spürte, wenn er sehr aufgeregt war. Kühl, wie das Wasser einer Waldquelle, hatte dann der Wein seine trockenen Lippen berührt, und mit unsicheren Knieen und klopfendem Herzen war er nach dem Empfang des Brotes auf seinen Platz zurückgeschritten, befangen und wie im Traum, von einem frommen Schauer erfüllt, der wie ein Rausch über seinen Gedanken lag. –
Zu Hause empfing Anny die Heimkommenden mit verweinten Augen. Das Mittagessen, ein Topf voll Erbsensuppe, war ihr auf dem Feuer verbrannt. Ärgerlich schimpfend stand Anschütz in der Küche, das Gesicht von Zorn und Branntwein gerötet.
»Wat tuste mit zur Kirche zu laufen!« schrie er wütend, als er seine Frau eintreten sah. »Wahr'n andermal dein' Arbeit! Die ganze Erbsensuppe zum Deubel! Da, riech se mal! Stinkt wie Luder!«
Er nahm den Topf und warf ihn sinnlos vor Ärger auf den Gossenstein, daß die Schüssel zerbarst und die Kinder laut aufweinend aus der Küche liefen.
Piddl stand bleich wie ein Toter und sah auf seine Pflegemutter, die mit zitternden Händen Brot und Butter auf den Tisch stellte und mit weinerlichen Worten ihren Mann zu beruhigen versuchte.
Aber der hörte auf nichts, griff ärgerlich nach seiner Mütze und verließ, die Tür hinter sich zuschlagend, das Haus.
Lähmende Stunden voll Unruhe und Sorge, was der Abend bringen werde, wenn der Vater heimkam, folgten dem kärglichen Mittagbrot, während der Himmel sich mehr und mehr bezog und bleigraue, schwere Wolken vom Wind herangewälzt wurden, die ein stumpfes, totes Licht über die Gassen breiteten.
Am Nachmittage besuchte Piddl das Grab seiner Mutter.
Es lag in einer jener unendlichen und unübersehbaren Reihen, die Grab an Grab enthielten, zwischen denen der Fuß nur eben Platz zum Durchschreiten fand.
A I C 1317 stand auf dem Steine, der die Stelle bezeichnete.
Ein Gefühl unendlicher Verlassenheit beschlich den Knaben, als er vor dem Hügel stand. Ein dichter, grauer Regen begann vom Himmel herabzurieseln und trommelte leise auf seinen Schirm.
Ein paar Efeuzweige, die er im vorigen Sommer auf das Grab gepflanzt hatte, hatten lange Schösse getrieben, die nun frierend, vom Winde zerzaust, halb auf dem Wege lagen. Das Fuchsienstämmchen, das seine Mutter so lange gepflegt und das er hierher gepflanzt hatte, schien erfroren zu sein. Mit nackten, sperrigen Zweigen stand es am Kopfende des Grabes und streckte sich tot in die nasse, windige Luft. –
Als er heimkam, war Klara da. Sie hatte ihm einen Topf blühender Krokus gebracht, die mit zartem Lila hoffnungsfreudig aus der grünen Umhüllung des Topfes hervorsahen.
»Ich gratuliere dir,« sagte sie, als er hereinkam, und schaute ihn lächelnd an.
»Die Mutter schickt dir die Blumen,« setzte sie hinzu und freute sich, wie seine Augen glänzten, als er das Töpfchen behutsam in die Hand nahm und betrachtete.
»Bist du auch schon konfirmiert?« fragte er.
»Am nächsten Sonntag!« rief sie fröhlich. »Denk mal, ich komme nun doch in das Putzgeschäft von Hermes, Mutter hat mich angemeldet, und ich bin angenommen. Was wirst du?« fragte sie.
»Ich gehe zur Werft,« sagte Piddl.
»Ach, – zur Werft? Da wirst du es aber sauer haben.«
»Meinst du? – Es wird nicht so schlimm werden. Aber verdienen tue ich gleich vom ersten Tage an.«
Frau Anschütz brachte Kaffee und Gebäck, und alle setzten sich an den Tisch. Auch Anny und Fränzchen mußten heranrücken. Da klopfte es. Es war Anton Rolle, der auf seinen Krücken gekommen war, um Piddl Glück zu wünschen. Piddl sprang auf, um ihm beim Niedersetzen zu helfen, aber Anton hatte sich schon auf dem Stuhle neben der Türe niedergelassen, nahm die Krücken unter den Achseln weg und schüttelte Piddl die Hand.
Piddl strahlte vor Freude. Die Anteilnahme Antons und Klaras war wie ein unvermuteter Sonnenstrahl in die trüben Stunden dieses Nachmittags gefallen.
Er lächelte verlegen in sich hinein, nötigte unausgesetzt zum Kaffeetrinken, trank zwischendurch selbst, verschluckte sich, mußte husten und lächelte dann wieder.
Frau Anschütz sah zu, wie die Kinder aßen und tranken, aber trotzdem wollte in ihr keine rechte Heiterkeit aufkommen. Immer wieder mußte sie an den verflossenen Mittag und den Abend denken, wenn ihr Mann heimkehren würde.
»In der nächsten Woche geht's wohl schon los auf der Werft?« erkundigte sich Anton.
Piddl wurde ganz aufgeregt. »Am Montag,« rief er. »Weißt du, ich fange mit Nietenwärmen an. Ich komme aber später in die Schlosserei, an den Schraubstock, und später auch an die Drehbank. Die wird elektrisch getrieben, weißt du. Karl Grützinger hat mir davon erzählt; der arbeitet ja schon zwei Jahre da.«
»Dann hast du ja gleich einen Kollegen!«
»Ja, ja,« rief Piddl und fühlte, wie die Blicke der übrigen auf ihm ruhten, in leiser Bewunderung seiner zukünftigen Tätigkeit.
»Eine blaue Schürze kriegt er vor,« rief Anny und holte aus der Kommode eine nagelneue Arbeitsschürze hervor, mit Messingkettchen und großer, aufgenähter Tasche, wie sie die Schlosser und Tischler trugen.
Es half nichts, Piddl mußte die Schürze zum Spaß vorbinden. Dann griff er übermütig nach seiner Mütze, setzte sie schief aufs Ohr und rief, die Mütze lüftend: »Guten Tag, Frau Anschütz, ist was kaputt im Hause?« –
Am Abend kam Anschütz ohne Gruß und Wort wieder ins Haus und ging in die Küche, um sich dort unter der Wasserleitung zu waschen.
Zum Ersatz für das ausgefallene Mittagessen hatte die Mutter ein warmes Essen für den Abend gemacht und trug nun, heimlich zitternd, die Schüsseln auf.
Schweigend setzten sich alle zu Tisch und warteten auf den Vater, der in die Kammer gegangen war und eigensinnig das Essen verschmähte. Niemand mochte gehen, ihn zu bitten, und als das kleine Fränzchen, mit dem er immer am freundlichsten war, zu ihm geschickt wurde, schob er es ohne ein Wort wieder zur Kammertüre heraus. Ohne gegessen zu haben und ohne Bescheid zu geben ging er zu Bett, und seine Gegenwart lag nun wie eine drohende Gewitterwolke, die sich nicht entladen wollte, über dem Hause.
Anton und Klara waren längst fortgegangen, um nicht mit Anschütz zusammenzutreffen. Klara hatte den unglücklichen Abend, an dem Piddl mit Anschütz den Zusammenstoß gehabt hatte, noch nicht vergessen, und Anton wußte, daß Anschütz nicht gern Besuch im Hause sah.
Als Anschütz dann nach einer halben Stunde, die alle mit heimlichem Herzklopfen durchwartet hatten, noch nicht zu Tisch gekommen war, lauschte Frau Anschütz an der Kammertür und merkte, daß er zu Bett gegangen war.
Stumm begannen darauf alle die bereits kalt gewordene Suppe zu essen.
Bekümmert sah Piddl zwischendurch zu seiner Pflegemutter hinüber, die vergrämt und still hinter ihrem Teller saß und den Löffel bereits wieder weggelegt hatte.
Als Anny dann den Tisch abräumte, ging er zu ihr hinüber, streichelte ihr die Backe und wollte ihr Trost zusprechen.
Aber er merkte, daß er jetzt nichts sagen dürfe, wenn er nicht selbst in Tränen ausbrechen wollte, und ging darum ohne Gruß hinaus und stieg eilig in seine Kammer hinauf.
Oben lag er still in seinen Kissen, ohne einschlafen zu können. Der verflossene Tag wollte ihm lange nicht aus dem Sinn. Er mußte hier helfen! Den Gedanken wurde er nicht los. Er würde ja jetzt selbst verdienen! Verdienen und groß werden war nun sein einziger Wunsch!
Das stille Dahinleben, sein Grübeln über dies und das mußten nun vorbei sein. Jetzt kam das Leben, trat vor ihn hin und fragte ihn: ›Was willst du aus mir machen?‹
Das war so viel, was auf ihn wartete.
Die Mutter war da und das kleine Fränzchen. Anny würde ja schon bald selbst mit verdienen können.
Der Pflegevater? Ja, das war nun so eine Frage. Aber vielleicht würde er später auch noch mal anders werden. Die schwere Arbeit machte ihn gewiß auch oft verdrossen. Später würde er allein verdienen, Piddl Hundertmark, und zu dem Pflegevater sagen: ›Nun ruh' dich mal aus, nicht? Jetzt kann ich's allein.‹ Dann würden wieder ruhige, stille Zeiten kommen, wie damals, als der Vater nicht zur Arbeit gegangen war.
Er reckte sich vor Arbeitslust und Tatenfreude im Bette.
Nur Geduld! Nur ein wenig Geduld!