Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

8.

Am Weihnachtsabend schien es wirklich, als wollte es niemals wieder recht Tag werden. Dicke, graue Wolken zogen unter dem Himmel hin, träge und langsam, als ginge sie all die Unruhe der Festvorbereitungen da unten auf der Erde nicht das mindeste an. Schwer und tief zogen sie über den hohen, rauchgeschwärzten Dächern der Großstadt dahin, als warteten sie nur darauf, in dichten Nebeln niederzusinken und die ganze Stadt unter ihren feuchten Schleiern begraben zu können. Am Nachmittag begann es zu regnen. Ein sprühender, rieselnder Regen war es, der geräuschlos auf das Pflaster niederrann und eine Decke von klebrigem Schmutz darauf bereitete. Schon früh am Nachmittage mußten allenthalben in den Läden die Gasflammen angezündet werden, und doch schien jeder bereit, in Vorfreude auf den kerzenstrahlenden Abend den trüben Tag zu vergessen.

Piddl hatte alle Hände voll zu tun, denn auch beim Bäckermeister Meyerdierks am Stintgraben waren die Tage vor dem Weihnachtsfeste die besten im ganzen Jahre. Die Hausfrauen brachten dann die Stollen, die sie zum kommenden Feste selbst geknetet hatten, zum Garmachen, und obendrein wurden in der Bäckerstube Kringel und Kuchen aus Zuckerteig gestochen, die dann, noch warm von der Hitze des Ofens, in den Laden wanderten, wo sie auf großen Platten darauf warteten, gekauft und mit Bändern am Christbaum aufgehängt zu werden. Das ganze Haus, das schiefwinklig und altersschwach zwischen den Häusern am Stintgraben lag, war erfüllt von dem süßen Geruch all der frischen Backwaren, unter denen besonders die Feststollen, mit Rosinen und Mandeln gespickt, braun und glänzend das Haus mit dem Duft des kommenden Festes erfüllten und nur darauf zu warten schienen, zu ihren Eigentümern gebracht und angeschnitten zu werden.

Piddl trug einen nach dem anderen auf seiner Kuchenplatte davon. Auf großen, von der Hitze des Backofens braun gewordenen Zetteln standen die Namen der Kunden, denen die Stollen gehörten, und es hieß aufpassen, damit man nicht einen an eine falsche Adresse brachte.

Piddl war redlich müde von der unausgesetzten Lauferei am Nachmittage, aber je weiter es zum Abend ging, desto mehr lichteten sich auch die Reihen der Kuchen, und als es sieben Uhr schlug, war endlich der letzte besorgt. In vielen Häusern hatte man schon zu feiern begonnen, und Piddl hatte jedesmal Herzklopfen bekommen, wenn er in diesem oder jenem der Häuser durch die Türspalte den Schimmer des Tannenbaumes gesehen hatte, wenn das Jubeln der Kinder und das Klingen ihrer Weihnachtslieder an sein Ohr gedrungen war.

Als der Zeiger der Uhr auf acht vorrückte, konnte er sich kaum mehr auf den Beinen halten. Er stolperte über seine eigenen Füße, und die Meisterin schickte ihn fort.

»Geh' nur jetzt nach Hause,« sagte sie gutmütig. »Wir werden schon fertig! Marie ist ja da (Marie war das Dienstmädchen) und der Geselle.«

Sie schnitt ihm ein Stück von ihrem eigenen Feststollen ab, gab ihm seinen Wochenlohn aus der Ladenkasse und fuhr fort: »Diesmal bekommst du zwei Mark statt einer. Es war eine saure Woche. Und dies hier bekommst du noch dazu!« Sie reichte ihm ein Paket.

Piddl war glühend rot geworden. Er nahm ungern etwas geschenkt, und darum stand er da, schüttelte den Kopf und wollte das Paket nicht annehmen.

»Das nimmst du mit,« sagte die Meisterin kurz und bestimmt. »Es sind ein Paar Stiefel drin für dich und ein Paar Handschuhe. Ich glaube, du kannst die Sachen brauchen, und für deine Mutter ist ein neues Tuch drin, das sie um die Schultern schlagen kann, wenn sie zum Waschen ausgeht. Nun mach', daß du fortkommst.« –

Glückselig lief Piddl durch die Straßen heimwärts. Seine Müdigkeit spürte er kaum mehr. Ein Paar neue Stiefel, nagelneue! Er konnte sich nicht besinnen, jemals neue bekommen zu haben. Die Mutter pflegte seine immer nur beim Althändler zu kaufen, wenn es gar nicht mehr gehen wollte mit den alten.

Und ein Paar neue Handschuhe! Die brauchte er eigentlich gar nicht!

Klara Dinghammer fiel ihm wieder ein, die neulich ihre Papierblumen auf der Straße feilgehalten hatte und der so jämmerlich die Hände ausgefroren waren dabei.

›Ich könnte die Handschuhe Klara Dinghammer schenken,‹ dachte er, und es wurde ihm ganz heiß bei dem Gedanken vor Freude. ›Die Mutter kriegt das Tuch, Klara die Handschuhe und ich die Stiefel, da hat jeder etwas!‹

Als er die Stube seiner Mutter betrat, glühten seine Wangen vor Freude und Aufregung, und seine Augen glänzten.

Die Mutter war eben von der Arbeit heimgekommen. Sie stand gebückt vor dem kleinen Ofen und legte Feuer an.

»Bist du es, Piddl?« fragte sie, ohne aufzusehen.

»Und ob,« rief er und lachte glücklich auf.

»Erst mal habe ich doppelten Lohn gekriegt für diese Woche,« platzte er dann heraus und ließ ein Zweimarkstück auf den Tisch fallen. »Dann hat mir die Meisterin 'n Stück von ihrem Feststullen geschenkt.« Er legte die knisternde Tüte auf den Tisch. »Und dann habe ich hier noch was. Das zeige ich dir aber noch nicht. Du mußt erst mal die Augen zumachen! Nein, ganz zu! Nicht gucken!«

Hastig nestelte er den Bindfaden los, ließ die Stiefel und Handschuhe auf die Erde gleiten, (wie frisch das Leder der Stiefel roch und wie schwarz sie glänzten!) nahm das Umschlagetuch und schlang es der Mutter mit einem Schwunge um die Schultern.

»Sieh, sieh!« sagte Frau Hundertmark und öffnete die Augen. »Ein Umschlagetuch! Ne, so was! Daß die Meisterin auch an mich gedacht hat!«

»Fein, was?« rief Piddl und strich mit der Hand darüber.

»Und ich hab' 'n Paar Stiefel gekriegt, sieh mal, ganz neue, die noch niemand vor mir angehabt hat. Wenn sie nicht passen, kann ich sie umtauschen.« –

Als die beiden ihr Abendbrot verzehrt hatten, begann Piddl: »Weißt du, Mutter, neulich traf ich Klara Dinghammer auf der Straße. Sie verkaufte Papierblumen. Ich sag' dir, die Hände waren ihr wie Eis. Was meinste, wenn ich ihr die Handschuhe zu Weihnachten schenke? Ich brauche sie ja doch nicht! Ich steck' die Hände in die Hosentaschen, wenn's mal recht kalt ist, und überhaupt 'n Junge! In unserer Schule kommt kein Junge mit Handschuhen an.«

Das log er nun. Aber er mußte doch irgendeinen Grund angeben.

»Wenn du doch des Morgens den Brotkorb trägst?« fragte die Mutter.

Aber er war schon draußen. Wie ein Wiesel huschte er über die Straße nach Dinghammers, die nebenan im Souterrain wohnten. Er kannte dort jeden Schritt, sonst wäre er gewiß gestolpert, so dunkel war es dort. Leise klopfte er an die Stubentür.

Klaras Mutter war allein im Zimmer.

Wo denn Klara sei?

Sie sei zum Christmarkt gegangen, sagte Frau Dinghammer, die nur ungern eingestand, daß Klara wieder mit Blumen unterwegs war.

Piddl machte sofort wieder kehrt. Draußen klopfte er leise an das Fenster seiner Mutter und rief: »Klara ist zum Christmarkt. Ich laufe eben hin,« und dann trabte er los, ohne eine Antwort abzuwarten.

Tannenbäume standen in langen Reihen auf dem Platze, lehnten sich aneinander und fragten sich, was mit ihnen werden sollte. In kleinen Verkaufszelten standen frierende Verkäufer hinter Schachteln voll Kerzen und Baumschmuck, traten von einem Fuß auf den andern und bliesen sich in die Hände. Dort stand auch Klara. Piddl hatte sie bald gefunden. Sie hielt wieder ihr Körbchen mit Schneebällen und Rosen, die ihre Mutter aus Seidenpapier angefertigt und mit feinem Draht gebunden hatte.

»Vielleicht Blumen gefällig? Rosen? Schneebälle?«

»Klara,« sagte Piddl und trat auf sie zu.

»Piddl!« rief sie überrascht.

»Na?« fragte er, »hast du heute mehr verkauft als neulich?«

Sie zuckte die Achseln. »Woher kommst du denn noch so spät?«

»Oh,« log er, »ich bummle hier so 'n bißchen 'rum.« Daß er allein ihrethalben den Weg noch hierher gemacht hatte, wollte er nicht sagen.

Eine Pause entstand.

»Schlechtes Wetter,« nahm er die Unterhaltung wieder auf.

»Ja, der Regen, nicht?«

»Friert dich auch?«

»Warm wird man nicht beim Stehen,« entgegnete sie und lächelte.

»Die Hände, was?«

»Es geht an,« meinte sie und guckte die Reihe hinunter, um nach einem Käufer auszuschauen.

Eine Dame ging dicht an ihr vorüber.

»Blumen gefällig? Rosen? Schneebälle? Zehn Pfennig das Stück.«

»Danke, mein Kind.«

Piddl stand und überlegte. Er wußte nicht recht, wie er es anbringen sollte. Wenn sie sein Geschenk nun ausschlug?

»Ich habe hier ein Paar Handschuhe,« platzte er heraus, »die solltest du anziehen! Sie sitzen mächtig warm. Ich brauche sie gar nicht. Am besten behältst du sie gleich.«

Er hielt sie ihr hin.

»Willst du sie nicht mal anprobieren?«

»Mich friert gar nicht so,« beteuerte sie, ohne eine Miene zu verziehen.

»Zieh sie doch mal an. Es freut mich doch, wenn du sie trägst,« sagte er leise bittend.

Verlegen und unschlüssig hielt Klara sie in ihren Händen.

»Sieh mal, die Schneebälle, Mama,« sagte ein junges Mädchen und blieb mit ihrer Mutter vor Klaras Körbchen stehen.

Das war eine Ablenkung. Klara verkaufte zwei Stück.

Als die beiden weitergingen, zog Klara plötzlich die Handschuhe an. »Weil du's gern willst,« sagte sie.

Piddl lachte glücklich. »Wieviel Blumen hast du denn noch?« fragte er eifrig.

Sie zählte leise. Fünf Schneebälle und acht Rosen.

»Ich will dir helfen,« sagte er. »Du mußt nur etwas lauter rufen. Die Leute hören dich gar nicht, wenn sie vorbeigehen. Soll ich mal?«

Und nun verkauften sie zu zweien. Piddl hatte ein paar Schneebälle in die Hände genommen und rief: »Schneebälle? Rosen? Wunderschön für den Christbaum! Nur zehn Pfennig das Stück.« –

Es schlug zehn Uhr vom Kirchturm, als sie die letzte Blume verkauft hatten.

Hand in Hand gingen sie heim.

Klara war selig vor Freude. Sie dachte nur an das glückliche Gesicht ihrer Mutter, wenn sie nun heimkommen würde mit dem leeren Korbe.

Vor ihrer Haustüre streifte sie die Handschuhe wieder von den Händen und wollte sie Piddl zurückgeben.

»Einmal geben – wiedernehmen – ist schlimmer, als wie stehlen!« rief er und sprang davon. –

Es hatte aufgehört zu regnen. Ein klarer, tiefblauer Winterhimmel spannte sich über der Stadt aus und entfaltete die schimmernden Schätze seiner Sternenwelt, als zünde sich auch die Erde nun ihren Weihnachtsbaum an, den großen Weltenlichterbaum, unter dessen Glanz sie sich anschickte, einzuschlafen, wie eine gute Mutter nach einem anstrengenden Tage voll lächelnder, müder Zufriedenheit die Augen zum Schlummer schließt.


 << zurück weiter >>