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Man hatte Piddl nach dem Tode seiner Mutter im Waisenhause unterbringen wollen, aber da war alles besetzt gewesen, und so hatte sich die Armenverwaltung entschlossen, ihn als Haltekind in Pflege zu geben.
Frau Anschütz, die schon zwei Ziehkinder pflegte, wohnte im Fabrikviertel der Stadt, wo lange, geradlinige Straßen, mit kleinen, anderthalbstöckigen Häusern bebaut, rechtwinklig, langweilig und öde die Geschäftsstraßen der Vorstadt durchschnitten. Ihr Mann arbeitete in einer der Fabriken, die die Nährquellen des ganzen Stadtteils bildeten. Das Häuschen, das die Familie Anschütz bewohnte, war ebenso nüchtern und langweilig wie die Straße, in der es stand. Von einem schmalen Flure kam man links in die beiden kleinen Zimmer und geradeaus in die Küche. Eine Treppe führte nach oben, wo ein paar Dachkammern mit schrägen Wänden als Schlafraum dienten.
Die Zimmer waren sauber gehalten und machten mit ihren braun gestrichenen Möbeln einen freundlichen Eindruck. Die Steinfliesen auf dem Flur wurden alltäglich geschrubbt, und der Kokosläufer, der über den Flur lief, war der Stolz der ganzen Familie, trotzdem er schon ein wenig schadhaft und abgetreten war.
Frau Anschütz hatte Piddl, als man ihn ihr am Abend des Begräbnistages seiner Mutter durch den Jugendpfleger hatte bringen lassen, mit überfließender Freundlichkeit und unzählig vielen Worten empfangen, die der verstörte Knabe angehört hatte, ohne ein Wort zu erwidern.
Sie hatte ihn in die Küche geführt, wo ihr Mann noch mit den beiden andern Pflegekindern beim Abendbrot gesessen hatte, hatte ihm eine Schüssel mit gebratenen Kartoffeln vorgesetzt und ihn unaufhörlich genötigt, zu essen und es sich schmecken zu lassen.
Gespannt und mit großen, verwunderten Augen hatten die Kinder, das sechsjährige Fränzchen und die zwölfjährige Anny, auf den Ankömmling geblickt, der schweigend vor seiner Schüssel gesessen hatte, ohne einen Bissen anzurühren.
Unaufhörlich hatte die Mutter auf ihn eingeredet, zuzugreifen, ganz wie zu Hause zu tun und nicht blöde zu sein. Schließlich war Anschütz mit einem ärgerlichen: »Laß 'n doch zufrieden, wenn er nu doch mal nich will,« dazwischen gekommen, und Piddl war froh gewesen, daß das viele Reden zu Ende gewesen war.
Dann hatte man ihm die Bodenkammer gezeigt, wo sein Bett stand, und er war gleich oben geblieben, um zu Bett zu gehen.
Da lag er nun in dem fremden Hause, das Gesicht von Tränen verquollen und gedunsen, und sah zu, wie die Dämmerung langsam durch das kleine, eiserne Dachfenster in seine Kammer rann.
Eine großblumige, vergilbte Tapete, die längst zersprungen und schadhaft geworden war, hing in der Ecke vor ihm mit einem großen Lappen von der Wand, und der Sommerwind, der durch das kleine, offenstehende Fenster warm und schwül hereindrang, bewegte das Papier mit leisem Knistern hin und her.
Ohne Willen horchte Piddl auf die Geräusche im Hause. Es lief jemand unten über den Flur, die Haustürglocke schellte, eine fremde Stimme klang von unten herauf, eine Tür wurde zugeschlagen, und es wurde wieder still.
Von der Nachbarschaft drang durch das offene Fenster das Spiel einer Handharmonika herüber.
Piddl klappte das Dachfenster zu und drückte die Finger in die Ohren, um es nicht zu hören.
Endlich brach das Spiel ab, und es wurde still. Die Dunkelheit hatte zugenommen, und lag nun weich über den wenigen armseligen Gegenständen, die in der Kammer standen.
Nun knarrte leise die Treppe unter leichten, trippelnden Schritten.
Anny und Fränzchen gingen in der Kammer nebenan zu Bett.
Piddl hörte durch die dünnen Bretterwände jeden Laut.
Anny half dem Kleinen beim Ausziehen. Leise wurde ein Stuhl geschoben, Kissen knisterten, und das Fenster wurde leise geschlossen. Dann klang deutlich das Trippeln nackter Füße auf den Fußbodendielen herüber. Darauf wurde es plötzlich still.
»Du, Anny!« klang da mit einem Male Fränzchens Stimme herüber.
»Ja?« antwortete Anny ebenso leise.
»Ich freu mir aber!«
»Warum denn?«
»Daß wir 'n Bruder gekriegt hab'n.«
»Ja, das is fein.«
»'n großen Bruder!«
»Ja, Fränzchen. Aber nu schlaf auch ein.«
»Du, Anny!«
»Sei lieber still jetzt, sonst wacht er noch wieder auf!«
Ganz leise: »Magst du ihn leiden, Anny?«
»Ja, du nicht?«
»Mh!!!«
»Nun müssen wir auch einschlafen. Nacht, Fränzchen.«
»Nacht, Anny.«
Damit verstummte das Gespräch der beiden.
Aber die wenigen Worte waren wie Balsam in Piddls Herz gefallen.
Ihren Bruder hatten ihn die beiden genannt! Er hatte ein paar Geschwister gekriegt!
Was keins der vielen gutgemeinten Trostworte vermocht hatte, die man ihm gesagt hatte heute und gestern und vorgestern – das hatten die wenigen armseligen Worte dieser Kinder getan: der Krampf, der sein Inneres wie mit eisernen Klammern umspannt hielt, löste sich, und weich und ohne Bitterkeit flossen seine Tränen in die Kissen seines Bettes.
Und während er weinte, wurde ihm immer leichter und freier.
Der ohnmächtige, schneidende Schmerz, mit dem ihn der Tod seiner Mutter erfüllt hatte, löste sich zum ersten Male in eine Art wehmütiger Ergebenheit, und als seine Tränen versiegten und er stiller und ruhiger atmend dalag, ordneten sich auch seine Gedanken und gingen wieder ruhiger ein und aus.
Warum hatte ihm Gott seine Mutter genommen, das Einzigste und Teuerste, was er besessen hatte? Warum? Warum? Dies Warum war die Frage, die immer wieder in ihm aufstand und die auch jetzt wieder ihre Stimme in ihm erhob, Antwort heischend, nur ruhiger jetzt und gelassener.
Aber eine Antwort fand er auch jetzt nicht. Es war da etwas in der Welt, was er nicht begriff, etwas Rätselhaftes, Unfaßbares, auf das niemand eine Antwort hatte, die frommen Schwestern nicht, die seine Mutter hatten sterben sehen, der Geistliche nicht, der an ihrem Sarge gesprochen hatte, und die Nachbarn und Bekannten nicht, die ihn hatten trösten wollen.
Der Pastor hatte von dem Ratschluß Gottes gesprochen, den der Mensch nicht verstehen könne, von seinem allmächtigen Willen, ohne den kein Sperling vom Dache falle, und von seiner großen, unergründlich tiefen Liebe.
Was war das für ein unbegreiflicher Gott, der voll so großer Liebe war und die Menschen doch aus dem Leben nahm, wie es ihm paßte, und der sich um die Tränen der Menschen dabei nicht kümmerte?
Piddl war im Religionsunterricht der Schule mit denselben Vorstellungen erfüllt worden, wie andere Kinder in seinem Alter. Aber dieser Gott, von dem man ihm erzählt hatte, der die Welt geschaffen und die Geschicke der Kinder Israel gelenkt hatte, um endlich seinen Sohn zur Errettung der sündigen Menschen in die Welt zu schicken, – dieser Gott eines gutgemeinten Unterrichts war für Piddl niemals ein Erlebnis geworden.
In seinem Leben war dieser Gott nicht gewesen, für ihn hatte er nicht gesorgt, ihm war er niemals begegnet.
Aber nun hatte er plötzlich mit starker Hand aus dem Unbekannten, Finsteren heraus jäh und gewaltig in sein Leben eingegriffen, seine Mutter mit seiner Hand berührt, ihr Herz still gemacht, ihre Hand erkalten lassen, und sie lag nun da draußen in der schwarzen Kirchhofserde, wohin ihr keine Liebe mehr folgen konnte.
Ein Schauer durchrann Piddl.
Er lebte also doch, dieser allmächtige und ewige Gott, der sich nur solange still verhalten hatte, bis es ihm gut schien, hervorzutreten und zu sagen: ›Ich bin der Herr!‹
Und wieder stand das Warum in Piddls Herzen auf, dieses schreckliche Warum, auf das es keine Antwort gab. Trug er eine Schuld an dem Tode seiner Mutter? Zürnte Gott ihm, hatte er ihn strafen wollen?
Aber was hatte er getan, um so bestraft zu werden? Was, um alles in der Welt? Und dann, wenn er wirklich etwas verschuldet hatte, mußte seine Mutter darum sterben?
Seine Gedanken verwirrten sich. Er verlor den Faden und warf sich in der schwülen, stickigen Luft der Kammer, unter der schweren Federdecke seines Bettes hin und her, von Unruhe gequält.
Ja, das war ja wahr, was der Pastor am Sarge gesagt hatte: sie hatte nun Ruhe. Sie brauchte nicht mehr zu arbeiten, und ihre immer fleißigen Hände ruhten nun aus von aller Arbeit. Sie fühlte keinen Schmerz mehr, und alles, was sie vielleicht noch zu erdulden gehabt hätte, das würde ihr nun erspart bleiben.
Er empfand doch einen leisen Trost bei diesem Gedanken.
Aber hatte der Allmächtige, der Herr über Leben und Tod, über alle Erden und Himmel der Welt denn kein anderes Mittel, sie davor zu bewahren, als den Tod, den dunklen, bitteren Tod, der heimtückisch wie ein Räuber aus dem Hinterhalt kam und vor dessen erbarmungslosem Herzen niemand Gnade fand?
Fragen, Fragen! Immer wieder Fragen, und nirgends eine Antwort.
Schweißbedeckt richtete sich Piddl im Bette auf. Mit mattem Lichte schien der Mond ins Zimmer und zeichnete das Quadrat des Fensters auf die gegenüberliegende Wand. Wie milde und ruhig das Licht war.
Nein, es war ein Unrecht in dem, was er da gedacht hatte, fiel es ihm da plötzlich ein. Gott hatte nicht bloß den Tod in seiner Hand!
War nicht auch Gott zugegen gewesen, damals, als in der kleinen Stube neben der Wohnung seiner Mutter das Kind geboren worden war, sich ihm das Geheimnis der Menschwerdung enthüllt hatte und ihm in der Stille des Pfingstmorgens beim ersten Schrei des Neugeborenen Schauer um Schauer durch die Seele gegangen war?
Hatte er nicht auch da Gott empfunden, den lebendigen, der geheimnisvoll im Leibe der Mutter den Menschen schuf?
War darum der Mensch das Eigentum Gottes, und Gott konnte mit ihm tun, was er wollte?
Rätsel über Rätsel, Fragen über Fragen!
Müde, und doch von seinen Gedanken bis ins tiefste erregt, sank er wieder in seine Kissen und schloß die Augen, und wie er nun da lag und nur das dumpfe Klopfen seines Herzens in seinen Ohren war, sah er plötzlich seine Mutter vor sich stehen, wie hergeweht, aus dem Dunkel der Nacht heraufgestiegen.
Sie sah ganz so aus wie früher, wenn sie in der Stille des Sonntags in ihrer Stube gesessen hatte. Das graue Sonntagskleid hatte sie an, und sie saß, wie sie so gesessen hatte, die Ellenbogen auf die Kniee gestützt, und sah ihn an; bedeutsam, aber ernst, von feiertäglicher Ruhe umflossen.
›Mutter, Mutter!‹ wollte Piddl rufen voll sehnsüchtiger Freude, – aber ehe er nur ein Wort sprechen konnte, verging die Erscheinung wie ein Hauch in kalter Winterluft, und nur das dämmerige Dunkel der Kammer lag wieder vor ihm und der helle Schein des Mondes an der Wand neben seinem Bette.
Und doch schien etwas von der Ruhe zurückgeblieben zu sein, mit der ihn das Bild der Mutter angeblickt hatte, und langsam und mild kam ihm endlich mit der tiefer und tiefer sinkenden Nacht der Schlaf.