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15.

Langsam lebte sich Piddl in seine neue Umgebung ein, und der Schmerz um den Verlust seiner Mutter verlor mit der Zeit das Schneidende und Scharfe der ersten Tage. Die veränderten Verhältnisse und die fremden Personen, mit denen zusammenzuleben er gezwungen war, lenkten seine Aufmerksamkeit in wohltätiger Weise ab und zerstreuten und beschäftigten ihn, ohne daß er sich dessen bewußt wurde. Die gutmütige Freundlichkeit seiner Pflegemutter, ihre Plauderlust und Redseligkeit taten ein übriges, ihn allmählich im Anschützschen Hause heimisch werden zu lassen, und besonders die Pflegegeschwister, an die er sich bald mit dem ganzen Hunger seines Herzens nach Liebe angeschlossen hatte, ließen ihn die Winkelgasse und die Ereignisse der letzten Wochen mehr und mehr vergessen.

Nur sein Pflegevater gefiel ihm nicht, ja, dessen mürrisches, gereiztes und polterndes Wesen stieß den Knaben geradezu ab. Er ging ihn darum am liebsten aus dem Wege, und meistens sah er ihn nur bei den Mahlzeiten.

Aber auch Anschütz schien eine Abneigung gegen den stillen, sonderbar ernsten und in sich gekehrten Jungen zu empfinden. Die mütterliche Hingabe, mit der seine Frau für den Jungen sorgte, kam ihm übertrieben und albern vor, und er konnte es nicht unterlassen, zuweilen spöttische Bemerkungen darüber zu machen.

So blieb das Verhältnis zwischen ihm und Piddl kühl und von einer Gleichgültigkeit und uneingestandenen Abneigung getragen, die später in offene Feindschaft übergehen sollte.

Eine ganz besondere Freude aber hatte Piddl an den Tieren, die Frau Anschütz pflegte.

Hinter dem Hause lag nämlich ein kleiner, enger Hofplatz, von einer geteerten Planke umgeben, schmutzig und unordentlich. Es wuchsen keine Blumen darin, und ein paar zerbrochene alte Steinfliesen lagen wie kleine Inseln in dem schwarzen Erdreich, das sich bei Regenwetter in einen klebrigen Sumpf verwandelte. Aber dieser Hofplatz barg bei all seiner Unordnung etwas ungemein Köstliches, das ihn in Piddls Augen wie ein Paradies erscheinen ließ. An der rechten Seite stand nämlich, aus alten Kistenbrettern zusammengenagelt, altersschwach und baufällig, von der Feuchtigkeit verbogen und verquollen, ein alter Stall. Es war nicht mehr klar zu erkennen, zu welchem Zwecke er ursprünglich gebaut sein mochte. Seine Form war so wunderlich, durch allerhand Anbauten in solch wunderlicher Weise entstellt, daß man wirklich nicht mehr erraten konnte, ob er anfangs als Hundehütte oder Kaninchenstall gebaut worden war.

Die Nachbarn, die aus ihren hochgelegenen Fenstern auf ihn heruntersahen, nannten ihn nur die ›Arche‹, und dieser Name paßte akkurat. Wie das sagenhafte Fahrzeug Noahs beherbergte der Kasten die verschiedensten Tiere. Zu der Zeit, als Piddl in das Haus kam, wohnte ein altes Huhn darin, das nur einen Fuß mehr besaß, ein Hahn, ein Kaninchen und ein paar Meerschweinchen. Der würdevollste von diesen fünf war der Hahn, ein greisenhaft altes Tier, groß und stark, mit doppeltem Kamme, hängenden Kehllappen, schwarzem, mit weißen, unregelmäßigen Flecken verziertem Gefieder und einer Stimme, die tief und dunkel klang, so daß sein Geschrei wie ein dumpfes Krokokokoh – –! über die Höfe der Nachbarschaft hinhallte.

Der Hahn hieß Jann.

Jann war ein Unikum. Das war keine Frage. Stundenlang konnte er tiefsinnig mit aufgeplusterten Federn unbeweglich auf einem Flecke stehen, wobei er die Nickhaut seiner Augen blinzelnd hin und her schob, und seine Betrachtungen anstellen. Er hatte jeden Fleck des kleinen, engen Hofes mit seinen Füßen ausgemessen, und in der feuchten Erde standen allenthalben die Spuren seiner großen, plumpen Zehen. Es gab überhaupt nichts mehr in Janns Umgebung, das ihm unbekannt gewesen wäre. Jeden Ritz in der Planke kannte er, jede Steinplatte auf der Erde. Es gab wirklich nichts mehr, das seine Aufmerksamkeit irgendwie hätte in Anspruch nehmen können, und so blieb ihm nichts, als seine trübseligen, stillen Betrachtungen, die er an jedem Tag mit der Ruhe und Unermüdlichkeit eines Philosophen von neuem begann.

Dann war Frieda da, die einzige Henne des Hofes, die nur einen Fuß besaß und klein und zierlich gebaut war, als gehöre sie nimmer mit Jann zusammen. Den einen Fuß hatte sie in früher Jugend in der Häcksellade des Bauernhofes verloren, wo sie zur Welt gekommen war, aber sie lief auch mit dem einen Fuß und dem stumpfen Ende des andern noch erträglich. Nur scharren konnte sie nicht recht. Der lange, rote Kamm stand gut zu ihrem blauschwarzen Gefieder. Aber er war etwas zu lang geraten und bedeckte immer das eine Auge wie eine Scheuklappe. Dadurch war sie gezwungen, den Kopf fortwährend ein wenig schief zu halten, wobei sie das freie Auge zum Himmel empor richtete, und dabei ging sie so eigentümlich geduckt, daß es aussah, als erwarte sie jeden Augenblick von dort her ein herabsausendes Unglück.

Piddl war über die Maßen entzückt, als er Jann und Frieda zum erstenmal sah. Sein Leben lang hatte er sich heimlich nach dem Besitze eines Tieres gesehnt, aber nie eines besessen. Da kamen nun diese beiden und musterten ihn mit aufmerksamen Augen, redeten miteinander in unverständlichen Kehllauten und entschlossen sich, Freundschaft mit ihm zu schließen.

Dann waren die Meerschweinchen da, aber die mochte er nicht leiden, sie sahen aus wie große, bunte Ratten, und Piddl konnte sich nicht an sie gewöhnen. Sie gehörten Anny, die die Tiere aber ebenfalls bald nicht mehr leiden mochte, als sie merkte, daß sie Piddl zuwider waren. So wurden sie denn eines Tages, das Stück zu zwanzig Pfennig, an Fritz Schuhmacher aus der Schifferstraße verkauft.

Das schönste aber war das Kaninchen.

Es war seidenweich, weiß wie frischgefallener Schnee, mit gelben Ohren und einem gelben Sattel auf dem weißen Rücken, hatte ein zierliches, schnupperndes Näschen, große, dunkle Augen, die voll Sanftmut blickten, und einen niedlichen Stummelschwanz.

Piddl strahlte, als er es erblickte. Vorsichtig nahm es Anny auf den Schoß und ließ es ihn betrachten. Er streichelte es, ließ die langen Ohren durch seine Finger gleiten und es ein Stück Brotrinde aus seiner Hand fressen. Aber das erregte den hellen Neid Janns. Er kam mit eiligen Schritten, gluckste und kollerte wie ein zorniger Puter und pickte plötzlich, als sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt, den Rest des Brotes aus Annys Hand, die Beute mit Frieda teilend, die neugierig und hungrig herbeigelaufen kam.

Piddl wurde der treueste Pfleger der Tiere. Morgens, ehe er zur Schule ging, stand er schon im Hofe, reinigte das Wasserbecken, streute Futter hin und öffnete die kleine Tür des Stalles, aus der die Tiere in den Hof schlüpften.

Es gelang seiner Pflege sogar, was seit langer Zeit nicht mehr vorgekommen war, Frieda zum Eierlegen zu bewegen. Er fütterte sie besonders gut und hatte ihr in einer Ecke des Stalles ein Nest aus einer alten Kiste zurechtgemacht, und eines Mittags fand er darin das erste Ei. Triumphierend trug es Piddl in die Küche.

Alle kamen und bestaunten das Wunder, und Friedas Lob war in aller Munde.

»Wir sollten es nicht kochen,« riet Piddl. »Wenn wir noch ein paar Tage warten, kommen gewiß noch welche dazu, und vielleicht, wenn Frieda dann anfängt zu glucken –!«

Die Aussicht, den Hof voll kleiner Küchlein zu sehn, riß Anny zu einem Freudentanz hin. Sie klatschte in die Hände, und das kleine Fränzchen kreischte vor Vergnügen laut auf, als es die allgemeine Freude sah.

Wirklich gab Frieda nach einigen Tagen das zweite Ei von sich und fuhr mit dieser löblichen Beschäftigung noch volle drei Wochen fort. Dann kam das Unerhörte, Atemversetzende! Frieda gluckte. Sie verließ das Nest nicht mehr, und am Abend dieses ewig denkwürdigen Tages wurden ihr die sorgsam gesammelten Eier anvertraut. Drei Wochen fieberhafter Spannung folgten. Piddl ging täglich in den Hof, um nachzusehen, und horchte an den letzten Tagen vor dem Ausschlüpfen der Kücken minutenlang hinter den Wänden des Stalles, ob sich vielleicht schon ein Piepen hören ließ. Eines Morgens war dann das Unglaubliche geschehen. Ein Küchlein war da und schaute mit klugen, schwarzen Augen unter dem Flügel der Mutter hervor, ließ sich in die Hand nehmen und ins Zimmer tragen, wo Piddl es mit vor Aufregung zitternden Fingern auf den Tisch setzte.

Anny jubelte, und Fränzchen konnte vor Entzücken nicht sprechen. Mit großen Augen starrte er auf das Tierchen, das piepsend zwischen Kaffeekanne und Milchtopf auf der glatten Wachstuchdecke des Tisches stand wie auf einem Parkettfußboden und jeden Augenblick auszurutschen drohte.

Sein Gefieder war weich wie zarte Seide, seine Füße frisch und rosig, und es trank willig ein paar Tropfen der Milch, in die man es vorsichtig mit der Spitze des Schnabels getunkt hatte.

»Du lieber Gott!« sagte Frau Anschütz, als die Kinder ihr freudestrahlend das Tierchen zeigten, nahm es in ihre Schürze und blickte es gerührt und mit stiller Freude an.

Voll unendlicher Spannung wartete man bis zum Abend auf das Ausschlüpfen der übrigen Küchlein, wartete bis zum andern Morgen und dann noch einen vollen Tag.

Am Abend entschloß man sich dann, vorsichtig eines der Eier zu öffnen.

Es war faul.

Man öffnete ein zweites.

Es war in derselben Verfassung.

Beim dritten und vierten war es ebenso.

Die Hoffnung, eine stattliche Kückenschar auf dem Hofe großziehen zu können, sank plötzlich wie ein Ballon, an dem die Reißleine gezogen ist.

Auch das fünfte und sechste waren nicht gut und mußten schleunigst weggetan werden.

Im siebenten fand sich ein Küchlein, aber es war unentwickelt und bereits seit Tagen tot.

Das achte, neunte und letzte waren wieder faul.

Die Enttäuschung kannte keine Grenzen.

Traurig blickten sich alle an. Wer trug die Schuld an diesem traurigen Ergebnis?

›Krokokrokooh!‹ nörgelte der alte Jann, unzufrieden mit sich selbst und niedergeschlagen von dem, was er da eben hatte mit ansehen müssen.

Aber an ihn dachte niemand.


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