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9.

Am Weihnachtsmorgen weckte Frau Hundertmark ihren Piddl in aller Frühe. Verschlafen und müde schlug er die Augen auf, aber im nächsten Augenblick schon sprang er mit einem Satz aus dem Bette – auf dem Tisch der Stube brannte ein Tannenbäumchen. Es war allerdings schief und krumm gewachsen. Die Mutter hatte es am Weihnachtsabend aus dem Rest, der noch auf dem Christmarkt stehen geblieben war, für wenige Nickel erstanden und heimlich ins Haus geschafft, und wenn nun auch keine Zuckersachen daran hingen, so brannten doch ein halbes Dutzend Lichter daran, die Stube mit weihnachtlichem Schein und Duft erfüllend.

Selig vor Freude staunte Piddl das Bäumchen an, sein Bäumchen.

Große Gaben lagen freilich nicht darunter. Aber ein Brummkreisel war da, der, aufgezogen, wie eine Orgel brummte, und ein Märchenbuch mit bunten Bildern, das die Mutter für wenige Pfennige in einem Warenhause erstanden hatte.

Eine richtige Weihnachtsfeier hatte er eigentlich noch gar nicht erlebt. Doch, im vorigen Jahre in der Schule. Da hatten alle Kinder Tannenzweige mitgebracht und der Lehrer ein paar Lichte, und dann hatte man die Vorhänge zugezogen, und wie es so recht dämmerig still in der Klasse geworden war, hatte der Lehrer die Kerzen angezündet, und die ganze Klasse hatte laut gesungen: ›O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.‹ Oh, das war wunderschön gewesen. Und als das Lied ausgesungen gewesen war, hatte Karl Langenbach, der der Erste in der Klasse war, ein Weihnachtsgedicht aufgesagt, und dann hatte der Lehrer sich hingesetzt und ein Märchen erzählt, vom Tannenbaum, der im Walde wuchs und ein richtiger Weihnachtsbaum wurde mit vergoldeten Äpfeln und Nüssen und schimmerndem Flitterwerk … Oh, wie war das schön gewesen! Aber nun dies Bäumchen hier, das ihm zugehörte, war doch noch tausendmal schöner!

Die ganze Stube schwamm in dem zarten, weichen Lichte der Kerzen, das aus dem Dunkel der grünen, benadelten Zweige hervorschien und geheimnisvolle Schatten unter der Zimmerdecke und an den Wänden bewegte.

»Oh, ich danke dir!« rief er seiner Mutter zu und fiel ihr um den Hals. An eine solche Überraschung hatte er wirklich nicht geglaubt. Er wußte zu gut, wie schwer es der Mutter wurde, nur das Notwendigste zu verdienen, und über die kindlichen Vorstellungen von Tannenbaumtragenden Weihnachtsmännern und durch die Luft schwebenden Engeln war er längst hinaus. Früher hatte er einmal geglaubt, daß das Christkind nur darum nicht zu ihm komme, weil es die düstere, enge Winkelgasse nicht finden könne, die so versteckt lag, daß sie am Ende von einem Fremden schwer zu entdecken war. Aber jetzt wußte er längst, warum das Christkind die Häuser anderer Leute so viel leichter fand und warum alle guten Wünsche, Versprechungen und Bitten früher immer so wenig geholfen hatten.

Als die Lichter dann gelöscht waren, der Brummkreisel wiederholt seine Musik gemacht und das Märchenbuch gründlich besehen worden war, mahnte ihn die Mutter, jetzt zu Mentzels zu gehen, es sei die höchste Zeit, wenn er noch rechtzeitig zur Feier dort ankommen wolle.

Mentzels beschäftigten Frau Hundertmark an jedem Sonnabend mit Reinmachen und alle drei Wochen des Dienstags mit Waschen. Frau Mentzel hatte Frau Hundertmark darum gebeten, ihr ihren Sohn am Weihnachtsmorgen zur Bescherung zu schicken.

Aber Piddl hatte Mund und Ohren aufgesperrt, als die Mutter es ihm mitgeteilt hatte.

»Ich allein?« hatte er gefragt. »Was soll ich denn da?«

»Geschenkt sollste was haben. Paß mal auf!«

Aber er hatte nicht gewollt. Er hatte nur immer wieder den Kopf geschüttelt und auf alles Zureden gesagt:

»Nee, Mutter, nee, das tu ich nicht.«

Zuletzt war aber die Mutter ernstlich böse geworden. »Du gehst hin,« hatte sie gesagt, »ich hab's versprochen und also –. Ganz artig biste, verstanden? Wenn dir was geschenkt wird, gibste erst Herrn Mentzel die Hand und denn Frau Mentzel und zuletzt der Mamsell auch, und denn kannste schon bald wieder rausgehn. Das ist ja 'n Augenblick, sag' ich dir! Frau Mentzel will's doch, und wenn du nich kommst, – nee, nee! bloß das nich! Ich hab' ihr versprochen, daß de kommen sollst, und also –!«

Weiteres Widerstreben hätte nicht geholfen. Die Mutter wollte es. ›Also‹ – hatte sie gesagt, und wenn sie ›also‹ gesagt hatte, ließ sie nicht mehr mit sich reden, das wußte Piddl ganz genau.

Trotzdem versuchte er es heute noch einmal vorsichtig, die Mutter zu überreden.

Aber es half ihm nicht.

»Also Gravelottestraße 286,« sagte die Mutter. »Du kennst ja die Straße. Vergiß die Nummer nich, Piddl! Und tritt nich ins Wasser, wenn du über die Straße gehst, du machst sonst bei Mentzels das Haus schmutzig.«

O nein, er vergaß es schon nicht, trotzdem er einen weiten Weg hatte und sich in Gedanken fortwährend wiederholte, was er sagen sollte: »Ich dank' auch schön, Frau Mentzel! und ich danke auch schön, Herr Mentzel! Ich will's gewiß recht schonen!'

Alle Straßen waren noch erleuchtet, so dunkel war es noch. Aber von den Kirchtürmen hallten schon die Glocken. Ganz deutlich hörte man die Domglocke heraus, die am lautesten brummte …

Je näher er der Gravelottestraße kam, desto lauter klopfte ihm das Herz, und als er zuletzt die 286 am Hause sah, mit ihren schönen, blankgeputzten Messingziffern, – ging er vorüber und sah sich das Haus erst einmal ganz verstohlen von der Seite an. Was für eine prächtige Treppe hinaufführte, und wie vornehm die Fenster auf die Straße heruntersahen. Bei der nächsten Straßenlaterne kehrte er dann wieder um. Es half ja doch alles nichts.

Herzklopfend schritt er die Treppe hinauf, und als er sich dann die Schuhe sauber gebürstet und geklingelt hatte, erschien das Dienstmädchen und sagte: »Na, was willst du denn?«

»Ich bin der Piddl Hundertmark,« antwortete er, »und meine Mutter schickt mich her.«

»Ach so,« sagte das Dienstmädchen.

Sie ließ ihn auf dem Flur stehen und ging fort. Nach einigen Minuten kam Frau Mentzel selbst und sagte: »Komm herein, Kleiner. Also du bist der Piddl? Die Bescherung ist gerade zu Ende. Aber der Baum brennt noch!«

Sie zog ihn in eine große Stube, und da stand Piddl nun und mochte die Augen kaum öffnen. Mitten in der Stube brannte ein strahlender Baum, der ihn mit seinem Glanze förmlich blendete. Unzählige Sachen baumelten daran, Glaskugeln, so groß wie kleine Luftballons, die auf dem Jahrmarkt verkauft wurden, und eine Fülle von Marzipansachen und Zuckerwerk. Und dabei stand der Baum nicht still. Er drehte sich auf seinem Fuße langsam rundum, und ein mechanisches Spielwerk, das darin verborgen war, spielte ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ dazu.

Piddl sah von all diesen Herrlichkeiten so gut wie nichts. Er hatte nur das Gefühl, als sei alles um ihn plötzlich in gleißendes Licht getaucht. Und der weihnachtliche Duft, der das ganze Zimmer erfüllte, legte sich mit beklemmendem Druck auf ihn.

Plötzlich stand der Baum still, und die Musik schwieg, weil das Uhrwerk abgelaufen war. Nur ein paar Glaskugeln klapperten noch leise aneinander. Dann wurde es ganz still im Zimmer. Scheu und verwundert sahen die beiden Kinder, die mit ihrem Spielzeug gespielt hatten und nun durch Piddls Erscheinen gestört worden waren, auf ihn, der verlegen und scheu in der Stube stand.

»Wer ist das?« fragte ein Mädchen von neun Jahren.

»Das ist Frau Hundertmark ihr Sohn, weißt du, die Frau, die bei uns rein macht!«

Piddl war glühend rot geworden. Eigentlich sollte er ja fröhliche Weihnachten wünschen! Die Mutter hatte es ihm doch so eingepredigt. Aber er stand wie angewurzelt und konnte sich nicht von der Stelle bewegen.

»Komm mal!« sagte da eine Stimme. Das mußte wohl Herr Mentzel sein. Herr Mentzel saß in einem Lehnstuhl und rauchte seine Morgenzigarre.

»Also Piddl heißt du?« fragte er.

Piddl nickte. »Ja,« sagte er dann leise.

»Eigentlich bist du etwas zu spät gekommen. Das Christkind hat für dich –«

»Halt!« sagte Frau Mentzel, »so schnell geht's nicht! Erst muß er doch sein Gebet aufsagen.«

Aller Augen richteten sich wieder auf ihn. Aber er stand und würgte und brachte keine Silbe hervor …

»Was kannst du denn?« fragte Frau Mentzel nach einer Pause.

»Ich kann keins!« stieß er da heraus.

»Er kann keins!« wiederholten die beiden Kinder verwundert.

»Sag' du deins noch einmal auf,« wandte sich Frau Mentzel an ihr Töchterchen.

Hell klang die Kinderstimme durch die Stube:

»Du lieber, heil'ger, frommer Christ,
Weil heute dein Geburtstag ist –
So ist auf Erden weit und breit
Bei allen Kindern frohe Zeit!«

O ja. Frohe Zeit. Besonders für ihn, für Piddl Hundertmark. Er stand und zog die Stirne kraus und sah finster vor sich nieder. Herr Mentzel machte der Szene ein Ende. »Wenn er doch keins kann!« sagte er entschuldigend und griff nach einer Kasperlfigur, die mit rotgetupften Backen, krummer Nase und langer Zipfelmütze wie ein Clown aussah.

Jetzt hätte er sich bedanken müssen, aber er tat es nicht. Er konnte es einfach nicht. Er stand steif wie ein Pfahl und rührte das Geschenk nicht an.

»Du mußt es schön schonen,« hörte er Frau Mentzel sagen, »unsere Kinder haben es im vorigen Jahr zu Weihnachten bekommen und nicht zerbrochen. Und hier ist eine neue Mütze für dich,« setzte sie hinzu, nahm ihm die seine ab und probierte sie ihm auf. Sie war Piddl etwas zu groß. Aber dafür konnte Frau Hundertmark hinter den Lederrand Papier einlegen. Das sollte sich schon helfen.

»Und hier ist ein Paket für deine Mutter. Sag' ihr, daß das Christkind es für sie gebracht hat, hörst du?«

Piddl war wie blind und taub.

»Wenn ich vorher gewußt hätte, wie trotzig er ist, hätte ich mir auch einen andern ausgesucht!« erklärte Frau Mentzel leise ihrem Manne.

In Piddls Wangen schoß es glühend heiß auf. Es flimmerte ihm ordentlich vor den Augen.

»Da muß man doch wirklich sagen, solche Leute erziehen ihre Kinder nicht. Nicht einmal ein ›danke!‹ kommt aus ihm heraus.«

»Na,« entgegnete Herr Mentzel ebenso leise, »schließlich ist es ja einerlei, Christine! Reg' dich doch nicht auf! Wir haben unsere Pflicht getan, und im übrigen kann's uns ja egal sein.«

»Adjö, Kleiner!« sagte er dann zu Piddl.

Da stand er nun draußen mit seinen Paketen. Er stolperte die Treppen hinab und schlug mechanisch den Weg nach Hause ein. Die Scham brannte ihm noch auf den Backen.

Wie unglücklich ihn das alles gemacht hatte; das fremde, prächtige Haus und die fremden Menschen und das mit dem Gebete und die Worte von Frau Mentzel und von Herrn Mentzel, die wie siedende Tropfen auf sein Herz gefallen waren, daß es sich noch jetzt krampfhaft darunter zusammenzog.

Zu Hause empfing ihn die Mutter voll Neugier und erwartungsvoller Freude, und während sie dann mit vorsichtigen Fingern die Verschnürung des Pakets zu lösen versuchte, fielen Piddls Augen wieder auf das Kasperle, das ihn mit verkniffenen, boshaften Augen höhnisch anstarrte.

›Ob wir beide uns vertragen werden?‹ schienen die Augen zu fragen. ›Ich habe bereits ein Jahr mit ordentlichen Kindern gespielt, und ich weiß nicht, ob wir zusammen passen werden?‹

Piddl ergriff es plötzlich wie ein Krampf. Er nahm die Figur bei ihrem Kleid und schlug den Kopf mit einem einzigen harten Schlage an der Tischkante in Stücke, daß die lächelnde Fratze verzerrt von der Erde zu ihm aufsah, und während die Mutter mit einem: ›Junge, was machst du denn?‹ dazwischen fuhr, hatte er auch die neue Mütze schon zwischen die Hände genommen und zerrissen, daß die graue Pappe aus dem aufgeplatzten Rande heraussah.

Und dann brach er in ein wildes Weinen aus …


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