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5.

Weil Piddls Geburtstag im Kalender so nahe am Beginn des Jahrmarkts lag, pflegte seine Mutter ihn an diesem Tage, nachdem sie ihn ermahnt hatte, auch im neuen Lebensjahre recht brav sein zu wollen, auf das nahe Marktvergnügen zu vertrösten. Ein Geschenk zu geben, war sie eigentlich niemals in der Lage, und wenn Piddl auch fast jedesmal eine in späten Abendstunden heimlich zurechtgestückelte neue Hose bekam, – es fiel ihm doch schwer, sie als Geburtstagsgeschenk zu bewerten. ›Eine Hose hätte ich immerhin bekommen,‹ philosophierte er dann wohl in Gedanken. So oder so. Mit der alten war es wirklich nichts mehr. Wenn es noch einmal etwas anderes gewesen wäre, etwas, das einem Geburtstagsgeschenk ähnlicher sah, und allerhand lockende Bilder stiegen vor seinem Auge auf: Gummibälle, die nach dem Niederfallen bis unter die Zimmerdecke sprangen, Kreisel, die minutenlang liefen, ohne geschlagen zu werden, Taschenmesser mit wirklich stählernen Klingen und Hornschalen, wie sie in den Auslagen der Eisenkrämer lagen. Aber er wußte nur zu gut, was für unerschwingliche Sachen er sich da wünschte, und er hätte sich eher die Zunge abgebissen, als daß er ein Wort davon hätte verlauten lassen. Er hätte seine Mutter damit nur bekümmert und wäre der Erfüllung seiner Wünsche doch um keinen Zoll näher gerückt.

Auch diesmal hing die übliche Hose bei seinem Erwachen auf der Stuhllehne vor seinem Bette.

»Für diesmal hat's nicht weiter gelangt,« sagte die Mutter und küßte ihn.

»Macht nichts,« entgegnete er und schlang seinen Arm um ihren Hals. Piddl war ein Meister im Verzichten.

»Übermorgen, zum Jahrmarkt kannste denn ja auch deinen Groschen mitnehmen,« setzte die Mutter hinzu. –

»Piddl hat Geburtstag heute!« riefen die Kinder, als der Lehrer die Klasse betrat.

»Wirklich?« fragte der, als handle es sich um ein ganz unmögliches Ereignis.

Piddl war glühend rot geworden. Er hatte nicht gern, wenn man von ihm sprach, sich mit ihm beschäftigte. Auf dem Schulwege vorhin hatte er es unbedachterweise Fritz Röhnholz erzählt, und der hatte nun das Plappermaul gespielt.

»Wie alt bist du denn heute?« fragte der Lehrer wieder und tätschelte ihm den Kopf.

»Zehn,« sagte Piddl voll heimlichen Stolzes. Zehn Jahre! Das war doch schon etwas! Wenn er noch einmal so alt geworden sein würde, würde er schon erwachsen sein.

»Hast du dir denn auch brav was schenken lassen?«

In Piddl stieg es heiß auf. Er fühlte, wie seine Wangen erglühten. Nun mußte er ja damit heraus, daß er nur eine Hose bekommen habe. Aber das wollte er nicht. Um keinen Preis. Die ganze Klasse würde ja auflachen.

»Nein,« sagte er darum, schaute mit heißem Kopf auf die Tischplatte und bemühte sich, verächtlich die Lippen zu kräuseln, als lege er wirklich keinen Wert auf solche Dinge. »Übermorgen ist ja schon Jahrmarkt,« setzte er dann hinzu.

»Nun freilich, und da wirst du dir ein Vergnügen machen, nicht wahr? Karussell fahren, Kuchen essen und Bonbons knabbern, was? Weil du aber heute Geburtstag hast, brauchst du für morgen keine Hausaufgaben zu machen, verstehst?« –

Der Markt begann an einem Sonntagnachmittag. Orgeldreher mit breitrandigen Hüten und braunen Gesichtern durchzogen die Straßen, und auf dem Marktplatz waren am Tage vorher die Buden der Marktbezieher aufgestellt worden, zwischen denen sich die schwatzende, lachende Menge in beklemmender Enge drängte. Allenthalben roch es nach Schmalzkuchen, Bratwürsten und Honigkuchen. Überall schrien Ausrufer und Verkäufer ihre Waren aus. Ihre Stimmen vermischten sich unermüdlich mit dem Gedröhn der Dampforgeln vor den Schaubuden und Karussellen zu einem betäubenden Durcheinander, in dem alle möglichen Melodien sich zu überbieten schienen und sich gegenseitig niederzuschreien versuchten.

Besonders ein gewaltiges Orchestrion mit brummenden Bässen, klingenden Schellen und schrillen Flöten machte in seinem Umkreise alle anderen Instrumente mundtot. Seine Walzen wurden von einem Motor getrieben, der mit glühendem Feuerloch und ratternden Gängen am anderen Ende der Schaubude lag, in der man das letzte Erdbeben, die beiden großen Eisenbahnkatastrophen in Amerika und das Grubenunglück im Kohlenrevier gemächlich durch runde Gucklöcher betrachten konnte. Ein kleiner, zierlich aus Holz geschnitzter Kapellmeister stand in einer der Nischen des Orgelprospekts, wandte den Kopf nach links und rechts und schlug mit steifem Arm und ruckweisen Bewegungen tadellos den Takt.

Vor dieser Bude standen Piddl und Fritz Röhnholz, ganz verloren in dem Anblick des kleinen befrackten Kapellmeisters, der mit so sauber gescheitelter Frisur und freundlichem Wenden des Kopfes seines Amtes waltete.

Piddl hatte heute sein Zehnpfennigstück mitbekommen und die Weisung, keinen Unsinn dafür zu kaufen.

»Das ist eine feine Bude!« flüsterte er Fritz Röhnholz zu, der mit offenem Munde den Ausrufer anstierte. Mit einer Stimme, die das Gedröhn der Orgel übertönte, schrie der die unerhörten Ereignisse, welche die Bude barg, in die Menschenmenge hinaus, die sich langsam vorüberdrängte.

»Wenn man da hineinginge?« flüsterte Piddl.

»Erwachsene zahlen zwanzig Pfennig! Kinder nur zehn Pfennig! Immer herein, meine Herrschaften! Das Erdbeben in Messina! Das Eisenbahnunglück in Massachusetts, die furchtbare Grubenkatastrophe im Kohlenrevier!«

Aber Piddl konnte sich doch nicht entschließen. Vielleicht war anderswo noch etwas Großartigeres für zehn Pfennig zu haben? Man mußte vorsichtig sein.

Langsam gingen die beiden weiter. In ihren Augen spiegelte sich der Glanz der unzähligen Gasflammen und elektrischen Glühbirnen, die in verschwenderischer Fülle vor den Buden der Schausteller brannten, und in ihre Nasen stieg der Duft der frisch bereiteten Schmalzkuchen, die mit Zucker bestreut auf den Tabletten der Kuchenbäcker lagen.

Piddl hatte eine Art Taumel erfaßt, ein Schwindel der Festfreude, der vor den sich drehenden Karussellen, den Luftschaukeln und Rutschbahnen zu einem wahren Wirbel anwuchs, sein Herz schneller klopfen ließ und aus seine blassen Wangen eine seine Röte breitete.

Aber in all dem wirren Durcheinander, das auf ihn eindrang, ihn in tausend Wellen umspülte und seine Einbildungskraft aufstachelte, stand in seinem Innern der eine Gedanke fest: ›Wende deine zehn Pfennig auf das Vorteilhafteste an! Du kannst sie nur einmal ausgeben, ein einziges Mal!‹

Wurstverkäufer lockten mit schreienden Worten, dampfenden Kesseln und rotleuchtenden Würstchen, das Paar zu zehn Pfennig, in Spielwarenbuden bot man tausenderlei Teile für zehn Pfennige zum Aussuchen an, ein fliegender Händler schrie ein ganzes Dutzend Schnürbänder für zehn Pfennig aus, und Piddl überlegte einen Augenblick, ob er seiner Mutter vielleicht damit eine Freude machen könne. Aber der Markttrubel trieb ihn weiter, und der Gedanke war im Auftauchen schon von anderen erstickt.

Da standen Händlerinnen mit kleinen Luftballons, Schnurrrädern, Klappern und Pfeifen. Hier entschied sich Fritz Röhnholz für ein Instrument, das auf die Zunge gelegt wurde und mit dem man die Stimmen der Vögel täuschend nachahmen konnte.

Die neue Kunst mußte sogleich probiert werden. Piddl bewunderte seinen Freund, der sich in wenigen Minuten in einen tadellosen Tierstimmenimitator verwandelt hatte. Es war keine Frage: er pfiff wie ein Stieglitz, flötete wie eine Drossel, schlug wie ein Buchfink und rollte wie ein Kanarienvogel.

Aber Piddl konnte sich trotz allem Zureden nicht entschließen, ein gleiches Instrument für sich zu kaufen. Immer wieder war es der Gedanke: ›Du versiehst dich!‹

In seinem Magen begann sich der Hunger zu regen. Aber verachtungsvoll streifte er die tausend Herrlichkeiten mit den Augen, die allenthalben feilgeboten wurden. Das fehlte noch, seine zehn Pfennig in solchen Sachen anzulegen! Und lächerlich wenig bekam man außerdem nur für zehn Pfennig. Das war wirklich nicht das Geld wert!

Er steckte die Hände in die Taschen und ging vor den Auslagen der türkischen Bonbonverkäufer, der Honigkuchenbäcker und Schokoladenhändler mit gerunzelter Stirn und verachtungsvoller Miene vorüber.

Bei einem der Karusselle trafen sie Klara Dinghammer. Sie stand dort mit ihren Freundinnen und sah gierig zu, wie sich die Kinder reicherer Leute auf die Pferde stürzten, die mit ausgereckten Beinen und weit aufgesperrten Nüstern auf den eisernen Stangen schwebten.

Das wäre etwas gewesen! Fünf Pfennig kostete es, und seine zehn Pfennig hätten für ihn und Klara genügt. Wie im Traum würde es sein. Aber es ging doch nur dreimal herum, und das war vielleicht doch keine fünf Pfennig wert.

»Hast du schon 'mal gefahren?« fragte Klara ihn.

»Nein!« sagte er und heuchelte äußerste Gleichgültigkeit.

»Ich möchte so gern mal fahren!«

Piddl kämpfte einen verzweifelten Kampf. Aber er wußte sich zu beherrschen.

»Sei doch nicht so dumm, Klara,« begann er. »Was liegt denn dran? Sich dreimal herumzudrehen, ist doch keine fünf Pfennig wert?«

Klara schien das nicht recht zu begreifen, wenigstens sandte sie dem Karussell, das sich eben wieder in Gang gesetzt hatte und sich nun mit schwingenden Laternen und wehenden Fahnen wieder herumschwang, noch einen sehnsuchtsvollen Blick zu und mischte sich dann wieder unter die Menge.

Auch Piddl ging mit Fritz weiter.

Halt! Hier konnte man mit Ringen werfen. Vier Ringe gab es für zehn Pfennig, und wer geschickt war, konnte das schönste Taschenmesser bekommen, wenn er es verstand, zwei Ringe auf dasselbe Messer zu werfen!

Piddl beobachtete gespannt ein paar junge Leute, die sich bemühten, die eisernen Ringe auf die Messer zu praktizieren, die mit geöffneten Klingen in dem Holztisch steckten. Einer wandte dreimal zehn Pfennig an, und nur ein einziges Mal blieb der kleine eiserne Ring an einem Messer sitzen. Nein, das wollte er doch lieber nicht versuchen. Es war wohl zu schwierig.

Aber dort! Was war das? Ein fliegender Händler stand dort und pries Hamburger Kuddelmuddel an! Glückspakete, die durcheinandergewürfelt in einem riesigen Bastkorbe lagen.

In einem der Pakete sollten zehn Mark stecken. Der glückliche Gewinner!! Zehn Mark! Herr du meines Lebens!

Piddl stand vor dem Korbe still und schaute hinein. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Krampfhaft hielt er die zehn Pfennige in seiner heißen Hand.

Sollte er es wagen? Ihm war, als müsse er unbedingt die zehn Mark gewinnen. Dort das kleine Paketchen in rotem Papier mußte es sein. Er war gar kein Zweifel. Es lockte ihn. Es brannte ihm geradezu im Auge.

»Fritz!« sagte er und stieß seinen Freund an. »Was meinst du?«

»Probier's,« flüsterte der, »man kann nicht wissen – vielleicht – wenn du Glück hast?!«

Hatte er wirklich eines der kleinen Pakete genommen? Da stand er im Gewimmel der Menschen und wurde weitergedrängt unaufhaltsam, und hielt ein kleines, federleichtes Paketchen in der Hand, nicht größer als eine Streichholzschachtel. Und dafür hatte er seine zehn Pfennig hingegeben!

Ihm war, als wisse er plötzlich ganz genau, daß er sich betrogen habe! Das Paket enthielt vielleicht einige wertlose Bonbons oder ein paar Nichtigkeiten – – – und dafür hatte er seine zehn Pfennig hingegeben!

Ein lähmender Schreck durchfuhr ihn, der seine Wangen erbleichen ließ. Wie konnte er nur so unbedacht sein? So leichtsinnig? Waren es nicht zehn Pfennig, die er dafür gegeben? Ein ganzer Groschen?

Entschlossen kehrte er wieder um und drängte sich durch die Menschenmenge, die ihm entgegenflutete, zu dem Händler mit dem weißen Bastkorbe zurück, aus dem er das Paket genommen.

»Ich möchte mein Geld wiederhaben!« stotterte er.

»Hamburger Kuddelmuddel!« schrie der Händler, ohne den Knaben zu beachten.

»Mein Geld möcht' ich wiederhaben!«

»Wer wagt's noch 'mal!« schrie der Händler wieder und klatschte ermunternd in die Hände.

»Das Paket – da haben Sie's wieder,« schrie Piddl lauter und hielt es in die Höhe. »Ich hab's noch nicht geöffnet!«

»Zehn Pfennig jedes Paket!« schrie der Händler und sah über ihn weg.

Piddl packte die Verzweiflung.

»Ich will mein Geld wiederhaben!« schrie er laut und begann zu heulen.

Einige Leute blieben stehen und fragten, was ihm fehle. Im Augenblick staute sich die Menge. Man umdrängte den Bastkorb, und diejenigen, die nicht sehen konnten, was vorging, vermuteten etwas Ungeheuerliches.

»Hamburger Kuddelmuddel hier!« schrie der Händler, der Piddl immer noch nicht sehen wollte.

Aber die Menge staute sich mit jeder Sekunde mehr, und der Händler begriff, daß er seinem Geschäft schade, wenn er noch länger blind bleibe.

»Mein Geld!« schrie Piddl und heulte von neuem auf.

»Schafskopf!« knurrte der Händler zwischen den Zähnen, riß ihm das Paket aus der Hand und gab ihm ein Zehnpfennigstück zurück.

Piddls Tränen waren im Augenblick versiegt. Wie ein Wiesel zwängte er sich durch die Menschenmenge.

»Hast du dein Geld wieder?« fragte Fritz Röhnholz.

Piddl nickte, seelensfroh, seinen Nickel wieder zwischen den Fingern zu haben.

Am Abend kam er heim, müde und hungrig, aber mit leuchtenden Augen.

Strahlend legte er seine zehn Pfennig wieder auf den Tisch. »Da ist das Geld noch, Mutter,« sagte er. »Ich habe mir nichts dafür gekauft. Weißt du, es sind ja doch alles Dummheiten, die man auf dem Jahrmarkt kauft.«

Als er im Bette lag und die Mutter bereits die Lampe gelöscht hatte, klopfte ihm noch das Herz, wenn er an all die Herrlichkeiten dachte, die er hätte haben können. Aber dann dachte er an sein Zehnpfennigstück, das er beinahe schon vertan gehabt und das er so mutig zurückerobert hatte, und zufrieden mit sich selbst drehte er sich um und schlief ein.


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