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17.

Die Tage des Herbstes gingen hin, gleichmäßig und grau, mit fliegenden, tiefhängenden Wolken und Regengüssen, hinter denen rauhe Winde kamen, die dann von neuem Wolken und Wind und regendurchrauschte Tage brachten.

Im Spätherbst kamen dann noch einmal ein paar schöne, feierliche, stille Sonnentage und ließen die Erinnerung an den Sommer wieder aufleben, der viel zu früh Abschied genommen hatte.

In Piddls Leben, das gleichmäßig und grau wie die grauen Tage der vergangenen Wochen dahinging, brachten auch sie keine Abwechselung.

In dem Verhältnis zwischen ihm und seinem Pflegevater war keine Veränderung vor sich gegangen.

Anschütz hatte erkannt, daß in dem stillen, in sich gekehrten und schüchternen Knaben ein merkwürdig fester Wille saß, ein Trotz und eine Entschlossenheit, die einmal geweckt, nicht zu brechen waren. Deutlich hatte er seit dem Zusammenstoß, den er mit ihm in der Trunkenheit gehabt hatte, sein Benehmen gegen Piddl verändert. Feindselig sah er ihn an, wenn er ihm abends bei der Mahlzeit gegenüber saß und bescheiden seine Brotschnitte verzehrte.

Seiner Frau gegenüber ließ er seinem Ärger über den Jungen, dem er noch mal ›Mores‹ beibringen werde, freien Lauf, hütete sich aber, noch einmal einen Zusammenstoß mit ihm herbeizuführen. Nicht, daß er jetzt häufiger des Sonnabends nüchtern war, aber das wüste Skandalieren, mit dem er so oft am letzten Tage der Woche abends heimgekommen war, pflegte er jetzt unter einer nörgelnden Dröselei zu verstecken. Auch in der Trunkenheit verließ ihn der Gedanke nicht, daß er sich zusammennehmen müsse, daß außer seinem Willen noch ein anderer im Hause sei, der ihm entgegentreten könne, wenn es auch nur der Wille eines Knaben war.

Meistens ging er darum Piddl scheu aus dem Wege und Piddl ihm.

Frau Anschütz hatte den Knaben aber um so lieber gewonnen.

Die Entschlossenheit, die er an jenem Abend an den Tag gelegt hatte, und der Wille, ihr gegenüber ihrem betrunkenen Manne beizustehen, hatte sie ganz für Piddl eingenommen. Wohin sie kam, erzählte sie in ihrer redseligen Weise von dem ›Jungen‹, und die zerbrochene Haustürscheibe und das Gespräch der Nachbarn taten ein übriges, den Vorfall und Piddl in der ganzen Straße bekannt zu machen.

Sein Name war einen Tag lang in aller Munde.

Immer noch hieß er kurzweg der ›Piddl‹. Aber er ging nun bereits ins zwölfte Jahr und war durchaus nicht mehr so klein, daß der Spitzname berechtigt gewesen wäre. Er war untersetzt, breitschultrig und gedrungen, wie ein junger Baum, der durch widrige Umstände im Wachsen zurückgehalten, mehr in die Breite gewachsen ist, statt schlank in die Höhe zu schießen, wie andere, die mehr Licht und Luft gehabt haben. Aus der ganzen Gestalt des Knaben sprach etwas Zähes, Knorriges, und in seinem Gesicht, mit dem ein wenig schiefen Kinn und den schmalen Lippen, lag ein Ausdruck der Verschlossenheit. Etwas Eckiges und Kantiges lag darin, zu dem die Augen, die weich und träumerisch in die Welt sahen, in einem merkwürdigen Gegensatz standen.

Eines Abends kam Piddl von einem Botengang, den er für seine Pflegemutter besorgt hatte, nach Hause, als er Anton Rolle hinter seiner Haustür sitzen sah. Er wußte selbst nicht, wie er plötzlich dazu kam, den Krüppel anzureden. Bisher hatte er es nie gewagt. Der blasse, schmächtige Junge mit dem feinen, zarten Gesicht, der hinter der Tür seiner elterlichen Wohnung auf einem Stühlchen saß, das für einen Zehnjährigen schon zu niedrig gewesen wäre, nickte ihm auf seinen Gruß lächelnd zu und sagte: »Sieh, Piddl! Wie geht's dir?«

»Kennst du mich?« fragte Piddl, der stehen geblieben war.

»Gewiß doch!« antwortete der Krüppel. »Anny hat mir schon von dir erzählt.«

»Was liest du denn da?« fragte Piddl, der rot wurde und nicht wußte, was er reden sollte.

»Oh, da sind Erzählungen von Nordpolreisen drin. Es ist sehr schön zu lesen.«

Er schlug das Titelblatt auf und reichte Piddl das Buch hin.

Piddl blätterte interessiert darin, aufmerksam die Abbildungen betrachtend.

»Ich habe es schon ein paarmal gelesen,« plauderte Anton. »Wenn du es auch mal lesen willst, leih ich es dir gern. Es macht Spaß, so hinauszufahren in die weite Welt, in Gedanken, weißt du, und denn da oben im Norden mit dem Schiff im Eise festzufrieren und sich gegen die Kälte zu wehren und gegen die Stürme und die Eisbären.«

»Ja, wenn du mir das Buch einmal leihen willst –«

»Nimm's nur gleich mit,« forderte ihn Anton auf. »Ich habe noch mehr Bücher. In meiner Kammer habe ich sie. Ich nehme mir nachher ein anderes her.«

Piddl dankte. »Ich leihe dir eins von meinen dafür.«

Langsam wurde aus der neuen Bekanntschaft eine Freundschaft. Der fünfzehnjährige Anton, der in der Einsamkeit, zu der ihn seine Krankheit verurteilte, eine merkwürdige Frühreife erlangt hatte, zog Piddl stärker und stärker an. Er fand bei Anton bereitwillig Auskunft über Fragen und Dinge, die ihn bewegten und über die ihm die Schule keine Auskunft gab.

Der Krüppel empfand dagegen die Anregungen, die ihm durch Piddl zuteil wurden, als wohltätig und belebend. In das stille und düstere Zimmer Antons, das nach dem Hofe hinausging, den bald der Winter mit tiefem Schnee verschüttete, drang sonst kaum ein Laut. Um dem Knaben endlich eine Beschäftigung zu geben und ihn mit verdienen zu lassen, hatte man ihm eine Schreibmaschine gekauft. Und so saß er denn während der trüben Wintertage an seinem Tische und fertigte die schriftlichen Arbeiten, die ihm von einer Schreibstube aus zugingen. Unermüdlich klapperten die schmalen Hände mit den feinen, blassen Fingern auf den Tasten der Underwood. Langsam und schleichend verging so der Tag. Desto schöner waren aber die Abendstunden, wenn Piddl zum Besuch herüberkam.

Er half ihm, die fertigen Arbeiten vergleichen und korrigieren, und sein Kommen brachte jedesmal einen Hauch der kalten Winterluft mit ins Zimmer, in dem kaum mal die Luftscheibe geöffnet wurde, der Feuerungersparnis halber.

Diese abendlichen Gespräche dauerten mit der Zeit länger und länger.

Der Krüppel hatte sich sein Zimmer ganz auf seine Weise eingerichtet, und Piddl war nirgends lieber als dort. Unter der Petroleumlampe, die an einem langen eisernen Draht nahe dem Fenster aufgehängt war, stand die Schreibmaschine. Rechts, auf der Kommode, befand sich die kleine Büchersammlung Antons, deren meiste Bändchen er so oft gelesen hatte, daß er ganze Stellen auswendig wußte. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Bauerchen mit einem Zeisig, den er einmal geschenkt erhalten hatte und den er mit einer rührenden Sorgfalt pflegte. Er hatte den Vogel so an sich gewöhnt, daß er auf sein Locken aus dem geöffneten Käfig kam, auf seinen Finger hüpfte und ihm den Mohnsamen von der angefeuchteten Fingerspitze pickte.

»Wenn der Vogel zwitschert, ist mir immer, als wäre ich weit draußen im Walde,« sagte Anton eines Abends zu Piddl, als er seine Papierbogen zusammengelegt hatte und die beiden Knaben wie sonst an dem niedrigen Tische unter der leise surrenden Petroleumlampe saßen.

»Warst du einmal im Walde?« fragte Piddl.

»Ja, einmal bei einem Schulausflug. Die Jungens hatten mich in einem Sportswagen mitgenommen, und die großen mußten mich schieben. Wenn einer müde wurde, löste ihn ein anderer ab. Im Walde haben sie mich dann unter einen großen Baum geschoben, mich aus dem Wagen gehoben und ins Moos gesetzt. Ich habe den ganzen Nachmittag dort still für mich gesessen. Wie war es da schön. Ich werde es nie vergessen. Die Klasse war weitergezogen und sang nun drüben im Holz. Das klang herrlich herüber! Und ich war auch nicht allein. Ein Buchfink kam dicht an mich heran und pickte die Brotkrumen auf, die von meinem Butterbrot gefallen waren. Als ich nun den Zeisig kriegte, fiel mir gleich der Buchfink von damals wieder ein, und nun muß ich immer an den Wald denken, wenn er da sitzt und singt. – Bist du auch mal im Wald gewesen?«

»Nein, ich bin nie mitgekommen. Ich hatte ja eine Stelle, weißt du, und da kann man nicht einfach mal 'nen Tag wegbleiben.«

»Mein Zeis'chen!« sagte der Krüppel zärtlich, ohne auf Piddls Worte sonderlich acht zu geben, und sah zu dem Vogel hinauf, der mit aufgeplustertem Gefieder auf seiner Stange saß und aus klugen schwarzen Augen auf die Knaben herunterblickte. »Im Walde war's für dich auch schöner als hier, nicht? Und wenn wir beide nicht so gute Freunde wären – was?« Er zwinkerte dem Vogel vertraulich zu, als verstände das Tier selbst das, was nicht einmal ausgesprochen wurde. –

Antons Freundschaft wirkte auf Piddl wie ein Sonnenstrahl auf eine lichthungrige Pflanze, und er empfand es mit tiefer Dankbarkeit, wie der ältere, ihm geistig überlegene Freund auf das einging, was ihn bewegte. Der Tod seiner Mutter hatte allen Inhalt aus seinem Leben genommen, und was er in der ersten Zeit nach ihrem Tode gelitten hatte, hatte er niemand gezeigt. Jetzt trat ihm zum erstenmal eine Freundschaft entgegen, die seine geheimsten Gedanken ans Licht treten ließ und ihn befruchtete, wie der warme Regen des Frühlings den Acker befruchtet, in dem die Saat wartend liegt.

Anton hatte den gelassenen, ruhigen Ernst eines Knaben, der immer auf sich allein angewiesen ist. Sein Wesen, ganz nach innen gedrängt, war feiner und reicher geworden, als es sonst bei einem Sechzehnjährigen möglich gewesen wäre, und aus den Augen, die aus seinem blassen Gesicht sahen, sprach eine milde Gelassenheit. Dann und wann aber kam doch eine Erbitterung über ihn, die desto mehr überraschte, als er sonst so ruhig und gelassen schien, von einer Freundlichkeit und Sanftmut erfüllt, die jeden für ihn einnehmen mußte. Vor allem konnte er es nicht ertragen, daß über seine Krankheit gesprochen wurde. Das Mitleid anderer empfand er als etwas Quälendes, Unerträgliches, und nichts konnte ihn mehr erbosen, als der mitleidige Wortschwall redseliger Frauen, die ihn zum erstenmal in seiner Unbeholfenheit sahen. Er wollte nicht als Ausnahme betrachtet sein, wollte genommen sein, wie er nun einmal war, und konnte wild werden, wenn man von dem ›Unglück seiner Krankheit‹ und ›seiner unglücklichen Zukunft‹ sprach.

Piddl schloß sich mit der Zeit immer inniger an ihn an, und es verging selten ein Tag, an dem er nicht wenigstens auf einen Augenblick in Antons Stube guckte. Am liebsten aber kam er zu den abendlichen Plauderstunden. Im Hause machte Anschützs Gegenwart ihm den Aufenthalt nicht gerade angenehm, und so tat er nichts lieber, als dann zu Anton hinüberzuschlüpfen, der ihn stets mit frohem Lächeln empfing.

An einem dieser Abende fiel dann zum erstenmal das Wort Gott.

Es war, als wenn ein Stein in ein stilles Wasser geschleudert worden wäre und nun die Ringe weiter und weiter lautlos über die ruhige Fläche gingen.

Piddl saß mit großen Augen da und sah auf seinen Freund, der mit einem Federmesser spielte und auf seine Hand blickte.

Er hatte im Religionsunterricht der Schule den Namen Gott gehört, wie ihn auch andere Kinder hörten. Das Wort ›Gott‹ gehörte da zum Unterricht. Es war eine Formel, ein Ding, das durch unzählige Schulantworten glatt geschliffen und wesenlos geworden, ein Name, der durch die Bibelgeschichten und die moralischen Belehrungen gegangen war, etwas Selbstverständliches und Inhaltloses. Aber kein Mensch hatte bisher im Gespräch mit ihm von Gott gesprochen, von ›seinem Gott‹ wie Anton Rolle. Der Arme, der mit seinen gelähmten Beinen da vor ihm im Stuhle saß und nun schwieg und mit niedergeschlagenen Augen vor sich hinsah.

Es dauerte eine Weile, bis Anton fortfuhr.

»Also darüber mach dir nur keine Sorge, Piddl! Was aus mir wird, ist ja so egal. Viel tun kann ich ja überhaupt nicht. Ja, wenn ich gesund wäre! Aber ich komm ja mein Leben lang kaum aus dem Stuhl heraus, auf dem ich sitze. Aber du! Du mußt etwas Rechtes werden! Etwas, was dir Freude macht, etwas, worüber du alles andere vergessen mußt!«

»Und du,« sagte Piddl, »du willst dein Leben lang hier sitzen und abschreiben, und das immer wieder, jeden Tag?« –

»Ich habe dir ja gesagt, daß niemand wissen kann, was morgen ist –!«

»Morgen? Dasselbe, was heute ist.«

»Nun, denn, was übermorgen ist,« entgegnete Anton mit feinem Lächeln.

»Dasselbe, was morgen ist.«

»Junge, was bist du für ein miesepetriger Kerl,« rief der Krüppel ungeduldig. »Glaubst du denn, daß ich allein ausgeschlossen bin, daß für mich nichts los ist? Weißt du denn überhaupt, ob ich nicht noch einmal glücklicher werde, als andere Menschen, froh, vergnügt und selig wie einer? He?«

»Ach, das möchte ich!« sagte Piddl und sah mit bewegtem Herzen zu seinem Freunde hinüber.

»Na, ich auch,« lächelte der. »Und wer weiß, ob das nicht so kommt. Gott wird mich nicht vergessen!«

Da war es wieder, dieses Wort Gott, das Piddl verstummen ließ. Er wollte fragen und kam doch mit keinem Worte aus sich heraus.

»Es gibt ja Menschen, die noch viel ärmer sind als ich,« nahm Anton das Gespräch wieder auf. »Du liebe Zeit, da hättest du einmal mit mir im Krankenhause sein sollen, damals, als ich operiert wurde. Da lag einer mit uns im Saal, der – aber ich will es dir lieber gar nicht erzählen.«

»Nein, tu es nicht,« bat Piddl erbleichend. Das Wort ›Krankenhaus‹ hatte in ihm die Erinnerung an den Tod seiner Mutter mit solcher Gewalt hervorgerufen, daß er Mühe hatte, seine Bewegung zu verbergen. »Meine Mutter ist im Krankenhaus gestorben,« setzte er erklärend hinzu.

»Ja, ja, ich weiß es wohl. Ich dacht' nur im Augenblick nicht dran. Laß uns nicht weiter davon sprechen, wenn's dich traurig macht.«

»Ich denk' mir,« sagte er, »wenn ich gesund wäre, hätte ich Lust gehabt, Seemann zu werden. Das denke ich mir herrlich, weißt du, so dahin zu fahren, in die Masten zu steigen, wenn das Schiff sich schaukelt, sich festzuhalten, wenn der Wind kommt, und dann zuletzt nach Hause zu fahren, wo man so lange nicht gewesen ist. Man kommt in die Tür und sagt: ›Na, wie geht's denn noch?‹ Und beinahe erkennen sie einen nicht wieder, so braun ist man geworden.«

Er lächelte und zeigte die schadhaften Zähne.

»Wozu hast du denn Lust, Piddl?«

»Ich?« sagte Piddl, »ich weiß nicht …« Er war mit seinen Gedanken noch bei dem Gespräch von vorhin.

»Du mußt dir etwas Rechtes suchen. Du mußt mal darüber nachdenken.«

»Sag' mal,« kam's nun aus Piddl heraus, stockend und zaghaft. »Du mußt mir's nicht übelnehmen, daß ich darnach frage, nicht? Du sagtest erst was von Gott, nicht?«

»Ja, und was meinst du nun?«

»Glaubst du denn an den lieben Gott?«

»Ach so,« sagte Anton, der den Zweifel in Piddls Worten fühlte.

»Ob ich an den lieben Gott glaube? Du meinst, es wäre dumm, wenn ich daran glaubte?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Piddl ein wenig verwirrt.

»Und du? Du glaubst wohl nicht an Gott?«

»Ich? Ja, das weiß ich ja gerade nicht.«

Anton lächelte.

»Na, und nun soll ich dir sagen, ob du an ihn glauben sollst oder nicht, was? Nee, mein Junge, da denk man selbst mal drüber nach. Das kann einem auch 'n anderer gar nicht sagen.«

»Sag' mir doch, was du meinst!« bat Piddl.

»Und wenn ich nun sage, ich weiß es auch nicht? – Weiß es denn überhaupt einer? Vorrechnen kann dir's keiner. Weißt du, wir haben unsern Lehrer früher in der Schule mal gefragt, ob er an Gott glaubt, und da sagte der, das wäre grade so, als wenn jemand in der Nacht auf ein dunkles Feld geführt wird und soll nun sagen, was er sieht. Er sieht aber nichts. Er kann sich wohl denken, daß da Kornfelder sein werden und hin und wieder ein Baum stehen wird. Denken kann er sich das wohl. Aber sehen kann er das doch erst, wenn's Morgen wird und die Sonne aufgeht. Es hilft ihm auch vorher nichts, wenn einer zu ihm kommt und sagt: ›Ich glaube, da hinten liegt ein hoher, hoher Berg!‹ Er wird's doch nicht glauben, weil er's nicht sehen kann. Er wird wohl warten müssen, bis die Sonne aufgeht.«

Piddl verstand, was Anton sagen wollte.

»Wann geht aber die Sonne auf?« fragte er.

»Ja, weißt du, wenn man nicht schlafen kann des Nachts, dann ist's einem gerade, als wenn die Nacht niemals 'n Ende nehmen wolle. Wenn man fein ruhig und geduldig ist, geht's viel schneller. So ist das hier nun auch. Dem einen ist die Nacht lang, dem andern ist sie kurz.«

Das war nun nichts Festes, an dem sich Piddl hätte halten können. Er hatte sich Antons Antwort anders gedacht. Ein einfaches ›Ja‹ oder ›Nein‹ wäre ihm lieber gewesen. Aber das Gespräch wirkte in ihm nach, wie ein Brocken Hefe in einem Teig. Er grübelte in den stillen Abendstunden vor dem Einschlafen darüber in seinem Bette, kam aber zu keiner Erklärung. Der unbefangene Kinderglaube von dem lieben und guten Gott, der die Menschen beschützte und ihnen beistand, wenn sie fromm und gut waren, war durch den Tod seiner Mutter ins Wanken geraten. Und doch konnte er nicht ohne innere Ergriffenheit an Gott denken, der unsichtbar und doch allgegenwärtig war, der voll unendlicher Güte und Liebe sein sollte und es doch zugelassen hatte, daß der Tod ihm seine Mutter genommen, gleichgültig und kalt, wie etwas Selbstverständliches, von dem weiter kein Aufhebens gemacht zu werden verdiente.

Derartige Gedanken wirkten in ihm fort, machten ihn unsicher in sich selbst und unglücklich. Aber je häufiger seine kindlichen Gedanken sich um Gott bewegten, wie unbeholfene junge Vögel, die leicht ermüden, wenn sie ein Meer überfliegen wollen und keinen Platz zum Ausruhen finden, um so verschlossener wurde er. Er vermied es, darüber zu reden, und erwähnte auch Anton gegenüber nichts wieder von seinen Zweifeln, Gedanken und Meinungen. Als er aber im folgenden Frühjahr in den Konfirmandenunterricht geschickt wurde, war sein Zweifel schon so stark, daß er sich innerlich gegen das wehrte, was er dort hörte, und er kam dabei auf die seltsamsten Gedankenwege. Was man ihm da von den Gestalten der biblischen Geschichte erzählte, ließ ihn innerlich völlig kalt. Das meiste kannte er ja bereits aus der Schule. ›Hier! Hier!‹ schrie es in ihm. Wie war es hier und heute denn mit diesem Gott, der einmal die Welt geschaffen, der mit den Menschen gesprochen hatte, wie mit seinen Kindern, der Abraham geführt, mit dem Jakob gerungen, der Josef gehütet hatte wie seinen Augapfel und zu dem Moses auf dem Berge Sinai in die Wolke gegangen war? Wo war er jetzt? Wo konnte er ihn finden? Warum kam er heute nicht mehr so offen wie früher zu den Menschen? Warum sprach er nicht auch zu ihm? Warum hatte er ihm noch nie geantwortet, wenn er ihn gerufen in der Stille seiner Kammer? Warum ließ er soviel Leid über die Menschen kommen? Warum ließ er es zu, daß der arme Anton Rolle ein ganz schweres, langes Leben lang gelähmt in seinem Sessel sitzen mußte, und warum mußte Klara Dinghammer in kalten Wintertagen mit Papierblumen handeln gehen? Wo war da der helfende Gott, der Elias aus seinem Kruge speiste?

Auf all diese Fragen gab es keine Antwort, wenigstens keine, die ihm hätte ein Fingerzeig sein können. Ungeklärt wogten die Zweifel in seiner Seele. Was der Pastor darüber sagte, das war ja alles nur so hergeredet, empfand er; der sprach immer wieder von dem unerforschlichen Ratschluß Gottes. Woher wußte der Pastor denn, daß es überhaupt einen Ratschluß Gottes gab? Das konnte jeder sagen. Hatte Gott beschlossen, jetzt keinem Menschen mehr zu helfen? Vielleicht waren es zuviel Menschen geworden auf der Erde? Oder sie waren nicht mehr so fromm wie in alten Zeiten? Waren die Schwestern nicht fromm, die seine Mutter im Krankenhause verpflegt hatten und ihn getröstet hatten, als sie gestorben war? War der Pastor nicht ein frommer Mann? Mußte Gott ihn nicht ganz besonders lieben, der jeden Sonntag in der hohen, kühlen Kirche von ihm predigte – und war nicht gerade er schon lange leidend, bis ins Mark krank, von Schmerzen gequält?

Im Winter starb er.

Den Konfirmandenunterricht übernahm ein junger Hilfsprediger, der ernst und mit heiligem Eifer, ohne die Gelassenheit seines erfahrenen, ruhigen Vorgängers in den Unterricht kam.

Eine Begeisterung glühte in seinen Worten, ein Fanatismus in seinen Darlegungen, ein heiliger Zorn in seinen Reden, wenn er über die Sündhaftigkeit der Menschen, über ihre Gleichgültigkeit und Heuchelei sprach, – und was keine Darlegung vermocht hatte, keine fromme Betrachtung und die ganze Flut der biblischen Geschichten: – die persönliche Überzeugung dieses Mannes, der von ›seinem‹ Gott, ›seinem‹ Glauben und ›seiner‹ Überzeugung sprach, ließ das hungrige Herz des armen Knaben plötzlich in heller Lohe aufflammen. Wenn seine Zweifel auch nicht beschwichtigt wurden, so liebte er doch den jungen Geistlichen wie einen väterlichen Freund. Aber kein Laut kam darüber je über seine Lippen, und durch nichts verriet er sich. Als aber der Hilfsprediger Ruhland versetzt und die erledigte Pfarrstelle endgültig neu besetzt wurde, weinte Piddl nach der Abschiedsrede, die Ruhland im Konfirmandensaal vor seinen Zöglingen gehalten hatte, in der Dunkelheit der Gasse hinter dem Pastorenhause, wie ein verzogenes Mädchen, voll Schmerz und heimlicher Liebe.


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