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Berlin freilich, das kleine Biedermeier-Berlin von 1830 war so offen und windig nicht wie der geistige Raum vor der Gudel. Aber wer von heute aus einen Blick wirft in die nun so beliebten Zimmer von dazumal, zwischen die hellen Möbel aus goldgelbem Holz – bürgerlicher Ersatz für das königliche Gold aus einem edleren Stoff als das heutige Messing – mit geblümten, lieblichen Bezügen; in die breite Behaglichkeit dieser Sofas, Kommoden und vielfächerigen Nähtische; die gemütvoll blinkende Fülle blitzender Vitrinen und Servanten; die sinnreiche Innigkeit der ausliegenden Albums und Stickereien, der perlgenähten Ofenschirmlandschaften und Klingelzüge; und auf die thronfeste Ruhe und Würdigkeit der in dauerhaftem Öl gemalten Gesichter an den warmen und lichten Wänden: dem fällt freilich die Zahl 48 nicht ein, die auch aus zwei breiten Ziffern besteht und doch schon mit feurigen Linien überall in die Tapeten und Stoffe jener Zimmer eingemustert war.
Immerhin währte es von der Übersiedelung der Drolshagenschen Familie bis zu der Stunde, wo die feurigen Charaktere lebendig aus den Wänden sprangen, noch achtzehn Jahre, ein Zeitraum, während dessen die Gudel zum neunten Male Mutter und – durch zwei Söhne – Großmutter wurde. So reich diese Zeit an Arbeit und Tätigkeit, Sorgen und Mühen war, ist aus ihr wenig zu berichten. Im zehnten Jahr des Berliner Lebens, 1840, legte Longinus sein Amt an der Akademie nieder, weil er nicht der Besoldete eines Königs sein wollte, lebte allein vom Porträtieren und einigen Schülern, und wenn es in seinem Hause jemals reichlich zugegangen war, wie in der letzten Weimarer Zeit, so saß jetzt der Mangel an vielen Ecken. Obgleich keiner der Söhne an sich kränklichen Leibes war, blieb doch die Gudel allein die Immergesunde; gegen Ende ihres Lebens sagte sie mit viel Stolz, daß sie achtmal einen Schnupfen, einmal Lungenentzündung und – nach Erfindung derselben – einmal Influenza gehabt habe. Longinus kränkelte am häufigsten, besonders an einem Ausschlag, der sich von der armlosen Schulter über die ganze Körperhälfte verbreitete und durch Wochen nicht wich; später an einer Mittelohrentzündung, die schlecht verheilte, öftere Erkältung des Gehörgangs und halbe Taubheit zur Folge hatte. Die unterirdische politische Tätigkeit, bald zerspalten in zwei Ströme, deren einer in die Revolution, deren andrer in die Vereinigung aller deutschen Stämme zum Reich mündete, nahm seine und alle Kräfte der Gudel in Anspruch, die ihre Kinder ihr ließen. Sein Mitkämpfertum von Anno 13 erhöhte das Ansehn des Alternden in den Augen der jungen Schar, der er an jugendlicher Entflammtheit immer voran war, und nötigte ihn zu leitenden Stellungen mit ihrem Undank und aller Bürde. Der Einarmige blieb aber dabei, daß er sich auch den verbliebenen ausreißen würde, um ihn, käme er selbst nicht hin, ans Ziel zu schmeißen.
Das Jahr 48 kam an. Der Einarm, sechzigjährig, führte fünf Söhne auf die Barrikaden, und er und von ihnen zwei waren unter jenen, vor denen der König den Hut ziehen mußte, als sie unten vorbeigetragen wurden.
Die Gudel nahm den dreifachen Schlag auf, wie sie jeden aufgenommen hatte bisher: ungeschützt, in seiner ganzen Gewalt, und die Verbliebenen ihrer Kinder gaben ihr Leben und, wo nicht dies, ihren Verstand durch mehr als ein Jahr für verloren.
Aber die Lebenskraft eines Menschen läßt sich nicht abändern, und was uns gegeben ist, ist die Biegung des Willens, nicht der Wille selbst. Die Gudel erholte sich wie noch jedesmal, und der ganze Unterschied gegen früher war bald, daß sie grau geworden war. Aber ihr Auge hatte nicht seinen Glanz und ihre Lippe nicht ihr Lächeln verloren. Sie trauerte dem Geliebten des Jugendtages nach bis ans Ende ihrer Zeit, aber sie erfüllte die Gebote ihres Genius. Die Wärme ihres Herzens war um nichts gemindert, und selbst die Kraft ihres Schoßes war noch nicht gebrochen. Denn was ihr zu ahnen nicht erlaubt war, wußte das Lebendige in ihrer Brust: daß sie erst die Hälfte des gesamten Ablaufs erschöpft hatte. Damals, 48, zählte sie dreiundfünfzig Jahre, und hundertundsechs Jahre alt ist sie geworden.
Womit füllte sie dieses Leben?
Es war mitten in der Nacht nach dem Tage der Barrikaden. Da erhob die Gudel sich mühsam, ging ans Fenster und sah auf die Straße hinaus, die in einem Halbdunkel sehr breit und ganz leer dalag; nur in der Ferne war sie mit etwas Schwarzem gefüllt, und auf dieses wankte sie müde und schwer zu, nachdem sie, sich selber unvermerkt, auf die Straße gelangt war. Sie kam an einen sehr stillen Wall, der aus einem Wirrwarr von Dingen aufgetürmt war, Fässern und Brettern und Kisten, gefüllten Säcken, Schränken und Kommoden, einem Rollwagen; auch ein altes Tafelklavier, wie die Gudel als Kind an einem gesessen hatte, stand darunter, und zwischen allem dem waren die Körper liegender Männer erkennbar, still, als hätten sie sich nach der Arbeit schlafen gelegt. Die Gudel suchte gebückt von einem zum andern, indem sie seufzend die unbequem Liegenden etwas besser legte, und so fand sie auch ihre beiden Söhne, denen sie leise murmelnd die Wunden schloß mit der Hand. Dann fand sie Longinus. Er lag am Boden auf der Seite, wo der Arm fehlte. Seine Züge hatten sich schon beruhigt; es waren nur die Siegel des Alters darauf und des Schlafs. Die Gudel weinte leise, kniete nieder zu ihm und hielt lange die hohlen Hände unter die Stelle, wo das Dunkle aus seiner Seite hervortropfte, bis sie gefüllt waren; hielt ihre Lippen daran und trank. Dann schloß sie auch diese Wunde mit leisen Fingern, hauchte einen Kuß auf seine Stirn, stand auf von den Knien und ging unhörbar davon, in ihr Haus zurück.
Dies tat die Gudel – obschon unwissend, ob es Wirklichkeit war oder Traum. Denn seit sie im Jahre 1815 den Bund mit Longinus Drolshagen beschwor, war sie nicht einen Schritt gegangen, den nicht er sie geführt hätte; hatte sie nicht ein Ding der Erde gesehn, das nicht durch ihn und um seinetwillen [geschehn] wäre; hatte sie nicht einen Atemzug getan, der nicht aus seiner Brust geholt worden wäre. Sie ging mit ihm, bis dort, wo er fiel und zu keinem Schritt mehr aufstand. Da ging sie noch einmal in einer ewigen Nachtstunde und holte sich so viel Nahrung aus seiner Brust, wie sie brauchte für den Rest einsamer Zeit; einen Schluck zehn- und hundertfach nährenden Bluts; unversieglichen Bluts einen kleinen Krug voll gleich dem Ölkrug der Witwe, und zehrte und lebte von diesem. Als er noch lebte, war sie heilsam schönes, durchglühendes Feuer seiner Aufgabe gewesen; nun wurde die Aufgabe ganz zum alleinigen Feuer in ihr. Er war auf der Barrikade gefallen, und wo sie von nun an ging und stand: da war Barrikade.
Viel wäre noch zu sagen aus diesem zweiten Lebenshalb der Gudula Trassenberg. Gegen Ende des Jahres 49 ging sie auf Reisen und durchwanderte England, Schottland, Irland und Frankreich, zusammen mit einem Freunde ihres Mannes, wo sie überall die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die sozialen und sozialistischen Neuerungen, vor allem Lage und Aussichten der Arbeiter studierte. Sie reichte danach diesem Freunde und Reisekameraden, Sir Ronald Ramorny, einem Schotten, der aber, durch seine irische Mutter mit Leidenschaft für dieses Land erfüllt, zum Kämpfer für seine Freiheit wurde, die Hand zum Bündnis für eine längere Pilgerfahrt. Ein Jahr später, sechsundfünfzig Jahre alt, gebar sie ihm noch eine Tochter, unterstützte ihn fünf Jahre lang bei der Herausgabe einer politischen Zeitschrift und verlor ihn, – nicht jedoch auf die gleiche Weise wie Longinus, da er nicht als Kämpfer für Irland durch eine englische Gewehrkugel fiel, sondern – nach kaum sechsjähriger Ehe –, ähnlich seinem Freunde Lassalle, im Duell, allerdings einem politischen.
Zu berichten ferner wäre, wie sie mit Lassalle und Karl Marx in Verbindung trat und nachmals mit fast allen bedeutenden Männern jener Jahrzehnte und ihres Gebiets, bis hinauf zu Bebel und Liebknecht und Pernerstorffer. Wie sie die radikale Revolutionärin blieb bis an ihr Ende, ihre politische Betätigung aber langsam zurücktrat hinter der sozialen. Wie ihr politisches Wesen niemals an Klarsichtigkeit und Gründlichkeit, wohl aber an Schärfe verlor, und wie sie berühmt wurde wegen ihrer Herzlichkeit und Herzhaftigkeit. Wie sie eine Unzahl von Thronwechseln und Kriegen in allen Erdteilen, davon drei deutsche, und die Einigung des Reiches erlebte und seine große Veruneinigung. Wie sie alles um sich her sterben sah, was nur ein Recht aufbringen konnte, zu sterben vor ihr: Schwiegertöchter, Enkelkinder und alle Söhne und Töchter. Wie sie durch alle Wandlungen unwandelbar an ihrem Kindergott festhielt und sagte: daß er sich um sie im besonderen jemals gekümmert habe, sei nicht anzunehmen; aber es sei eine Ordnung unleugbar vorhanden, in die man sich hineinfinden könne. Und sagte: Ursache, ihm dankbar zu sein für ein so langes Leben, glaube sie nicht zu haben; sie habe es jedenfalls kürzer geplant, sich nun aber daran gewöhnt, und so gleiche es sich eben aus. Wie sie ferner als Erste ihrer Zeit die entstehende Notlage der Frau mit ihrer unmäßigen Vermehrung voraussah und sich des Schutzes ihrer Arbeit und ihrer Rechte zuerst annahm, ohne dabei eben viel von ihr zu halten, wie sie selber niemals auch nur das geringste von sich hielt, ausgenommen von den zwei Eigenschaften: fruchtbar zu werden durch den Mann und seine Seele fruchtbar zu machen. Wie sie den zeitlichen Bruch, der uns Heutigen gerade an der Stelle des Jahrhunderts zu klaffen scheint, wo ihr Dasein in zwei Hälften geteilt wurde, ihrerseits niemals bemerkte, sondern mitwuchs von Erscheinung zu Erscheinung, deren jede eine andere vorbereitete und anzeigte: von der Postkutsche zu Lokomotive und Dampfschiff, zu Zweirad und Automobil, zum Gas, zum elektrischen Licht und zum Telephon ihr Leben webte, und dies alles, immer leiser verwundert, hinein. Wie, wenn etwas wunderbar gewesen ist an ihr, es das war, daß sie mit dem Verlust des einzigen Reichtums nicht verarmte und noch ein zweites Lebenshalb zu leben imstande war, immer in dem Bewußtsein, daß Reichtum gewesen war nur und allein in jenem ersten, – und doch eine reiche Schatzhand zu haben für jeden, der sie berührte, da immer noch, immer, die Boten des schönen Lebens an sie gesendet wurden und von ihr erkannt. Wie sie schließlich also uralt wurde und so krumm wie ein Feuerhaken, zahnlos wie ein Fisch, ein Trümmer, aus dem eine Maus pfeift, und ganz klein auf ihrem gewaltigen Berge ihre Welt von Jean Paul bis zu Wilhelm Raabe, vom Empireschlößchen bis zum Warenhaus im Abendglanz schwimmen sah, und endlich das alles verging in einen ruhigen Seufzer, mit dem sie sich zurechtlegte und die wieder gewachsene Hand des Longinus nach ihr ausgestreckt fand aus dem schweren Dunkel. –
Sehr viel ließe sich sagen und berichten, aber erzählbar ist diese Hälfte nicht so gut wie die erste und ließe sich ohne Zweifel vortrefflich in ihren Lebenserinnerungen lesen. Jedoch leider: sie war eine gescheite Frau, hat aber keine hinterlassen.
Ende
Geschrieben März und April 1918 in Berlin.
Gedruckt bei Breitkopf und Härtel in Leipzig