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Das Ehepaar wohnte im Gasthof, auf die Rückkehr der hohen Herrschaften wartend. Der Anblick des Schmiedhauses oder der Hütte war für die Gudel doch einigermaßen erschreckend gewesen. Ein merkwürdiges Gewächs von einem Haus, das ein Italiener gezüchtet hatte: ein ganz rosa getünchter Würfel, dessen sich kreuzende Balken blau gestrichen waren, über und über bezogen mit dem schwärzlichen Rankenwerk des Weins, worin es hing wie ein Meerwunder im Netz; zwei Fenster unten, zwei oben; daneben die Schmiede, so hoch wie der Würfel, ein ganz offener großer Raum, auf den noch ein kleiner, gleichfalls rosa getünchter und vom Wein angekletterter Würfel gesetzt war, in den sich nur durch eine Luke im flachen Hausdach gelangen ließ, und der nur eine Kammer enthielt, ehemals von Longinus, heute vom Gehilfen bewohnt. – So kleine Zimmer hatte die Gudel noch nie gesehn, und dazu wars stichdunkel in ihnen, schon jetzt, obwohl die, über die winzigen Fenster hingewachsenen Weinreben zur Zeit kahl waren, – und über die Maßen dumpf. Der Eingang ins Haus lag auf der Rückseite und führte in die Küche; diese und eine kleine Wohnstube füllten das Erdgeschoß. Von den zwei oberen Kammern war die eine das ursprünglich eheliche Schlafgemach, jetzt das der Frau Drolshagen; in der andern hauste der Altgesell, der seit dem Tode des Meisters den Schmiedhammer führte. So gab es im Haus keinen leeren Raum, aber für die Zeit der Niederkunft sollte der Gehilfe ausquartiert werden, der Altgesell seine Kammer, Frau Drolshagen die des Altgesellen nehmen und die Gudel ihr Bett beziehn. Sauber war es, wie alles im Hause.
Am 1. März 1815, an demselben Tage, wo das große Tier noch einmal die Pranke auf Europa legte, gab die Gudel ohne sonderliche Beschwerde, aber zu einiger Verblüffung, einem Knaben und noch einer Tochter das Leben, das aber diese nicht lange behalten sollte; sie war augenscheinlich zu klein. Und sechs Wochen später, am Tage, wo das allzuwinzige Geschöpf in die Erde gesenkt wurde, nahm Longinus Abschied, um wieder zur Armee zu stoßen.
Die Gudel sah finster schwarz, und eine Zeitlang war ihre Milch vergiftet. Der Knabe erkrankte, es gab aufgeregte Tage und Wochen, allein besser dieses als die Leere von 1813. Charpie wurde auch nicht gezupft, alle Leinwand verkam zu Windeln. Die Gudel brachte ihr Kind hoch, konnte es wieder stillen und fügte sich in das Unvermeidliche, das heißt wie einen schwarzen Stein in ein schwarzes Brett.
Da dieser Feldzug in Frankreich vor sich ging, konnten keine Briefe geschrieben werden. Aber die Nachrichten von Bar-sur-Aube, von den Marneschlachten, von Ligny und Belle-Alliance kamen, der Kaiser wurde gefangen, Friede war geschlossen, der Kaiser saß auf Helena, und von Longinus kam nichts. – Ach, dieser Unselige, ächzte die Gudel, warum war er gegangen, da er doch sachsen-weimarisch war und der neuen preußischen Dienstpflicht nicht unterlag? War das das verfluchte Eisenkreuz von Leipzig, das drückte und brannte und einen unväterlichen Ehrgeiz entflammte? Mußte durchaus er es sein, der eine Kanone auf die Bestie richtete und abfeuerte? Er hatte gesagt, daß er es müßte; deshalb war es keineswegs einzusehn.
Im Oktober schrieb die Gudel voll Todesangst an sein Regiment, nachdem sie es eher nicht gewagt hatte, aus Furcht vor der äußersten Gewißheit, und nach ewigen Wochen der Wartequal kam im November der dürftige Bescheid, daß der Kanonier Drolshagen nach Ligny sich nicht beim Regiment eingefunden habe und seither verschollen sei. Tod sei nicht wahrscheinlich, da ihn niemand begraben habe.
Die Gudel fing an, Spitzen zu klöppeln wie ihre Mutter. Vom Eintreffen jener Nachricht an richtete sie sich auf das Warten ein, sich stabilierend wie einen Erzfels, warten zu wollen, und wenn ihr Leben damit verging. Sie verließ den Gasthof und bezog die Kammer des Longinus oder des Gehilfen, der bereits im Frühjahr auf Wanderschaft gegangen, und für den ein Lehrjunge angenommen war, der bei seinen Eltern schlief. Da das Dorf an keiner verkehrsreichen Straße lag, war die Arbeit in der Schmiede gering, warf infolgedessen auch wenig ab und ernährte eigentlich nur den Altgesellen, der jedoch, als er nachmals starb, so höflich war, alles Ersparte testamentlos der Meisterin auszuhändigen. Er führte überhaupt von allen das behaglichste Leben – dieweil der Lehrling verhauen werden und das Kind schreien mußte –; stand, wenn es die Witterung irgend erlaubte, pfeiferauchend und die nackten Arme gekreuzt, an der Hausmauer neben dem Fenster, hinter dem die Frauen arbeiteten, und sagte: »Ja, ja, Frau Meisterin, so ist das Leben. Ganz so ist es!« auf Hochdeutsch, seine Worte auf diese Weise auch an die Gudel richtend, die er sonst aus Ehrfurcht niemals anzureden wagte. Mit der kälter werdenden Jahreszeit drang er aus der zu einsamen Werkstatt höflich in das Wohnzimmer ein, setzte sich vor einen Stuhl und spielte halblaut Karten mit einem Unsichtbaren, der – seltsam! – immer gewann. Er ging nicht ins Wirtshaus.
Und nun verrannen die düsteren Herbst- und Wintertage einförmig im leisen Weben um die Wiege, im leisen Klappern der Klöppel und Pricken der umgesteckten Nadeln, wenn die Frauen sich gegenübersaßen am Fenster, zwischen sich auf einem Tischchen die schweren Kissenwalzen, – jene Tage, die bald nach Mittag in Nacht erstarben und doch von der Gudel beim Schein einer reichlich tröpfelnden Kerze bis zum Morgen verlängert wurden, klappernd vor Müdigkeit, Frost und Verzweiflung wie die dürren Hölzer zwischen ihren Fingern. – Weine, ja weine du nur! sagte sie zu dem Licht und schneuzte es; du brennst und fängst an zu weinen, meine Augen haben geweint und nun brennen sie, aber du leuchtest und wärmst, und das kann ich nicht leisten. – Der Knabe erwachte und schrie nach seiner Gewohnheit, sie legte ihn, wie er wollte, um oder an die Brust, und gab sich Mühe, im Hinabschauen auf sein glühendes und verzerrtes Gesicht, ihr Wesen ganz mit entfließen zu lassen mit dem Süßen, das sie aus sich rinnen fühlte. Zuweilen fuhr sie dann auf, weil sie geträumt hatte, im Schein des silbernen Armleuchters ihrer Großmutter gegenüberzu sitzen, unter deren knöchernen Fingern die Könige und Buben der Patience sich in Bilder von Gehängten und Geköpften verwandelten. Viel war sie Kind in ihren Träumen, in denen immer die glücklichen früheren Dinge sich in Abscheuliches und Grausiges verwandelten. Und in der Totenstille der nächtlichen Stunden in ihrer Kammer, deren Sekundenfall der Holzwurm pickend abzählte in der Wand, in der sie, angstvoll horchend, das schlaflose Heimchen schrillen hörte in der Schmiede unter ihr und das Schnarchen des Altgesellen in seiner fernen Kammer wie das sehr ferne Knarren eines Wagens auf der Landstraße, – in dieser Stille konnte ihr doch vieles verkehrt vorkommen. Denn freilich, wenn Longinus fortfuhr zu fehlen von jetzt ab, so war der Sinn kaum noch einzusehn. – Richtig dagegen war, daß sie als Kind gelernt hatte, im ungeheizten Raum zu schlafen.
Mit dem Winter und bald heftigen Schneefällen wurden die Tage vom Hereinblendenden Weiß etwas heller und länger, aber das war die ganze Veränderung. Oder vielleicht noch die, daß die Gudel an den Adventsonntagen das vom Schneefall getragene Geläute von Weimar hören konnte. Vinetaglocken, lange versunkene, aus der Tiefe der See. Am heiligen Christabend glaubte sie zu sterben vor Gram im Gedenken des Lichterbaums ihrer Kindheit. Das neue Jahr kam mit Glocken und Choralgeblase, und die Gudel wartete noch. Jetzt wartete sie zunächst auf das Frühjahr und sparte alles Geld, da sie dann aufbrechen wollte, um zu suchen, was es zu suchen gab von Longinus.
Heil. drei Könige, Epiphanias ersten, zweiten und dritten, Sexagesimä, Estomihi, Invokavit –, die Gudel zählte leise die Sonntage und erinnerte sich, wie sie als Kind dieselben gezählt hatte zum Frühlingwerden. Für ihn hatte sie von klein auf eine besondere Leidenschaft gehabt und von Weihnachten ab auf ihn gewartet. Einmal hatte die große schwarze Katze des Kastellans sechs Junge geworfen, von denen das Kind eines behalten durfte. Leider konnte ihr niemand sagen, woher die Katze auf einmal sechs Junge hatte, und da erklärte sie schließlich, den Frühling fragen zu wollen. – Ja, warum denn den? – Das Kind sagte: »Der kommt doch da her, wo alles gemacht wird.«
Am Sonntag Remimszere begann es zu tauen. Nachmittags war die alte Frau Drolshagen nach Weimar in die Messe gegangen; die Gudel saß am Fenster allein neben ihrem schlafenden Knaben, in die sinkende Dämmerung blickend, in der das steile Dach des niedrigen Hauses schräg gegenüber, schneebedeckt, bleicher und bläulicher unter dem grauschwarzen Himmel erschien. Abgestumpft, in den Sinnen nichts als das ununterbrochene, bald raschere, bald langsamere Abtropfen des schmelzenden Schnees, den sie mitunter rutschen hören konnte drüben auf dem Dach – dann das weiche, dumpf leise Fallen der Last auf den Boden –, saß sie da. Das Zimmer war leidlich warm, es knackte im Ofen, das Kind schmatzte im Schlaf, beide winzige Fäuste geballt neben der überhohen, gerunzelten Stirn, und aus der Gesellenkammer ganz leise war das ununterbrochene Streichen einer Bürste zu hören und ab und an ein Hüsteln. Es war jene einschläfernde Öde, die so behaglich scheint, wenn sie beschrieben wird, und es so wenig ist, wenn man drin sitzt. –
» Personne ne dit,« krächzte vernehmlich eine uralte Stimme vom Ofen her, » que personne est verreckt. Le chat est mort.«
» Le grand chat noir est-il en ciel, s'il vous plaît?« fragte eine Kinderstimme ernsthaft.
» Fléau cet enfant! Le ciel est pour nous autres hommes!«
» Où donc, s'il n'est pas en ciel, où donc est-il mort?«
Arme kleine Frage, auf die es keine Antwort gab! Die Gudel riß erschreckt aus dem Halbschlaf die Augen auf und spürte sich ganz erfüllt vom Duft eines frischgeplätteten Linonkleides, in den ein sehr feines Teilchen Eau de nulle fleurs gemischt war mit unendlicher Langweile, Sonnensprenkeln auf weißen Dielen und Spatzengezwitscher im Freien, wo es vielleicht reifende Aprikosen gab. – –
Aber es stand jemand im Fenster, eine dunkle Gestalt, die von draußen hereinblickte. Ihr Gesicht war fast nahe über dem der Gudel, mit einem schwarzen Bart, auf dem Kopf etwas Rotem und den Augen des Longinus.
Sie saß, ohne sich zu regen. Endlich stand sie leise auf, als ließe die Erscheinung sich sonst verscheuchen, ging zur Tür, sah noch einmal zurück, trat leise durch die Küche ins Freie und ging um das Haus bis zur vordersten Ecke, um die sie sah. Die Luft war milde und feucht, es war sehr frei, und überall rieselte es und tropfte. Am Fenster noch immer stand, hineinblickend, die Gestalt, schwarz in dem letzten Schein des Schnees, dessen hohe Wälle zwischen den Fahrgleisen die Straße bedeckten. Sie trug einen Militärmantel um die Schultern gehängt und hatte die Zipfel eines roten Taschentuchs überm Kopf festgeknotet. Die Gudel ging leise hin, zupfte an einem Ärmel und sagte: »Longinus!« Der Mensch wandte sich zu ihr und schien sie anzublicken, sagte aber nichts, und sie nahm sein Gesicht in die Hände, schrie, da sie es wirklich fand: »Longinus!« und fühlte, während sie es auf ihre Schulter herabzog, daß er weinte. Nun zog sie ihn an der Hand um das Haus und in die Küche, entzündete eine Kerze mit dem Papierfidibus am Herdfeuer und sah ihn stehn an der Tür, wo sie ihn losgelassen hatte. Er machte eine Bewegung mit den Schultern, als ob er den Mantel fallen lassen wollte, zog ihn aber vielmehr mit der einen Hand zusammen. Die Gudel sah er nicht an. In der unbegreiflichen Furchtsamkeit, von der sie erfüllt war, fand sie kein Wort, fragte endlich hülflos: »Willst du dich nicht setzen?« und schob etwas an dem Stuhl zwischen ihnen. Er setzte sich, und plötzlich hatte die Gudel seinen Mantel gefaßt und von den Schultern zurückgezogen, und der rechte Rockärmel war leer.
Das immer lautere Schreien des Kindes machte, daß sie nach langer Zeit aus den Krämpfen des Weinens, in die sie, vor ihm liegend über seinen Knien, verfallen war, zu sich kam. Sie sprang auf, lief ins Zimmer zu ihm, riß es aus seinen Kissen und Tüchern und an die Brust und hielt es Longinus hin, stammelnd und gewürgt vom Schluchzen, aber er machte nach einem gleichsam neugierigen Blick eine Bewegung, das fortzunehmen, indem er wegsah, und die Gudel begann singend und weinend mit dem Kinde umherzutanzen und es zu wiegen. Hiervon wurde sie nach und nach ruhiger, auch der Knabe hörte mit Schreien auf, sie besorgte ihn, aber als sie vom Ofen, wo sie das nasse Zeug aufgehängt hatte, zurückkehrte und Longinus in unveränderter Weise sitzen und vor sich hinstarren sah, begann ihr zu grauen.
Sie versuchte es dann auf hunderterlei Art, bittend und beschwörend, scherzhaft und drohend und mit Liebkosungen, seine Starrheit aufzulösen, ohne Erfolg. Auch seine heimkehrende Mutter erreichte nichts. Und so blieb es diesen Abend.
Am nächsten Morgen – er hatte auf dem Sofa der Wohnstube geschlafen, sich selbst angekleidet und am Brunnen gewaschen – erschien er frischer und etwas heller, das heißt, er schien die Gudel zu sehn und antwortete auf ein paar Fragen. Nur als sie dringlicher wurde, verstummte er ganz und wandte sich ab, und so blieb es auch weiterhin. In den folgenden Tagen ließ er sich Brocken um Brocken das Dürftigste über sich herausfragen, immer wieder verstummend, sich in sich zurückziehend, wenn es zuviel wurde, und als sie keine Fragen mehr wußten, war es auch aus. Alle Versuche der Gudel, ihn an Früheres zu erinnern, ihm nur ein Wort abzuringen, daß er sage, wer sie sei, daß er sie erkenne, sie liebhabe, endeten nur mit seinem zögernden Sichabwenden oder sonst einer Bewegung des Überdrusses.
Folgendermaßen schien es ihm ergangen zu sein:
Im Zurückgehen bei Ligny hatte eine, sein Pferd tötende Kugel ihn mit dem Tier zu Boden geworfen, und das Rad eines vorüberrollenden schweren Geschützes ging über seinen Unterarm. Er verlor das Bewußtsein, erwachte im Dunkel und versuchte, fortzukommen. Gesindel, das ihn entdeckte, zog ihn bis aufs Hemd aus und versetzte ihm mehrere Degenstiche, die großen Blutverlust zur Folge hatten, ohne sonst gefährlich zu sein. Er schleppte sich dann fort bis auf eine Landstraße, wo er von Bauern gefunden und aufgehoben und in gute Pflege genommen wurde. Aus der Besinnungslosigkeit des Wundfiebers erwachend, erkannte er das Fehlen seines halben Arms, der ihm abgenommen war, verfiel in Raserei, tobte Tage und Nächte, bis ihm die Kraft versagte.
Mehr wußte Longinus nicht anzugeben; es kam noch Unverständliches von Fortgehn und Fortgehn, und da er mehrmals die Stelle unter dem Ellbogen bezeichnet hatte, wo ihm der Arm abgenommen sei, der aber fort war bis zum Schultergelenk, so ließ sich wenig verstehen und nur vermuten, daß er vor vollendeter Heilung in einer Art Wahnsinn aufgebrochen war, daß die Wunde sich verschlimmert hatte, und daß ihm dort, wohin er gelangt, oder sei es daß er zurückgebracht wurde, auch der Rest des Arms abgenommen wurde. Endlich mochte er dann genesen und zu Fuß, die Richte besinnungslos treffend wie ein Pferd, heimgelangt sein.
Also war es gekommen! War es doch eingetroffen, das geahnte Unheil, und seine Schwermut hatte überhandgenommen und ihn bewältigt.
Invokavit, Reminiscere, Okuli –, die Gudel ließ sich ganz ausbrennen vom Schmerz; doch kam der Tag, wo sie sich gesättigt hatte mit Teuer und auf andres zu denken begann.
Die Mutter des Longinus hatte sich inzwischen, damit ja das Unheil nicht ohne Gesellschaft bliebe, ein Geschwür an der Hand zugezogen, das sie für längere Zeit am Arbeiten hinderte. Aber auch ohne das hätte die Schmiede samt der gemeinsamen Arbeit der Frauen nicht das Nötige an Nahrung und Kleidung für so viel Personen – sechs mit dem Lehrling und dem Kind – abwerfen können. Den Herzog angehn, das hieß den Frauen, die ihren Stolz hatten Beide, die eine von unten, die andre von oben, bloß Bettel. Was war zu tun?
Okuli, Lätare, Judika, Palmarum –, doch die Gudel wartete weder das frühe Osterfest, noch Palmarum, noch Frühlingsanfang am Tage vorher ab, um davonzugehn; aber sie ging nicht weit. Eines Morgens knotete sie den alten Slowakenschal ihrer Schwiegermutter kreuzweis um Brust und Rücken fest, band ein weißes Tuch, wie es damals von Frauen ihres Standes getragen wurde, um den Kopf, so daß die oben verknoteten zwei langen Zipfel ähnlich einem paar Ohren abstanden, und machte sich auf den Weg nach Weimar. Allda versuchte sie, in den Häusern, wo ihre Mutter bisher die Klöppelware abgesetzt hatte, und unter dem Vorgeben, eine Waise und Verwandte des verstorbenen Schmiedemeisters zu sein, sich für alle Art Dienst zu verdingen, Servieren bei Gesellschaften, Aufwartung und als Markthelferin, wie es hieß. Andres hatte sie wohl gelernt, aber selbst in der französischen Sprache hätten ihre grammatikalischen Kenntnisse zum Unterrichterteilen kaum genügt. Sie wurde an mehreren Stellen – die Häuser der vornehmen Gesellschaft vermied sie übrigens aus leicht vorstellbaren Gründen – nicht unfreundlich auf-, an einigen gleich angenommen, hier um Kinder zur Schule zu führen und zu beaufsichtigen, dort für spätere Aushülfe beim Servieren, – von anderen mit Empfehlung anderswohin weitergeschickt, wo es ebenfalls glückte, und von nun an ging sie fast täglich mit Tagesanbruch die Wegstunde nach Weimar und abends, auch wohl spät nachts erst zurück. Die schwere und oft niedrige Arbeit, Plage mit Kindern und alle sonstigen Verdrießlichkeiten, auch die Wandrung nach und von der Stadt über zerweichte Wege, durch Pfützen, fast immer bei Dunkelheit und in jeder Witterung, ertrug sie körperlich besser, als sie selber erwartete, und obgleich sie nach den ersten zwei Wochen zu zerbrechen glaubte. Was aber das seelische Teil in ihr angeht, so dachte sie: Siehe da, du meintest, ihn ganz umsonst zu kriegen – nämlich Longinus –, und nun kannst du erst bezahlen, und du hast ihn außerdem noch lange nicht! – Dies dachte sie nicht im entferntesten so munter, wie es klingt, denn zwar beflügelte sich bei jedem Heimgang unwollend ihr Schritt in der Hoffnung, doch endlich einen Genesenen zu finden, aber dies Hoffende war sozusagen nur das unausrottbar Menschliche in ihr, das sich, wie die Beschleunigung ihres Ganges, wider ihren Willen auswirkte und ihrem Charakter nicht entsprach. Der stand in tiefer Verfinstrung, sehr ähnlich einem blattlosen Baum, der sich in der Winternacht, klappernd vor Angst, für einen Galgen hält.
Quasimodo, Miserere, Jubilate, Kantate, Rogate, Exaudi, Heiliges Pfingstfest, und kurz danach erlebte die Gudel, was folgt.
Es war ein Gartenfest am Ilmufer, das schon vor Dunkelwerden begann, an einem warmen Maiabend. Ein sehr vornehmes Haus, – die Gudel war schon so weit, daß sie dachte: Gedient ist gedient, – und nur als ihr der Vorschlag gemacht wurde, eine Stelle zur Aushülfe am Hof anzunehmen, wurde sie von einem nervösen Schauder befallen, der den Tag über anhielt. – Sie hatte eben ein Tablett mit Gläsern voll spanischen Weins bei den Insassen eines kleinen Pavillons herumgereicht, der über den Garten erhöht auf dem Ufer lag, und trat ins Freie, als sie verwurzelt stehn blieb vor einer Erscheinung, die zehn Schritte weit unter ihr auf den emporführenden Weg hervortrat, zwischen den Fliedergebüschen.
Das war, im Gespräch mit einem Andern begriffen, ein alter Herr in einem langen blauen Rock, der sich, einen Ellbogen an sich gezogen, die andre Hand auf dem Arm seines Gesellschafters, in etwas gesteifter Würde hielt, nicht eben groß. Die Gravität, mit der er sich trug, verwandelte sich vor den Augen der Gudel in mächtige Hoheit, als er den Kopf zu ihr heraufwandte, ein festes, wiewohl faltiges Gesicht zeigend, zwischen emporstehenden Büscheln weißen Haars über den Schläfen, und mit einer unendlichen Stirn. Als aber jetzt aus den zwei dunklen Augen, die wie unter Gewölben der runden Brauenbögen lagen, ein Feuerschein zu ihr flog, spürte sie in allen Gliedern den Schlag, ganz fern von dem Wissen, wer das war, das dennoch im Weiten um sie lag wie ein majestätisches Gerücht, rührte sie ein Urschrecken an aus diesen braunen Augen. Sie glaubte darin die ganze Welt offen zu sehn, aufgetan und geordnet; groß und feurig schaute daraus das Unsterbliche ihr entgegen und eine Gewalt des Lebendigen, unrettbar und kaum erträglich.
Die Gudel in ihrem magischen Bann starrte fassungslos hin, während er näher kam und ihr Starren bemerkte, welches ihm mißfällig zu sein schien, denn sie sah ihn, weiterredend und sie anblickend, zweimal eine heftige Bewegung mit dem freien Arm gegen sie machen, die sie kaum verstand, mühsam jetzt ein Lächeln aufbringend. Da schien ihm gleich zu gefallen, was er sah; das Strenge in seinen Zügen milderte sich angenehm, und als die Gudel, kaum wissend, was sie tat, glühend und brausend zu ihm trat, nahm er freundlich und mit einer Art Kratzfuß eines der Gläser, wozu er etwas sagte, das der plötzlich gehörlosen Gudel in einer unbekannten Sprache geredet schien. Dann war sie allein auf dem Weg und stand und dachte angestrengt nach, wer das gewesen war. Worauf sie das jählings und riesenhaft aufgeblühte Wort: Goethe! davontrug, als säße es wie ein lebendiger Stern vor ihrer Brust. –
Sie sah ihn erst wieder bei Tafel, als sie die Speisen herumreichte. Er erkannte sie, als sie ihm die Schüssel hinhielt, nickte lächelnd, als hätte er vorhin ihre Bekanntschaft gemacht, und sie hörte sich gefragt: »Welches Stück rät Sie denn?« was sie erst nicht verstand. Dann zeigte sie auf ein Stück mit der Hand, zog sie aber hastig zurück, da sein Blick darauf fiel, und ihr schien zur Erleichterung, als sei ihm nichts aufgefallen an dem sehr kleinen, noch unverdorbenen, nur etwas aufgesprungenen Gegenstand. Aber eine Weile danach, als sie, ihm schräg gegenüber, für Augenblicke müßig stand, fühlte sie seinen Blick und fand sich von den jetzt feurigen Augen geprüft auf eine Weise, daß sie sich plötzlich weiblich empfand, daraufhin augenblicks ganz den Kopf verlor, die Brauen leicht gegeneinander zog und mit jenem Lächeln der Dame, das den Anschein völligen Fern-, Fremd- und Unbekümmertseins zu erwecken dienen soll, umherspähte – wie Hausfrau oder Haustochter –, ob irgendwo irgendwas fehle. Innerlich – so sehr war sie in diese Rolle eingetreten – hörte sie sich dazu fragen: »Ihre Gattin ist nicht anwesend, Herr Geheimrat?«
Goethe aber merkte sich dies. Und als später die Gudel, todmüde auf brennenden Füßen, neben dem, das Haustor offen haltenden Lohndiener stand – es war eine breite Torfahrt zu Stallgebäuden –, das Windlicht schützend mit der Hand, da erfaßte er diese, führte sie daran nach rückwärts und sagte: »Diese Hand, diese Haltung, – mein liebes Kind, ich kann mich unmöglich täuschen, wie kommen Sie hierher?«
Die Gudel, ratlos ausgesetzt seinem milden, aber unentrinnbaren Blick, sagte, da sie nach Sekunden noch immer nichts fand als den vertrackten Vers, der sie den ganzen Abend geplagt hatte, diesen auf:
»Dienen lerne beizeiten das Weib nach seiner Bestimmung,
Denn durch Dienen allein –«
Sie stockte erschrocken; aber Goethe, zum Lächeln genötigt und erst wohl nur in der Vermutung, daß ihr Gedächtnis ausblieb, wollte einhelfen; im Sprechen aber merkte er, was er sagte, und schloß mit lächelnder Bedeutsamkeit erhobenen Fingers:
»– durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen,
Zu der verdienten Gewalt, die doch ihr im Hause gehöret.
»Nun sieh mal einer an, man kennt mich gar auswendig! Und Sie also sind es, der die Gewalt hier im Hause gehört! Gestehen Sie, liebes Kind, gestehen Sie!«
Die Gudel schwieg. Er sagte nun, daß er natürlich nicht in sie dringen wolle, wollte aber den Namen wissen.
»Der Name, Exzellenz,« sagte sie, »ist Drolshagen.«
»Drolshagen! Ei laß sehn! Was Teufel – Drolshagen? Der Vater wäre Schmied?«
»War, Exzellenz, er ist –«
»Richtig, tot! Warten Sie, warten Sie! Dieser Schmied hatte nie eine Tochter. Ja, wie ist mir denn, das muß doch der Bildhauer Drolshagen sein, von dem mir berichtet wurde. Liebes Kind, ich kann mir nicht helfen, ich bin sehr zudringlich, aber was sind das für Sachen? Also ein Sohn vom Schmied Drolshagen ist Ihr Mann?« Die Gudel nickte. »Und er? Was ist mit ihm?«
»Er ist krank, Exzellenz. Er verlor bei Ligny den Arm, ja – den rechten.«
»Oh! oh! den rechten! Ein Bildhauer! und den rechten! Ja, und nun Sie, meine Verehrte, was sind Sie für eine Geborene?«
»Geborene?« fragte die Gudel betäubt.
»Ja, Geborene möcht ich wissen! Née – wie man sagt.«
»Née –« Die Gudel stockte. »Née Trassenberg.«
Goethes Augenbrauen gingen empor, und er horchte.
»Das ist – epatant!« sagte er.