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Aber es kam der Mai, und die richtige Nachtigall, und in solchen Heerscharen dieses Jahr eigentümlicherweise, daß ihr Geschrei von Nacht zu Nacht überhandnahm und die Gudel bei offenen Fenstern kein Auge zutun konnte; waren sie dagegen geschlossen, so tobte in ihr das starke erhitzte Blut, daß sie zu ersticken meinte. Der einen wie der andern dieser zwei Folterungen zu entgehen, blieb am Ende nur die Flucht in das Freie, und so wandelte die Gudel denn in der hellgrauen Nacht, deren dunkles Gewölbe von wenigen Sternen matt übersilbert war, von diesem zu jenem Gebüsch, aus denen ihr ein lärmendes Gebrodel und Gekoller, ein brünstiges Flöten und stählernes Gehämmer der entfesselten Tiere herausscholl, wie aus ganzen Werkstätten des Gesangs; und sie fand etwelche, die saßen auf freien Ästen sichtbar und wie blind, kleine schwarze Vögel, dicken geschwollenen Halses, weit offenen Schnabels, und schmetternd daraus, strömend daraus von einem glühenden Tönegold, daß die Gudel den kleinen heißen Atem rauchen zu sehen meinte.
Und dann saß sie selber auf ihrem Ast auf der Mauer, die Hände ums Knie gefaltet, den Geruch atmend des feuchten, knisternd um sie her ausgerollten Laubes, und hinschauend über das unsichtbare Land gegen die sehr zarte Silbersichel des Mondes, aus deren fein gezogenen Enden ein haardünner Goldrand um die braune, sichtliche Scheibe gebogen war. Und um so stiller war dies, als von allen Seiten, aus dem Garten der Gudula und dem Berggarten, der mächtige Chor der Vögel erscholl, fern tiefes Flöten, Gewirbel, Geschluchz und Gestöhn ohne Ende.
Der Gudel wurde sehr wehmütig mit der Zeit. Sie hätte auch ohne Gitarre singen können – bei Nacht war ja wohl niemand im Mausoleum –, aber bedrückten Herzens schien es ihr unanständig, seinen Jammer auszuschreien wie das Getier. Auch daß sie sich unglücklich fühlte, dachte sie, war ganz recht, wie sie niemals und zu keiner Zeit sich beklagt hatte über die ewige Gebundenheit, die Vereinsamung und die Leere ihres Lebens, denn deswegen war sie eine Prinzessin und hatte nicht an Abänderung zu denken. Man konnte sich unglücklich fühlen, aber man hatte nichts dagegen zu haben. Übrigens würde sie ja nun wohl bald jemand heiraten …
Eine Schale des Harms, eine der Freuden wog
Gott dem Menschengeschlecht; aber der lastende
Kummer senket die Schale;
Immer hebet die andre sich.
Irr und traurigen Tritts wanken wir unsern Weg
Durch das Leben hinab, bis sich die Liebe naht …
Sie kam nicht weiter, brach ab und rettete sich aus einer leichten Verwirrung in den Mitleidsgedanken: Armer Hölty! Aber aus der Erinnerung an seinen, ach so kurzen Lebensgang, wie sie ihn, liebevoll geschildert, in der von den Freunden Stolberg und Voß besorgten Ausgabe gelesen hatte, entfaltete sich nur duftend die Schlußstrophe jenes Gedichts, fast so als habe sie nicht lange genug gedacht, so daß der Rest noch zum Vorschein kam:
Unter Rosengesträuch lispelt ein Quell und mischt
Zum begegnenden Bach Silber. So strömen flugs
Seel' und Seele zusammen,
Wenn allmächtige Liebe naht.
Und dann, mit einer Art wehmütiger Nachgiebigkeit gegen die Stunde oder gegen sich selbst, sang sie, aber nur mit halber Stimme, die erste und die letzte Strophe ›auf den Tod einer Nachtigall‹.
Sie ist dahin, die Mayenlieder tönte;
Die Sängerin,
Die durch ihr Lied den ganzen Hain verschönte,
Sie ist dahin!
Sie, deren Ton mir in die Seele hallte,
Wenn ich am Bach,
Der durchs Gebüsch im Abendgolde wallte,
Auf Blumen lag!
Sie horchten dir, bis dumpf die Abendglocke
Des Dorfes klang
Und Hesperus, gleich einer goldnen Flocke,
Aus Wolken drang;
Und giengen dann im Wehn der Mayenkühle
Der Hütte zu,
Mit einer Brust voll zärtlicher Gefühle,
Voll süßer Ruh.
Eine kleine Weile danach stand sie auf, seufzte und glitt den Ast wieder hinunter. Alsdann schlenderte sie, ein wenig schläfrig, den Weg unter der Mauer zum Pförtchen hin, betrachtete den Fleck, wo früher die Papierbogen geklebt hatten, seufzte wieder und legte die Hand auf die Klinke der verschlossenen Tür.
Da aber tat sich vielmehr ein Spalt auf, und die Tür war gar nicht verschlossen, sie hatte es vergessen das letzte – –, siehe da, in dem Spalt war eine dunkle Gestalt mit glühenden Augen.
Die Gudel sagte, tödlich entsetzt nach einer sprachlosen Sekunde: »Aber Herr Drolshagen, was fällt Ihm ein!«
Da lag er schon ihr zu Füßen, umklammerte ihre Knie, stöhnte schrecklich, drückte ihre Hand an die Augen, an den Mund, fing endlich an zu stammeln und verständlich zu sprechen.
Nein, er könne es nicht verbergen! Er könne sich nicht mehr retten vor Seligkeit und Weh! Er gestehe, daß er nicht aus dem Mausoleum gewichen sei seit jenem Augenblick, wo sie als Traum zu ihm kam. Aber nun in diesem überschwänglichen Augenblick fühle er, wie alle Seraphim des Himmels mit ihm niedergerauscht seien in den Kniefall seiner Seele, und mehr bedürfe es nicht, und nun wolle er in ihrem Namen hingehn und das große Untier umbringen und von seinen Mamelucken sich zerfetzen lassen. – Dann sagte er, daß er wahnsinnig sei, daß sie aber bei allen Göttern nicht glauben dürfe, daß er deshalb auch ohne Ehrerbietigkeit sei, und daß er wisse, wo sie stehe und wo er, daß er nicht daran denke, auf ein gleiches Gefühl zu hoffen wie das, von dem er verzehrt werde, aber sagen müsse er es, sagen, sagen, – und die Nachtigallen – – ihr Gesang – – und der Frühling, und Hölty –, und er liebe sie über alle Maßen und mit Himmels- und Höllengluten.
Oh Liebe entwaffnet! Ja, die Gudel wäre kaum entwichen, selbst wenn es ihr gelungen wäre, sich aus seiner, zwar schmerzhaften, aber deshalb nicht minder wohltuenden Umklammerung loszumachen. Als er endlich schwieg und sie ihn bewogen hatte, aufzustehn und ihre Hand loszulassen, sah sie im Dunkel sein Antlitz sehr weiß mit so schmerzlichem Ausdruck, daß sie die Hand dagegen ausstreckte und beruhigend sagte: »Er tut mir weh, Longinus!«
Im selben Augenblick war seine Qual in eine lodernde Wonne umgeschlagen. Himmel, sie hatte ihn Longinus genannt, Longinus war er immerhin, und sein Schmerz tat ihr weh. Er faltete die Hände und schwor, daß auch nicht eine Spur mehr von Gram in ihm wäre, der ihr, ihr weh tun könne. Er warf sich abermal ihr zu Füßen hin und küßte sie atemlos, wobei sie leider bemerken mußte, daß sie dieselben aus nächtlicher Nichtachtung der sittlichen Vorschrift nackt in die ausgeschnittenen Schuhe gesteckt hatte, und wie sie sich nun unter der Wärme seiner Lippen mit Glut überzogen, schwindelte ihr plötzlich, sie mußte stöhnen und sich auf die Lippen beißen, glaubte eine feuerflammige Sekunde lang in leiblicher Umarmung mit einem ganz glühenden Körper zu hangen, und trat dann zurück, wobei allerdings ein Schuh sich vom Fuß löste, mit dem er triumphierend vom Boden aufsprang.
Um diesen Schuh entspann sich nunmehr ein leise geführter, aber deshalb um nichts weniger hitziger Kampf, in dem auf ihrer Seite Trotz und Verachtung und Zorn so häufig mit Bitten, Ermahnungen und Beschwörungen gar wechselten wie auf der seinen sich Unterwürfigkeit in Schmeichelung, Beteuerungen und inbrünstiges Flehen verwandelte. Longinus blieb Sieger in diesem ersten Kampf. Die hitzige Gudel riß auch den andern Schuh vom Fuß, warf ihn hin und entlief, blieb hundert Schritte weit hinter einem Gebüsch stehn, brach in tausend Tränen der Niederlage und Entehrung aus, schlich langsam weiter und lief Herrn Drolshagen wieder in die Arme, der einen Schleichweg gegangen war. Übrigens tat er nichts, als die Schuhe stillschweigend nebeneinander in ihren Weg zu setzen und mit gekreuzten Armen in einer Verneigung zu erstarren. Erst als sie in die Schuhe geschlüpft war und vorüber wollte, seufzte er so ersterbend, daß sie sagte:
»Er muß nicht seufzen! Alles seufzt dahier und führt sich auf in Démence. Gnade Gott Ihm, Monsieur, daß Er mir die Schuhe gebracht hat. Aber das sind Seine Schwüre! Mir nicht weh tun zu wollen, und dann läßt Er mich bloßfüßig über den Kies laufen comme une servante. Ach, Herr Drolshagen, ich hätte dies nie von Ihm gedacht!«
Diese Rede war viel zu lang. Wie aber über vieles andre, war die Gudel auch hierüber sich gar nicht klar, indem sie ihn demutvoll erwidern hörte, daß sie bedenken möge, in welchem verzweifelten Zustand er sei, und so entspann sich aus Rede und Gegenrede ein neues Gespräch, während dessen sie unter der Mauer des Parkes einherwandelten, Longinus seine Liebe erklären, beschreiben, figurieren, paraphrasieren, beteuern und besingen durfte und schließlich einen kleinen Abriß seiner Lebensbeschreibung geben, was alles zusammen bis nahe zum Morgengraun währte.
Nun hatte dieser Longinus, in Wahrheit ein Mensch so reiner Sitte und lautern Charakters, wie seine schöne Zeit nur hervorbringen konnte, eine Haltung von so viel Anmut und natürlichem Adel, daß ihn in den, schon vom Mitleid mit dem Unglücklichen verschleierten Augen der Gudel kaum etwas besser fördern konnte als das freimütige Geständnis, daß er allerdings von sehr niederer Herkunft sei. Sein Vater, der nicht mehr lebte, war ein einfacher Hufschmied in einem weimarischen Dorfe gewesen; seine Mutter ein Bauernmädchen aus Ungarn, aus der Theißebene; der Vater, eigentlich ein Sachse aus Siebenbürgen, hatte sie in seinem Heimatdorf, wo sie bedienstet gewesen war, kennen gelernt, und an ihr haftete zu allem andern der Makel lediger Geburt, der den Schmied Drolshagen freilich nicht geschreckt hatte. – Die Gudel erholte sich von so viel Abenteuerlichkeiten ein wenig an der Andeutung, daß der mutmaßliche Erzeuger seiner viellieben Mutter der Vicegespan ihres Dorfes gewesen sei; denn es ist allerdings ein Unterschied zwischen ledigen Geburten, und was dergleichen überhaupt angeht, so wußte die Gudel genug davon aus ihren eigenen Kreisen der Zeit. Und woher die Bildung seiner Gestalt und Haltung, wußte sie nun auch.
Er sehe der Mutter sehr ähnlich, fuhr er fort, die ein schönes und stolzes Mädchen gewesen sei und noch heutigen Tages, so hart sie sich mit Spitzenklöppeln durchs Leben bringe, eine aufrechte Gestalt und freies Wesen ihr eigen nenne. Weiter berichtete er von sich selber, wie er schon als ganz kleiner Knabe begonnen habe, aus Tonklumpen, die er aus der Werkstätte eines benachbarten Töpfers erwischte, kleine Tiere und Männerchen zu kneten, deren Umfang er vergrößern konnte, als er, älter geworden, zu diesem Töpfer in die Lehre gegeben wurde. Der nutzte die Fertigkeit des Knaben in der Herstellung von Tierformen und Mißgeburten aus, indem er sie zu Gefäßen umgestaltete und in Weimar auf den Markt brachte, in einer rohen Weise bemalt und gebrannt, Bucklige, Zwerge und sitzende Löwen, die den Rachen aufsperrten. Dann auch Leuchter in Gestalt von Zwergen, nackten Knäblein, Hunden und Bären. Diese wurden sehr beliebt, der Herzog kaufte einige Grotesken für seine Gemahlin, diese bestellte eine ganze Reihe von Zwergfiguren in einer bestimmten Form, in die sie Hyazinthen setzen wollte; der damals dreizehnjährige Longinus, der schon wußte, was er wollte, bedang sich beim Meister, daß er selber sie an den Hof brachte, und da er es erreichte, sie der hohen Frau selber abzuliefern, verstand er sich als den Schöpfer dieser Figuren mit Würde und Bescheidenheit hinzustellen, auch alle Fragen nach Herkunft und Zielen so nett zu beantworten, daß sie und ihr hinzugekommener Mann den besten Eindruck von dem ärmlichen, aber saubern und schönen Knaben empfingen, – eine Szene, die Longinus ironisch und wirkungsvoll zur Darstellung brachte. Nun, von einem Bildhauer auf die Probe gestellt, knetete er ein verkleinertes Gipsmodell einer archaischen Wettläuferin so artig nach, daß hiermit sein Schicksal besiegelt war. Dies war 1801. Er kam nun fürs erste auf das Gymnasium in Weimar, das er sechs Jahre lang geduldig besuchte, teils den Nutzen der Bildung mit einem guten Instinkt begreifend, teils von einem gewaltigen Hunger nach Wissen besessen; dann wurde ihm vom Herzog ein Jahrgeld ausgeworfen, und er zahlte auch den Unterricht, den der berühmte Christian Rauch in Berlin zu übernehmen einwilligte. Auf drei schöne Lehrjahre folgte ein Jahr in Italien, in Rom, wo er die Bekanntschaft des jüngstverstorbenen altenrepenschen Meisters machte. Dieser, im Vorgefühl seines baldigen Endes und in herzlicher Zuneigung zu Longinus, bewog ihn, mit ihm nach Deutschland zurückzukehren, wo er bei ihm auslernen und dazu kommen könnte, seine Stelle in der Stadt einzunehmen. Heute pries Longinus die Einsicht des Alten, dem – was ihn, Longinus, weniger beschäftigte – sehr daran gelegen hatte, ihm eine bürgerliche Sicherheit zu schaffen, da sein Ruhm dann um so freier und weiter seine Schwingen würde entfalten können. Und dies war wohl ein Grund gewesen, daß er selber die Ausführung des Mausoleumsauftrages immer wieder hinausschob und ihm das Hauptstück, die Figur der Prinzessin, gänzlich überließ.
Dieses sehr schöne, mittlerweil allerdings einseitig gewordene Gespräch endete, wie gesagt, unterm Schwinden der Sterne und während die tödlich erschöpfte Gudel nur noch im Halbschlaf die heißen Füße bewegte, sein fernes Gemurmel hörte und schauderte in der feuchtregnenden Morgenkühle. Sie erwachte noch einmal, indem sie sich versprechen hörte, sich so balde wie möglich die nahezu vollendete Figur ihres Vaters anzusehn. Longinus hatte, seit er erfahren, daß es ihr Vater war, mit Ungestüm daran geschafft. Jede Kordel, hörte sie ihn sagen, an der Verschnürung des Dolmans sei ihm süß geworden wie ein Finger der Prinzessin.
Auf einmal lag sie in ihrem Bett, hörte das weitferne Krähen eines Hahns, konnte auf keine Weise die Augen abwenden von der Lichtflamme der Kerze, die stechend in ihre Augen brannte, und war sich mit dem Verlöschen des Lichts, grade im Erschrecken und Zufassen nach dieser süßen, beängstigenden und schaurigen Erscheinung eines fremden Daseins, das zu ihr herabgerauscht war aus Nacht und Sternen wie ein gewaltiger Fabelvogel, – war sie sich plötzlich und augenblicks völlig entschwunden.
Die Gudel wartete, bis übermorgen war, kam in der Frühe und blieb eine Viertelstunde; und die Gudel kam bald wieder und blieb eine Stunde, und die Gudel kam oft und öfter und jeden Tag.
O wie anders war nun die Kindheit wieder da! Wieder da das ganze, süße, schmerzliche, kindische Wesen, für kindisch gehalten so wenig wie dazumal: gemeinsame Himmelfahrten und, ob getrennte, nichts weniger gemeinsame Höllenstürze des Böseseins, abgründigen Schmolltumes, der ergiebigsten Folterei des Andern, die das eigene Herz tausendmal glühender – und ach so himmelhaft süß! – in Daumenschrauben und spanische Stiefel einschnürte, und oh all ihr Götter und Nachtigallen der Erde, was gab es Wollustvolleres, als mit ganzem Rücken ausgerenkt zu sein über die Marter des gespickten Hasens! Und dieses Triumphgefühl des Beherrschens, des vermeintlichen, das doch nur deshalb so schmerzlich und wonnevoll zuckte, weil es in Wahrheit zitterte von Unterlegenheit wie das Blatt der Espe.
Sie saßen einander gegenüber auf den Marmorblöcken, plauderten von ihren so verschiedenen Kindheiten, er erzählte von fabelhaften Städten, Rom und Florenz, Nächten voller Sterne, Gitarren und Wein im Kolosseum, und er entfaltete aus dem Arnotal die selige Stadt, ausgespannt zwischen den ewigen Hängen wie ein Lustzelt der Götter. Sie fingen Ball, als die Rosenblüte da war, mit einer und mehreren Rosen, und die Gudel brachte ihre Gitarre, weil er ihre Lieder lernen wollte und sie die seinen, die ungarischen Wiegenlieder seiner Mutter. Und er nahm das Instrument wie ein Virtuos, rauschte hinein und stimmte mit schöner Stimme ein wildes Kuruzenlied an, dessen fremdsprachige Laute sie erschreckten:
Csinom Palkó, Csinom Jankó,
Csontos karabélyom …
und übersetzte es ihr dann: »Mein Palkó, mein Jankó, mein knöcherner Stutzen, meine schöne Kinnkette von Silber, meine schlanken Pistolen! Drauf, drauf, ihr Soldaten! Gesundheit getrunken, geschwungen im Tanze die Braut!«
Aber aus der Erklärung der Kuruzen als Krieger Rákóczys, der um die Freiheit kämpfte, entspann sich eine seltsame Rede.
Die Zeit sei am Reifen, hörte sie ihn sagen, ja am Reifen zu einer dreifachen Frucht; einer staatlichen, einer sittlichen und einer politischen. – Ein blaues Bandende kam zum Vorschein und wurde geheimnisvoll erläutert als Abzeichen des geheimen Tugendbundes, dessen Ziel die sittliche Erneuerung der deutschen Jugend war, aber auch die Befreiung der deutschen Lande aus der Knechtschaft. Ja, Freiheit war das neue, erhabene Wort, Freiheit der Völker, Freiheit der Staaten, aber auch Freiheit der Menschen im Staat. Zuerst freilich käme es darauf an, das große Untier zu vernichten, aber sein Schicksalstag stehe bevor; schon lasse es sich in die russischen Einöden hineinlocken, der Winter werde sein Winter des Unheils werden, leider auch für tausendfach edles deutsches Blut, das in den Adern der halben Grande armée floß. Aber es waren noch genug Kräfte im Land und Geister, alt aber feurig, zu führen: Stein, Yorck, Gneisenau, Arndt und der Turner Jahn, der freilich noch ganz zur Jugend gehörte. Längst richteten sich Aller Augen auf den preußischen König. Er hatte ihn gesehn, einen edlen, seelischen Mann. Der würde es sein, der dem großen Untier den Degen an die Kehle setzte und eine goldene Ära der Freiheit in Deutschland eröffnen werde. Denn die Zeit der Tyrannen sei lange vorbei …
Longinus brach ab, errötete, räusperte sich und fing ein anderes Lied an. Er hätte es nicht zu tun brauchen. Denn die Gudel kam, obgleich sie im Alleinsein nachher über die noch unverständliche Rede nachdachte, nicht darauf, von was für Tyrannen da die Rede gewesen; und ebensowenig wurde es ihr nachmals klar, daß die lange Reihe der Tyrannen, deren Bekanntschaft sie mit der Zeit machte, in das kleine Sommerschloß mündete, das sehr unsichtbar hinter ihr lag. Denn, da nicht immer gesungen und geschwätzt werden konnte – die Gudel war nun fast täglich zweimal im Mausoleum, frühmorgens und mittags und nicht selten auch nach Dunkelwerden –, verfielen sie aufs Vorlesen. Der ›Seraph mit den Hornsohlen‹ aber, wie Longinus ihn nannte, Jean Paul, mußte sich bald zurückziehn vor mehr irdischen und feuerfesteren Geistern, Namen, welche die Gudel nie gehört, Brentano und Hölderlin und Fichte, einem gewissen sehr gruseligen Hoffmann, dann Schiller und vor allem dem Riesen, der Fabelgärten voller Könige und Heroen, Geister und Hexen, Schufte und Liebender und Elfen aus der Hand rollen ließ, daß sie in alle Winde fuhren auf geflügelten Wagen: Shakespeare. Das mimische Talent des Longinus war nicht klein, und die Brutusse und Coriolans, die Karl Moors und Ferdinands und Fiescos, die Telle und Melchthals, Carlos' und Posas, die Heinriche und Hamlets erfüllten, herwimmelnd aus seiner Gestalt, die Sternenwände des Raums um die ruhenden Marmorblöcke mit strahlenden Gesten und düsteren Schatten. Dann vergoß die Gudel ihre heiligsten Tränen in die Herzen der Aufrührer und Mörder, und vergaß zu hundert Malen, den Tyrannen ihre schmachvollen Untergänge gönnend, daß sie selber aus diesem Blute war. Ihre Stunde war noch nicht da, und um so besser für sie; so hatte sie nachmals nicht mehr zu lernen, was sie lange auswendig wußte.
Worauf sie sich aus Taumel und Entrückung erholten am gemeinsamen Singen von Liedern und Duetten, denen, wie schon den Tragödien, der beständige Zwang, die Stimmen herabzudrücken, nur zu mehr Süße und Innigkeit verhelfen konnte. Deshalb hielt die Gudel auch sehr darauf – auf das Leisesein –, obgleich die Gefahr für sie sehr gering war, und zwar nicht einmal deshalb, weil sie überhaupt entdeckt werden konnte, sondern weil schon der Gedanke, daß sie etwas derartiges, wie sie tat, hätte tun können, undenkbar war für die Fürstin. Etwaige Schritte waren bereits hörbar unter den Säulen, und warum sollte sie nicht einmal das Mausoleum besucht haben, um die Arbeit an den Mälern zu betrachten? – Da dieser Teil des Gartens dem Verkehr noch nicht übergeben war, stand auch der Eintritt Fremder nicht zu befürchten. Und als die Gudel einmal bei einem falschen Alarm – Geschrei von Kindern, die bis unter die Säulen beim Spielen gedrungen waren – die Entdeckung machen mußte, daß Longinus für ein Versteck gesorgt hatte, erschrak sie –, mehr noch freilich über die Eigenart des Verstecks. Es war die Gruft unter dem Boden, in dem eine rechteckige Öffnung später ein Fenster aufnehmen sollte, durch das man die Särge würde erblicken können, – jetzt mit einigen zusammengenagelten Brettern bedeckt. Da fiel ihr zum ersten Mal ein, daß dies eine Gruft, und sie verblaßte im Gedanken an die Toten, die sie aufzunehmen bestimmt war. Allein die Not der Lage erwies sich zwingend wie immer, und auch die Gudel mußte vergessen, daß sie über der elterlichen Gruft tanzte und sang, – wie sie übrigens auch nicht vorausahnte, über welches Gräberfeld in Deutschland sie ihr Weg führen würde.
Denn noch zählte die Gudel erst siebenzehn Jahre, und wieder wars wie vor zwei Jahren mit den Mädchen, Spiel und Phantastik. Was aber Ahnungslosigkeit angeht, so pflegt sie um so tiefer zu werden, ganz wie der Schlummer am Morgen, je näher der Augenblick des Erwachens rückt, und also gewahrte die Gudel im Schattenwurf des Longinus noch nicht den Schatten des ›Untiers‹, hörte hinter dem Rauschen der tragischen Wasser nicht das ferne Brausen des riesigen Acherons, der sich bald herabstürzen würde mitten in die Zeit. Noch wußte sie nicht, daß der Eindringling die Welt jenseits der Gartenmauer auf den Schultern trug, zu der ihr das Mausoleum noch nicht zu gehören schien; und daß plötzlich ein Augenblick da sein würde, wo er sie sichtbar machte mit dem Wort: Hilf mir tragen!
Schöne Tage, schöne Tage! Schön selbst die lange Stille der Vormittage, der sonnenheißen oder der wolkigen, kühlen, wo die Stunden sich dehnten wie schläfrige Tiere, und schön das langsame, scheinbar planlose Umherschlendern im Garten, auskostend den Augenblick, wo die Hand sich auf die Klinke legte; denn dies naturgemäß war der Augenblick, der vorausgekostet wurde, nicht der, wo Longinus sich ehrerbietig verneigte.
Einmal, an einem sonnenlos kühlen Nachmittag, fand sie ihn nicht vor wie gewöhnlich. Sie setzte sich auf den, nach wie vor unberührten Block, fühlte sich eine Weile halb traurig, halb froh in der dämmrigen Leere, und dann kam es ihr, daß sie sich der Länge nach ausstreckte über den Block, die Kanten fassend mit den Händen. Da durchrann es sie aus der vielfachen Berührung an ihren Gliedern aus dem kalten Stein mit einer schläfernden Magie; sie fühlte sich unbegreiflich hineingezogen in das Innere von Stein, erschrak aber plötzlich so, daß sie auf und zu Boden sprang, vor der Erscheinung einer im Stein unter ihr liegenden Gestalt, ihrer Mutter. Und als sie jetzt, ratlos mit der Hand an den Block rührend, ihn ansah, glaubte sie, daß er sich im nächsten Augenblick bewegen und auseinanderweichen und ihr, wie damals die Hand im Stein, die Schläferin zeigen würde, leibhaft, einen stillen, schlummernden, schönen Leichnam. Sie schwankte noch, ob es die Erscheinung ihrer Mutter oder ihres eigenen Ich gewesen war, die sie zu sehen glaubte, als Longinus die Stufen heraufkam, und der Anblick seiner Augen und des lächelnden Mundes sie so verwirrte, daß sie auch die Bitte, endlich mit dem Bildwerk zu beginnen, aus den Gedanken verlor. Später, als sie ihr wieder einfiel, besann sie sich dann, daß mit der Vollendung der Bilder auch ihre Zeit in dem Raume eines Schlages vorbei sein würde.
Selber zu Stein zu erstarren aber glaubte sie wenige Tage nach diesem, als Longinus, nachdem der ›Egmont‹ aus seiner Hand plötzlich und weiten Bogens in eine Ecke geflogen war, vor sie hintrat glühenden Auges, ihre Schultern faßte und, sie leicht anschüttelnd, rief: »Ach, Schwester, Schwester, wenn ich Egmont wäre, würdest du Klärchen sein?« worauf er sie küßte.
Sekundenlang starr, wie gesagt, hielt die Gudel seine Lippen aus. Die Hand, die nach der seinen gegriffen hatte, fiel dann; sie nahm ihren Mund fort, drehte das Gesicht und erhob sich. Mit flirrenden Augen sah sie ihren Hut liegen, nahm ihn leise auf und ging hinaus.
Nun hatte es alles ein Ende. Und ein solches Ende! Daß es doch kommen mußte! So vertraut waren sie gewesen, – und niemals hatte er sich vertraulich gezeigt, – und nun doch! Er hatte sich vergessen, das ließ sich verzeihen; aber daß sich die Menschen doch immer vergessen mußten! – Ihr Herz zog sich zusammen, – nun war sie wieder allein. Nein, zornig war sie nicht, nur bloß traurig. Allein! hallte es trostlos nach; sie versuchte es noch einmal, und es klang diesmal so trostlos, daß sich alles verschleierte vor ihren Augen, die wehenden Blumenwiesen, die roten Farben der Rosen, die in Zuckungen auf und nieder fuhren, aber die Tränen schluckte sie hinunter, dieweil es noch härter schien, nicht zu weinen, und verblieb steif und frierend bis zum Abend, wo das befreundete Kopfkissen ihr unermeßliches Schluchzen aufnahm mit geübter Geduld.
Sie glaubte, die Gudula, das sei aus Zorn, daß sie weinte; oder aus Enttäuschtheit und Beschämung, aus fürchterlicher Bitterkeit; und wahrscheinlich begann sie auch aus diesen Ursachen. Aber das Weinen nahm überhand und schwoll wie die Nachtigallen und wie die Sintflut. Eine Weile gab es noch ein Letztes in ihr, das sich nicht hinreißen, nicht überfluten lassen wollte von diesem Ozean der Tränen; aber auf einmal war das, wenn es ein Gipfel war, zerschmolzen, wenn es ein Kahn war, umgeschlagen und verschwunden, und mit ihm zerschmolz und verschwand und löste sie sich auf in diesen uferlos brausenden Ozean, diese schrankenlose Schluchzwonne der Liebe.
Schlimme Tage. Am nächsten Morgen war ihr Gesicht so gedunsen, daß von den Augen zwischen geschwollenen Falten nur etwas Nasses sichtbar war, aus dem es beständig rieselte, und sie sagte sich krank im Hause, vergrub sich wieder, suchte eine stillere Bucht ihres Seufzermeers auf und legte sich dort zur Ruhe, von Zeit zu Zeit wellig überspült und trostlos ausblickend über die hohe See. Ja, wenn die Gudel auch nie sehr glücklich gewesen, auch häufig sich unselig gefühlt hatte: unbekannt war sie mit dem Schmerz, und unbekannt mit der Leidenschaft. Und als die nun beide, liebend verschmolzne Figuren, hervortraten aus ihr, sehr erstaunlich, selber durchaus der Meinung, daß sie immer vorhanden und nur nicht bemerkt gewesen, da stürzte sie sich nach Kräften in die neue Bekanntschaft und versuchte auf das gründlichste all die Geräte und Waffen, die sie trugen, von Dolch und Fackel, Geißel und Dornenkrone, Schrauben und Feuerpfeil bis zu den Spielzeugen hinunter, den leckeren Früchten etwa der süßen Erinnerung, gefüllt mit der Gallebitterkeit kommender Monde und Jahre, und auch diese schluckte die Gudel wie die weiland Reineclauden der unschuldigeren Mädchenzeit.
Schlimme Tage. Aber nicht ohne sanftmütige Minuten, wo der Gram, die umschnürende Viper, unter ihren seufzend haltenden Händen sich entwand und ausfaltete und erblühte in einer mondmilden Seligkeit; bis sie hingegeben die dürftigen Arme hob gegen den unendlichen Mondaufgang des Geliebtwerdens. Mond, ach keine Sonne, und ach, welche Sonne hätte er sein können! Denn wie, wenn dieses die Liebe war, zum Erschrecken ähnlich der lange bekannten, die in den Büchern beschrieben stand: welch übermenschliche Kraft, welche Beflügelung des Lebens, welch Durchlodern und Süßmachen aller Glieder war es doch! Und wenn sie dies fühlte, die Gudula, in solchen Augenblicken wurde es ernst. Dann brach ihr gehabtes Leben in heftigen, rohen Stücken aus ihr fort, eine tönerne Form ohne Ansehn und Wert, eine longinische Mißgeburt, und drinnen war gähnende Öde, und ach, die unsterbliche Mondscheinhyazinthe des Liebens und Geliebtwerdens durfte nicht darin gezogen werden. Waren die Jahre bisher wert gewesen, gelebt zu sein? Und die nun kommenden, würden sie werter sein? Nun würde sie wohl bald jemand heiraten …
Am dritten Morgen waren ihre Augen verklebt, sie glaubte, mit Knütteln geschlagen zu sein die ganze Nacht, und konnte nicht aufstehn. Diesen Tag verbrachte sie ganz im Bett, in halbstündigem Wechsel von Weinen und Waschen der Augen. Am Abend aber erschien sie plötzlich, blaß und noch geschwollen, im Salon der erstaunten Fürstin, die über ihrer abendlichen Zopfpatience saß, und begann unter barschem Verzicht jeder Überleitung von einem jener Höfe zu sprechen, deren sie sich vom Vorjahr erinnerte. Aber die Fürstin war mißgelaunt und verhielt sich abgeneigt, begann vielmehr von ihrem Ärgernis zu sprechen, nämlich daß man ihr aus der Stadt insinuiert hatte, auch den Winter auf dem Lande zu verbringen und ihr Stadthaus dem französischen Kommandanten als Privatwohnung zur Verfügung zu stellen, einem Plebejer aus Elsaß namens Schaffé.
Die Gudel durchflammte es glühend; auch den Winter über hier draußen! Und sie sank zusammen über der Erinnerung, was geschehn war. – Dann nicht! dachte sie dann in bezug auf den Eingang des Gesprächs und wäre ums Haar zu Longinus gelaufen. Aber sie schlief sich fürs erste aus in dieser Nacht, und die nächsten Tage dachte sie nach.
Schließlich bleibt es sich gleich, was sie gedacht hat in diesen Tagen, denn was zu guter Letzt herauskam, war die Einsicht und der Entschluß, eine reinliche Scheidung herbeizuführen, ihm die Hand zu einem Lebewohl zu bieten und vielleicht eine Rose zu geben, welcher Gedanke, sooft sie ihn dachte, ihr die Tränen in die Augen trieb.
Dann kam es so, daß die Gudel ihn mit »Longinus Drolshagen« anredete und fragte: was er sich nun eigentlich gedacht hätte.
(Sie hatte bislang fortgefahren, ihn Er zu titulieren, und ihm erlaubt, zu ihr mit ›die Prinzessin‹ und ›sie‹ zu sprechen, was sehr ehrerbietig klang, wenn er es sagte. Beide Anreden wurden dann bald von ihm wie von ihr, ohne daß sie es sich gestanden, als ein Mittel zur Vermeidung des steiferen Sie und ein Mittelding zwischen ihm und dem Du empfunden.)
Er stand vor ihr ergeben und traurig, ganz schwarz gekleidet, und sie zitterte schon, weil sie sah, daß er nur die Lippen bewegen konnte. Sie nestelte an der blaßroten Rose vor ihrer Brust und ließ den Kopf dabei sinken, und so hielt sie die Blume ihm dann hin, ohne ihn anzusehn.
Darauf fühlte sie die Blume genommen, aber auch ihre Hand, und daß seine Hände Griff um Griff ihre Arme heraufkamen, und dann, daß sie an seiner Brust lag. Nun sah sie sein verzerrtes Gesicht, fing an, es zu streicheln und sein Haar zu glätten und Worte zu stammeln, die sie nicht verstand. Endlich sah sie dann ihr eignes Verstehen des Vorgangs in seinen Zügen dämmern; sie schluchzten gemeinsam auf und rauschten zusammen in die Tiefe.
Eines Herzens und bereits fast eines Leibes saßen sie eine Viertelstunde später auf seinem Lotterbette, vertieft bereits – denn längst waren sie, obwohl jeder für sich, über die Sache selbst einig – in die Einzelheiten ihres Fluchtplans. Er war nicht schwierig. Der Hauswirt des Longinus war Fuhrherr und ein treuer Mann, ihm zugetan wie sein Weib und seine halbwüchsige Tochter. Mit Relaispferden konnten sie im Verlauf einer einzigen Nacht die Stadt Emden am Dollart erreichen, frühmorgens in See stechen und am Nachmittag schon im Gewirr der Kanäle Hollands verloren gehn. Am nächsten Tage, am übernächsten lag der Kanal hinter ihnen; sie waren in England, sie waren getraut.
Die Gudel, stundan in keiner Sekunde mehr rückwärts denkend, sondern nur mehr vorwärts, betete ihr Ja und Amen. Indem aber fiel ihr Blick auf den rohen Block; die Gestalt der Mutter erschien darin, beunruhigt, wie wenn sie die Geduld verloren hätte und fort wollte. Longinus mußte versprechen, sie erst zu vollenden. Das sagte er bereitwillig zu, erst, – dann begann er die alte Widerrede vom fehlenden Modell.
»Er kann ja mich nehmen,« sagte die Gudel unverhofft. Als er sie in die Arme schloß, schauderte sie freilich, und es war gefährlich, daß er sich demütigte und noch einmal fragte: »Soll das wahr sein?«
Sie sagte hingegeben: »Wenn wir schon nach England fahren …«
In derselben Nacht konnte die überraschend veränderte Gudel dem Longinus erzählen, wie, als sie ihn das erste Mal schlafend sah, das Wappen ihres Hauses auf seiner Brust geglüht habe, und konnte die Stelle küssen, wo sie es brennen sah.
Sehr viele Jahre nach diesen Begebnissen, als die Gudel wieder in dem Raume stand, wo sie sich zugetragen hatten, und der nun erfüllt war vom Weiherauch frommen Ernstes; als sie, zwischen den ruhenden, stillen, weißen Gestalten auf weißen Lagern stehend, durch das dicke geriffelte Glas zu ihren Büsten in einem Dämmerlicht wie in einer Flasche die Umrisse der mächtigen Särge erkannte, da mußte sie doch arg den Kopf schütteln und sich verwundern. Dieses Antlitz zu ihrer Rechten war das ihrer Mutter – Mutter genannt, weil ihr das einmal eingeprägt war –, und da man seinen eigenen Leib für gewöhnlich aus einer verundeutlichenden Perspektive wahrnimmt, und sie den ihren niemals im Spiegel zu betrachten gepflegt hatte, so war es schwer, den dort liegenden aus Marmor für den ihren zu halten und sich angesichts seiner der Augenblicke zu erinnern, wo sie, oftmals frierend, nichts als einen Schleier über den Gliedern, gelegen hatte, halbgeschlossener Augen lauschend auf das seltene Klingen des Stahls, das Springen der Splitter, ihren spitzen Aufschlag auf den Boden. Bis etwa ein kleines Stück sie traf und sie, aufblickend, das angestrengte und grüblerische Gesicht des Arbeitenden sah, seine Augen, deren Blicke, nicht ihr geltend, mit einer brennend verdichteten Achtsamkeit auf irgendeinen Punkt ihres Körpers geheftet waren.
Daß die Gruftkammer einmal eine Liebeskammer gewesen, begriff sich nachmals nicht leicht. Immerhin, dachte die Gudel alsdann, besser erst im Grabe und dann in Lüften, als umgekehrt. Not bricht Eisen.
Aber siehe da, sagte sie sich dann, seltsamer noch ist dies: Man wächst in einer Sicherheit auf, in einem gehegten, freundlichen Bereich, jahrelang, jugendlang, – und ohne sich daraus zu entfernen, durch nichts als eine hereintretende Erscheinung, wandelt sichs ganz und gar, und es zeigt sich, daß die umfriedete Lage eine fürchterliche Notlage ist, wie wenn eine Feuersbrunst wüte so ausdermaßen, daß die Lebenden die Gräber der Toten aufrissen, um drinnen Schutz und Kühlung zu suchen. In Hungersnöten sollen Eltern schon ihre Kinder gefressen haben; so arg war es nicht, denn eine Tür mit Latten ist keine Tür, und eine Gruft ohne Sarg ist keine Gruft, und so ist der Mensch geartet, daß, solange ein Ding ihm nicht unweigerlich sagt: Ich bin, was ich will! er noch zehnmal erst erwidert: Im gegen teil, sondern du bist, was ich will! Und: Not bricht Eisen! sagt auch der Hunger der Liebe.
Dies jedoch, wie gesagt, meinte sie später.