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Weimar

Goethe kam nicht, wie er in Aussicht gestellt hatte, weder am nächsten noch an einem der folgenden Abende heraus; es ward Juni, und die Gudel wartete vergeblich.

Eines Abends dann – es war der siebente des Monats – wurde sie von der festen Gewißheit, er komme, und zugleich von einer merkwürdigen Unruhe befallen, schon mit dem Heimkommen gegen sechs Uhr aus der Stadt, wo sie ihn eigentlich vorzufinden gemeint hatte, – einer Unruhe, die sie bis zum Abendbrot ohne Ziel in der Gegend des Hauses hin und her trieb, danach bewog, sich bedeutend mit ihrem Anzug zu beschäftigen. Nachdem sie viel Mühe darauf verwandt hatte, mit ihrem kurzen Haar und einem schmalen Samtband den eben Mode gewordenen Tituskopf herzustellen, zögerte sie lange in der Wahl ihrer Kleider, deren sie zwei gute besaß. Aber das weiße Linonkleid, ausgeschnitten – mit langen Ärmeln in vielen, von dünnen schwarzen Samtbändern eingeschnürten Puffen –, unter dessen, von der Brust abfallendem, kurzem Rock ein andrer in handbreiten rosa und weißen Streifen sich beutelförmig um die Füße bauschte, war mit seinen am Saum und an der Schulter angehefteten künstlichen Rosen eher ein Ballkleid; die Rosen ließen sich abtrennen, sie tat es sogar, aber dann fiel ihr ein, daß Longinus es das ›Fallenkleid‹ oder den ›Dohnenstrich‹ genannt hatte, weil es – übrigens ihm zu reiner Freude – den Busen so besonders ›anködernd‹ auslege. So nahm sie dann doch das schilfgrün und weiß gestreifte lange Barège mit zwei leichten Volants und langen, am Ellbogen bauschigen Ärmeln, das nur einen kleinen, runden Ausschnitt hatte, wenn es auch, unter den Brüsten mit einem fingerbreiten Samtband eingeschnürt, diese nicht weniger hervortreten ließ als das andre, was ihr peinlich war, seit sie durch die Mutterschaft sehr gelitten hatten.

Der Abend war sehr warm; während des Umziehens in ihrer kleinen Kammer auf dem Dach bewegte sich der, halb vor das offene Fenster gezogene Vorhang – nichts als ein Stuck Kattun – leise im Luftzug, als ob er hier und da zum Lächeln bewogen würde, und sie hörte aus großer Höhe das Schreien der kreisenden Schwalben. – Deshalb vermutlich, weil sie sich an ihren eigenen festlichen Anstalten nicht ärgern mochte, ließ sie sich von Verdrießlichkeit über die neue Mode der langen Ärmel befallen, und plötzlich lag der Sommergarten zuhaus, dessen immersüße Luft sie stets an beiden nackten Armen gespürt hatte, mit solcher Deutlichkeit vor ihren Augen, daß sie brannten. Ach, ihre weißen, leichten Mädchenkleider! Die zwei drei Haken im Rücken schloß sie mit einer Hand, der Zofe fort aus dem Zimmer laufend, und wie oft in der Sonnenfrühe ganz allein, schon fiebernd, ins Mausoleum zu kommen. Nachts, nicht nur einmal, in den wärmsten Nächten, waren sie und er unter die Säulen getreten, ganz nackt, und, angezogen vom Dunkel unter den Büschen, dort ins Gras geglitten, natürlich zu sein im dunklen Arm der Natur. Viel Ähnliches dachte sie noch, als sie merkte, daß sie noch immer mit beiden Händen im Rücken sich am Schließen des Kleides mühte, und nun fiel ihr ein, daß sie sich seit Altenrepen zum ersten Mal wieder für einen Mann schmückte, denn in Italien war sie schon formlos, und ihr lag nichts an ihrem Aussehn; die Kleider hatten sie für später gekauft, das Barège in England …

Weißseidene Strümpfe und die Stelzenschuh – ja, nun kam Goethe, ein Mann von – 49 war er geboren – also siebenundsechzig Jahren, aber desungeachtet … Die Gudel stieg, wie immer etwas ängstlich, die Leiter und durch das Dach hinunter.

Wenig besorgt, gesehen zu werden in ihrem Putz, da die Schmiede am Ausgang des Dorfes nach Osten lag, trat sie auf die Straße hinaus, als die Sonne über Weimar im Untergang war. Warm schwebte der Abend, linde bewegt in Lüften und gewürzig vom starken Duft naher Lupinenfelder, deren tiefes, mit dem Gelb der noch unerschlossenen Blüten gesprenkeltes Grün sich in die sinkende Dämmerung verlor. Der blaßblaue Himmel im Norden war bis zum Zenit empor mit einem dichten Gewimmel scharlachroter Wölkchen bedeckt, die ohne Bewegung schienen. Westwärts standen die Türme von Weimar tiefschwarz im brandigen Abendrot unter violettdüstern Wolkenbänken.

Die Gudel beschäftigte sich einige Minuten damit, von dem wilden Rosenstock, der an einer Stelle der rosafarbenen Hauswand seine Ranken mit den jetzt reich- und leichtblättrigen des Weins mischte, vorsichtig rosige Blüten und blutrote Knospen zu brechen, worauf sie, den kleinen Strauß in den Fingern ordnend, ab und an einen Blutstropfen vom Mittelfinger saugend, ein Stück ostwärts die Straße hinaufging, erregt, in der Hoffnung, Goethe vorzufinden beim Zurückkommen, denn sie scheute sich, ihm entgegenzugehn durch das Dorf. Und in der Tat, als sie dem Haus nach einer kleinen Viertelstunde wieder näher kam, sah sie eine Gestalt durch die Dämmerung kommen, in der sie ihn gleich erkannte, heftig erschreckten Herzens. Er ging, in einem langen und dunklen Rock, ein wenig gebeugt, barhaupt, die Hände, die wohl den Hut hielten, auf dem Rücken. Sie eilte schneller entgegen; sein zu Boden gerichteter Blick nahm sie nicht wahr, endlich, wenige Schritte vor ihr, blieb er stehen und sah sich um. Plötzlich erschrak die Gudel vor der, an Longinus erinnernden Starre seines Blicks, der sie traf ohne Erkennen. In seinen Zügen war etwas schrecklich Zerbrochenes, und mit der Hand über die Stirn streifend, schien er nun erst klar darüber zu werden, wo er war. Ihre Rechte mit den schon ausgestreckten Blumen sank zurück, als er sie erkannte, auch die Blumen sah. Er legte, da sie jetzt vor ihm stand, wortlos die Hand auf ihre Schulter und preßte sie, während sein Mund ungebärdig zuckte und sich zusammenkniff. Seine Augen flackerten in einem Gemisch von Qual, Zorn und Angst.

»Sie ist tot!« sagte er dann, »gestern ist sie gestorben.«

Die Gudel wußte im ersten Augenblick kaum, von wem er sprach. Plötzlich fiel ihr dann ein, daß sie in der vergangenen Nacht gegen Morgen die Glocken der Stadt hatte läuten hören.

»Frau Christiane …« sagte sie leise.

Er blieb ohne Bewegung. Nach einer Weile nahm er ihren Arm und führte sie die baumlose Straße hinunter, wohl fünf Minuten lang, während deren sie nur sein heftiges Atmen hörte, zwischen den unbeweglichen Kornfeldern, wo die Roggenblüte süßlich duftete und stäubte. Im Hingang vor ihren Augen entfaltete sich das Aufgehen des Mondes, der über den Rand der Erde die übergroße, kupfrige Scheibe in den rauchig blauen Himmel erhob, seltsam schnelle bewegt über das Dunkel und bald schon golden, kleiner zugleich und immer reinlicher werdend, bis er silbern blinkend und sehr strahlend in den ruhigen Höhen schwebte, die er erhellte.

Nun blieb Goethe stehen, ließ ihren Arm fahren und trat, sich aufrichtend, zu einem hüfthohen weißgetünchten Meilenstein an der Straße, auf den er seinen Hut legte.

»Sprechen Sie, Kind,« sagte er dann heftig, »um Himmels willen, ich bitte Sie, sprechen Sie doch, und glauben Sie nicht, daß ich Sie nicht höre!«

Und etwas verächtlich setzte er hinzu: »Man glaubt, in die Einsamkeit getrieben zu sein, und dann zogs einen doch nur zu Menschen.«

Nun war Stille. Da begann die Gudel, von alten Erinnerungen im Anschaun des Mondes wieder in das Vergangene verführt, aber mit wieviel mehr Schmerzlichkeit heut, dem schmerzlichen Menschen die alten Worte zu sagen; und während ihr schien, daß sie über den Erdboden erhoben war, sitzend in einem Gezweige, über einer geheimnisvoll nächtigen Landschaft, dem glänzenden Himmelslicht gegenüber, hörte sie auch in ihrer Stimme die alte Melodie:

»Willkommen, o silberner Mond,
Schöner, stiller Gefährt' der Nacht …«

Und wieder nach einer Weile der tiefen Schweigsamkeit über den Feldern, fing sie an, ihr Leben zu erzählen.

Es wurde dabei sehr wunderbar, wie all das noch einmal da war, sich entfaltend vor ihren Augen zu einer natürlichen Ordnung, ein jedes mit einer stillen Gebärde, mit der es ansagte, daß es abgeschieden war, in einem anderen Dasein nun, wo die Lust nun veredelt schmolz als Gnade der Luft über der Landschaft, Schmerz zarten Adels und beruhigt ein ernstes Auge erhob, und das viele mittlere Leid, all das Halbe und Nüchterne, das Ungesunde und Friedlose, eine liebliche und leise Heiternis zeigte, ein wenig greisenhaft oder auch kindisch. Und da es vergangen war, wie war alles nun süß gewesen: Schloß und der Park mit den Bäumen, der Saal im kleinen Georgspalais mit offenem Fenster im Sommer, dem runden Tisch voller Bücher und dem milden Greis, der belehrte und zerlegte; die Kleider der Mädchen und heißen Gesichter; das Stadthaus und der ewige Blick auf den Wall, die Leere überm Glacis, die Windmühle, niemals verschwunden, und fern annahende Janitscharenmusik; diese wie aus einer Wolke von Schmerz, die zerfloß und hinrollte über ein totes Jahr; und das Licht im Mausoleum, die schwarze Bergmannsgestalt, Regennacht und das unendliche Knarren der Wagen über die Landstraße. Dann mündete sanft der Bogenweg in diese beglänzte Straße unter dem reifen Mond und in den Sommerduft der Lupinen.

Das große Gestirn stand hoch in dem Weltraum, als die Gudel schwieg, und dort, wohin sein heller Glanz nicht mehr reichte, war das dunklere Blau weit und lose bestreut mit den silbernen Blumen der Sterne. Der alte, gerüstete Mann hatte wohl zugehört, war ruhig geworden und dankte ihr auf das zarteste, daß sie ihm ihr Leben gereicht hatte, zu einem Strauß geordnet und gebunden, dessen Tröstlichkeit ihm unverwelklich bleiben werde. Er nahm bei diesen Worten die Blumen aus ihrer Hand, mit einer bittenden Bewegung, die sehr rührend schien.

Im Zurückgehn dachte sie an die Tote, an ihr gewesenes Leben und das des neben ihr Gehenden. Und in der Erinnerung an die neuliche erste Begegnung mit ihm, das erschrockene Grauen vor seinen mehr als menschlichen Augen und vor der Unerschütterlichkeit dieser Züge: schauderte sie nun in der Einsicht, daß auch in diesem Dasein ein Teil war, der dem, was sie eben erzählte, dem ihren, gleich war in allem: gleich in der Ratlosigkeit vor dem Tod und dem Schmerz; in allen Prüfungen, allen Peinen; und gleich im Anschaun des Himmels bei Nacht, in den kindischen Spielen, in dem immer tieferen Gebeugtsein unter das ewige Gesetz, im Altwerden, in der Unendlichkeit des Herzens. – Als sie aber bei einer Wegbiegung ihrer Beider Schatten langhin vorauseilen sah ihren Weg, der ganz weiß und helle war in der Nachtdämmerung; und als da der seine den ihren um eine so erstaunliche Länge zu überragen schien, wie kaum sein Haupt das ihre, – erschrak sie, hastige Schritte vorauseilend, als sei der Schatten da nicht von einem Menschen, sondern von einem riesenhafteren Geschöpf.

 

Goethe kam wieder heraus schon nach wenigen Tagen. Die Gudel traf er dieses Mal nicht, lernte aber Longinus kennen und hinterließ ihr eine Rolle Geld mit einigen Zeilen, in denen er sie bat, die Summe als Darlehen des Großherzogs anzusehn und ihren Dienst in der Stadt aufzugeben. Er zweifle, nachdem er ihren Mann gesehn, nicht an seiner Heilbarkeit und – nach allem, was sie von ihm berichtet habe – seiner Willenskraft, sich einen Weg in das Leben zu öffnen. Ihr Besuch bei Hofe sei sehr willkommen und erwünscht. – Daraufhin löste die Gudel nach und nach ihre städtischen Verpflichtungen, fing aber deshalb nicht an, Hoffnung zu schöpfen.

 

Goethen schien die Beschäftigung mit dem Kranken wohlzutun in einer Zeit des unterbrochenen eigenen Lebens, denn er kam nun oft – wenn er auch von Reiseplänen und Wiesbaden sprach –, und stellte die mannigfachsten Versuche zur Aufrüttelung des Halbschlummernden an, die freilich alle, auch die Mesmerischen, auf die er bald verfiel, fehlschlugen. Zwar hatte Longinus ihn erkannt, auch Auskunft erteilt auf Fragen, aber später zeigte sich eine sonderbare Scheu – nur vor Goethe –, mit der er sich beiseite zu drücken gedachte, sobald er erschien; und er benahm sich ähnlich, wie ein Kind, das eine Aufgabe nicht gelernt hat, einen Grund dafür angeben möchte und nicht kann. Es war fast etwas von der kindischen Verschmitztheit daran, und in seinen Augen, die er zu verbergen suchte, eine Miene wie: du weißt ja recht gut, warum ich nicht kann. Die Mesmerischen Streichungen blieben zwar nicht ohne Einfluß, aber geschläfert versank er nur völlig in Gram, in dessen Abgeschlossenheit kein Eindringen war.

Goethe wurde endlich verdrießlich und ließ sich zu der Bemerkung hinreißen: aus einem Stein, wenn er ihn klopfe, ließe sich mehr Auskunft holen als aus diesem Verstockten. – Die tränenden Augen der Gudel verwirrten ihn etwas, er versprach, auf ein anderes Mittel zu sinnen, aber im Grund hatte er nicht unrecht und wußte es auch. Seine Besuche, die er fortsetzte, schienen jetzt mehr der Gudel zu gelten; wenigstens kam er nur an heiteren Tagen und zu Fuß und schlug bald einen Spaziergang vor, oder daß sie ihn ein Stück Weges zur Stadt begleite. Gesprächig war er eben nicht auf diesen Gängen, ermahnte aber sie, zu plaudern, auch zu fragen nach was ihr einfiel, und ließ sich dann wohl zu längeren Ausführungen verleiten, besonders bei Gegenständen naturwissenschaftlichen Charakters. Nach solchen lobte er dann beim Scheiden sehr ihren Verstand und ihr Herz. An manchen Tagen war er ganz stumm oder verfiel in Schweigen nach einer harten und vergrämten Bemerkung. Der Tod Schillers, von dem er häufiger sprach, als von seiner Frau, schien ihn in der neuen Wunde zu schmerzen. Einmal kam er dazu, die Linien in ihrer Hand zu prüfen, und sagte: »Ich sehe, daß Sie sehr alt werden. Wozu taugt das? Ich bin auch zu alt geworden. Es ist nur schrecklich, zu sehn, wie man der Letzte wird. Nun bin ich gebrochen, und da ist keiner mehr, der den Weg zeigt. – Übrigens,« setzte er hinzu, »da sind auch Kinder zu sehn in Ihrer Hand, mehr als Sie haben. Dann geben Sie acht, daß sie nicht vor Ihnen wieder ihrer Wege gehn.«

Goethe hatte aber damals noch sechzehn Jahre und vielen Ärger vor sich; die Marienbader Elegie lag noch in weiter Ferne, und was die Gudel angeht und seine sehr richtige Prophezeiung, so ahnte er ebensowenig, daß kein einziges ihrer Kinder sie überleben würde.

Anfang Juli sagte er verdrießlich: »Meyer quält mich tagaus tagein, daß ich mit ihm nach Wiesbaden gehe, aber ich will nicht. Da sind wieder lauter neue Menschen und wollen etwas. Ich habe mir auch in den Kopf gesetzt, Ihren Mann heilzumachen. Und Ihnen das Herz. Danach möchte ich wohl fahren und mich in gutem Gedenken wissen.«

Die Gudel hatte das leise Gefühl, daß ihr Herz ihm mehr an dem seinen lag als der Arm ihres Mannes; sie seufzte, und es schien ihr verständlich.

Mitte Juli aber kam von Goethe ein langes Paket mit einigen Zeilen, daß sie die Wirksamkeit dieses Gegenstandes versuchen möge, den er sich aus Königsberg verschrieben und endlich bekommen habe. – Beim Auswickeln kam ein künstlicher Arm zutage, ein erschreckendes braunes Ding wie ein Affenarm, hölzern, mit klappernd beweglichen Fingern, das sie Longinus kaum hinzuhalten wagte. Aber sein Blick blieb daran haften, und nach langer Zeit war sein erstes Wort dies, das er mit staunendem Ausdruck sagte: »Ein Arm!« Er verbrachte den Rest des Tages damit, das Gebilde auf seinen Knien hin und her zu drehen und mit den beweglichen Fingern zu spielen, und beim Schlafengehn nahm er es mit sich.

Am andern Morgen hörte die Gudel, daß er das Haus verließ, und eilte ihm nach, ohne sich zu zeigen. Er ging rasch und ohne anzuhalten und betrat in der Stadt die Werkstatt eines Mechanikers. Als die Gudel nach aufgeregtem Umherwandern im Park eine Stunde später dort eintraf, war er, wie sie gehofft hatte, fort. Ein lebhafter und freundlicher kleiner Greis gab ihr Auskunft. Danach hatte Longinus sich durchaus nicht anders benommen als irgendein andrer Mensch, war sogar eifrig mit Erklärungen gewesen, hatte den mitgebrachten Kunstarm einen albernen Affenprökel genannt und gesagt, ein künstlicher Arm sei Unsinn; ersetzen ließe sich kein Glied, und was man brauchte, wäre kein Arm, sondern ein Werkzeug. Der Alte wies eine Zeichnung vor, auf der in der Tat der Arm, dessen Bau versucht werden sollte, keinerlei Ähnlichkeit mit einem menschlichen zeigte, sondern nur ein dünnes Gestänge mit Scharnieren war, ohne Hand. An ihre Stelle sollte eine eiserne Platte treten, in die allerlei Instrumente, Haken, Klammern zum Halten der Werkzeuge, eingeschraubt werden sollten. Der kleine Alte schüttelte bedenklich den Kopf über das Ganze, dessen Befestigung an der Schulter ihm die tiefsten Zweifel erregte. Allerdings hatte er recht mit seinen Bedenken, insofern das damals zur Verfügung stehende Material, Blech, Holz oder Eisen, entweder zu schwer sein mußte oder zu schwach. Longinus ahnte zwar trefflich, woran viel spätere Zeiten noch viel Mühe setzen sollten, aber er ahnte doch zu frühe für sich.

Aber nicht darauf kam es an, sondern auf seine Heilung von der Schwermut. Und wenn auch die Hoffnung des Longinus sich nicht erfüllte, so tat das doch die Goethes, der, wie er nachmals der Gudel versicherte, den Arm nur deswegen geschickt hatte, weil es ihm die nächstliegende Möglichkeit schien, den Longinus wieder zum Denken zu bringen. Wenn nur der Genius erwachte, so sagte er, würde er alles andre schon mit sich reißen.

Und der Genius war erwacht und hatte sich nach Geniusart den Henker gekehrt an Materialien und Befestigung, sondern sich ans Planen und Wirken gemacht, Tätigkeit gesucht und gefunden. – Longinus setzte seine Besuche und Verhandlungen mit dem Mechaniker fort; auch daheim sah die Gudel ihn über Zeichnungen und angefertigten Bestandteilen brüten, oder wie er, ihr Bandmaß zwischen den Zähnen, das Kinn auf der linken Schulter, es mühsam mit der heilen Hand über Schulter und Ellbogen spannte. Im übrigen blieb er unzugänglich, und dieses erkennbar nicht mit Willen, so daß er in einem Traumzustand zu handeln schien.

Aber eines Morgens sah die Gudel erwachend ihn halben Leibes in ihre Kammertür ragen, auf der Leiter stehend, und da war er gesund. Er fragte, ob er hereinkommen dürfte, setzte sich auf den Bettrand zu ihr, lächelte erst traurig, dann heiterer und fragte, was mit ihm eigentlich sei und mit ihr. Nach tausend Fragen und Antworten, Erklärungen und Beschreibungen erwies es sich, daß seine Wiederherstellung in Wahrheit vollkommen war. Aber von dem Kunstarm, dem er sie zu verdanken hatte, wollte er nichts mehr wissen. Das sei nur das Mittel gewesen, sagte er, der Schlüssel zum Tor. Nein, was Henker er einen Arm brauche, da er einen habe! Habe er nicht immer zeichnen und malen so gut mit der Linken gekonnt wie mit der Rechten? Was an Geschicklichkeit eingebüßt sei, ließe sich rasch ersetzen; habe er doch auch mit der Linken den Meißel in den Stein eingefühlt und es nicht einmal versehn.

Er bezeigte in jener Zeit nicht einmal Betrübnis, daß, worüber er sich klar war, der Bildhauer in ihm begraben lag mit jenen zwei Stücken des Arms, – fürs erste geblendeten Auges von dem inneren Feuer des neuen Anfangs, des Lernens, der Tätigkeit. Erst später kehrte ihm das Empfinden für den Verlust zurück, und der Verzicht auf das innerste Eigentum seines Lebens, die Gestaltung im Stein, blieb ihm eine schwere und niemals vom Druck lassende Last. Und wieder doch ließ sich denken, daß sie, weil sie das Allgemeine seiner schwermütigen Natur ganz auf sich richtete, ihr Gegenstand und somit ihre Verdichtung wurde, daß sie auf diese Weise wieder das Gleichgewicht herstellte. – So sehr aber ist der Mensch des Lebens bedürftig und genügt es ihm doch, wenn es ihm nur als Aufgabe gezeigt wird, daß auch Longinus' Krankheit weit weniger, wie es die Gudel geglaubt hatte, daher rührte, daß der Meißel aus seiner Hand genommen war, als daß er nicht mehr greifen und heben konnte.

 

So endete dieses bittere Jahr 1816 doch mit einer großen Erleichterung und im Gefühl süßer Hoffnung auf Leben und Lebenskraft. Goethe, der einen Tag nach der Heilung des Longinus nach Wiesbaden aufgebrochen, zwei Stunden hinter Weimar jedoch durch ein brechendes Rad aus dem Wagen geworfen wurde – nebst Meyer, der den Arm dabei brach; Goethe blieb heil – und die Reise aufgab, Goethe lobte den Longinus sehr und versprach, ihm behülflich zu sein. Schon im August zog das Paar nach Weimar, und natürlich diente ihrer Beider Nimbus – die fürstliche Herkunft auf der einen Seite wie auf der andern der verlorene Arm nebst dem Hintergrunde von Leipzig und Ligny –, Longinus zu fördern und ihm zur Stellung eines beliebten Porträtmalers in Bälde zu verhelfen. Ein kleines Jahresgehalt vom Großherzog gewährte eine unveränderliche Grundlage, auch für die Zeit, wo die ganze Stadt etwa abkonterfeit sein würde und Aufträge von außerhalb noch auf sich warten ließen. Von Goethe ließ er sich gerne verwenden zur Aufnahme von Gebäudeprospekten und Perspektiven im Tiefurter Park und lernte auf diese Weise das landschaftliche Sehen, das ihn späterhin zur Komposition eigener Gemälde befähigte. –

Es giebt eine kleine, von Longinus linkshändig geknetete Wachsbüste von der Gudel – einziges Zeichen, daß er doch einmal nach der ursprünglich ihm eingeborenen Bildeform griff –, über und über und so zierlich, mit solcher Hingebung bemalt, daß die Tätigkeit des Pinsels an der fertigen bedeutender erscheint als die der Hand, und daß zu erkennen ist, wie sehr ihm an diesem Gebilde lag, indem er sich mit ihm abgab, solange es eben anging. In ihren starken und bunten Farben wirkt die Büste lebensvoller als die vielen Bildnisse in Gouache, Pastell und auf Elfenbein, die er von ihr anfertigte; auch die Ähnlichkeit soll unübertrefflich sein.

Die Gudel ist da zu sehn, hell beschienen von der glücklichen Mittagssonne ihres Lebens: unter dem gelben Schutenhut der Bürgerin mit violettblauem Band das kleine, weiße, zart rotwangige Gesicht der Prinzessin. Die Augen haben ein tieferes Blau und das klar Durchdringende des kindlichen Auges wieder angenommen. Die braunen und festen Brauen mit geschwungenen Winkeln scheinen nun zu schweben, halten aber alle Teile des Gesichts wie mit Zügeln in ihren ernsten Griff zusammen, während der lackrote Mund – der lebendige wird blässer gewesen sein –, die Brauenform wiederholend, doch die leise Freiheit seines Lächelns genießt. Die Schultern sind bloß, völlig und schön gerundet; darunter ist noch, bevor die Büste endet, ein zweifingerbreiter Streifen vom Kleide zu sehn, rundherum gelegt wie ein Kranz: violettblaue Veilchen auf weißem Grunde mit einer laubgrünen Schleife in der sanften Buchtung des Busens.

 

Dies war eine gute Zeit. Die Gudel gab im Laufe von vierzehn Jahren noch achtmal einem Kinde das Leben, lauter Söhnen, und da es nicht vorkommt, daß von mehr als drei Kindern in einem Hause alle zusammen gesund sind, so hat sie die Hände immer überfließend gehabt. Daß ihre Zunge nur in der Kirche zum Stillstand kam, wird die natürliche Folge gewesen sein. Alle Kinder brachte sie durch und lehrte sie guten Mutes sein und französisch sprechen. Was neun Knaben an Kleidern verbrauchen, davon ist kein Wort zu verlieren. Das Einkommen des Longinus ist niemals größer gewesen, als daß die Familie ihr Auskommen hatte, und dieses eher knapp als reichlich. So ist es zu verstehn, daß der Jüngste etwa, wenn er um eine Buttersemmel ankte, bloß eine trockne bekam; und der Älteste bloß zehn Heller, wenn er die Hand aus der Tasche zog um einen Silbergroschen.

Bei diesem Leben hörte die Gudel nicht auf, sich zu belehren und den neuesten Dichter zu lesen – wovon es dazumal noch selten mehr gab als einen zur Zeit –, und weil sie zeitlebens eine Frau war von der Art, die aus randvollen Tagen immer noch eine leere Stunde herauszupressen weiß, war ihr Haus selten von Gästen frei. Es war auch eine reichliche Zeit an herzlicher und geistiger Bewegung vieler Menschen, an gemeinsamen Wanderungen und Geselligkeit Winters und Sommers. Dabei erfreute Longinus sich großer Beliebtheit, dieweil er, zwar schweigsamer und abweisender geworden, aufhörte das zu sein, sobald er getrunken hatte – er trank jetzt reichlich und nahm erheblich zu davon –, wo er dann als Wortspieler, Sänger und Rezitator glänzte und als schöner und unglücklicher Mann sein Licht stets aus einer schönen Manschette von Weiblichkeit leuchten lassen konnte.

Diese Art von Leben dauerte vierzehn Jahre, bis zu ihrer Übersiedelung nach Berlin im Jahr 1830, von wo Longinus die Stellung eines Lehrers im bildhauerischen Zeichnen und Porträtieren an der Akademie angeboten war. Er wartete mit der Annahme der Stelle, welche, da Berlin ein teureres Pflaster hatte, trotz höheren Gehalts keinerlei Vermögungsvorteile brachte, bis zum Tode seiner Mutter, eben im Jahr 30. Die Gründe dafür aber lagen tiefer und waren nicht künstlerischer Art.

 

Das Wartburgfest war gewesen und Kotzebue seines irrtümlichen Todes schon gestorben, als Longinus sich völlig wieder einfand im wachen Leben, so daß er sich an nichts mehr beteiligen konnte. Um so mehr mußte er, die Augen erhebend, einsehn, daß es mit seiner ›Reife der Zeit‹ und jener dreifachen Erneuerung, die er im Jahre 12 schon so nahe glaubte, noch weit hin war. Das große Untier war tot, das Blut der Völker strömte nicht mehr unter seinen Pranken, sondern in den natürlichen Kreisen, aber – jener scharfe Atem der Freiheit, der über die Katzbach und die Ebenen von Leipzig gesaust war, wo war er verblieben? Es ließ sich nichts sagen gegen den Großherzog dahier; Goethe war ein ordentlicher Minister; auch der König von Preußen hatte sich bei Kulm und bei Bar-sur-Aube nicht nur als tapferer Mann, sondern auch als Taktiker bewährt. Aber er war kein Stratege, sonst mußte er die Zukunft sehn und eine Verfassung geben. Longinus sah die Zukunft und meinte, da sei keine Bürgschaft dafür, daß die Söhne der Könige mehr vom Volke verstünden als ihre Väter, und wo überhaupt gabs eine Bürgschaft, daß ein Mensch zu regieren verstand deshalb, weil sein Vater ein König war? So sei das überhaupt mit den Königen, und deshalb wäre fort damit! das beste. Longinus war Revolutionär geworden und blieb es bis an sein Ende. Er war auch ganz blutdürstig geworden und sagte, er hätte sich nicht den Arm ausgerissen, um Napoleon über den Rhein zu schlagen, aber er würde seinen zweiten Arm und noch mehr geben für die Krone der Freiheit auf Deutschlands Stirn.

Bald hatte er mit Gefährten von Leipzig und vom Vormarsch über Holland Verbindungen angeknüpft, und eine lebhafte politische Tätigkeit begann, die, weil sie geheim blieb, deshalb nicht weniger umfänglich war. Im Anfang blieb es bei gewechselten Briefen und kleinen Reisen ins Hessische und Sächsische, die bei einem geschätzten Porträtmaler nicht auffallen konnten. Mit zunehmender Bekanntheit seines Namens gewannen auch die Reisen an Dauer und Umfang, und jedesmal kam er erregter und geschäftiger und mit neuen Freundschaften zurück. Bald begann er zu schreiben, und er und die Gudel verwachten die Nächte über der Anfertigung von allerlei Aufsätzen, Traktaten und Werbeschriften.

Die Gudel, die in Erstauntheit zuerst sich schweigsam und, wo nicht feindselig, doch teilnahmslos verhielt, wurde auf eigentümliche Weise dahineingezogen. Die Unteilhaftigkeit an Dingen, die ihn auf das erregteste in Anspruch nahmen, konnte sie auf die Länge kaum ertragen, und sie mußte hinein. Den Eingang schaffte Kritik, ein Bohrer, den sie behutsam und zartfühlend, nur leise geölt mit Ironie, zu handhaben verstand. Einmal innerhalb und auf einem Platz, von dem aus das ganze Gebiet sich überschauen und sich auskundschaften ließ, was für eine Kraft hier erforderlich sein mochte, fand sie da bald eine sehr idealistische Landschaft. Kühne Wasserstürze – unter kühneren Brücken – die wenig trieben; Mühlen, die noch leer liefen; Flußläufe, die nicht aus Teichen und Sümpfen fanden, in die sie geraten; und zwischen einer Überzahl schöner Bildwerke, Tempel und Paläste waren die wenigen Wohnhäuser kaum zu entdecken. Viele Wege waren begonnen; sie endeten nirgend, oder sie liefen in sich selber zurück; und die Wildnisse waren mehr schön als ergiebig an irgend etwas.

Daraufhin verlegte sie sich ganz aufs Ordnen, auf das Klarheit und Richte Schaffen; ganz auf scharfsinniges Beobachten und Durchschauen; auf das Feststellen des Geringsten und ihm zu seiner Gülte verhelfen; auf die Nähe, auf das Haltbare, gezwungen auf diese Weise zur Einseitigkeit, verlor sie zwar nicht das ganze, nicht die Aufgabe, aber sich selbst aus den Augen, wie jedesmal, wer sich in Eile zu steigern und auszubauen hat, sich übersteigert, sich übertreibt, und der stete Zwang, nüchtern, praktisch, vor allem gründlich zu sein, machte sie radikaler als ihr Mann. Ihr Geist nährte sich glänzend bei diesem Spiel; das Herz blieb noch zurück, damals und freilich nur auf diesem Gebiet; es hatte sonst genug gangbare Wege in die Welt.

Aber so war es gekommen, daß, wie sie vor Jahren ihr Mädchenzimmer im kleinen Schloß verließ, um einen hergelaufenen Menschen die Lieder Rákóczys singen zu hören, und aus schöngehegtem Park in eine sehr ungewisse Augustnacht hinausfuhr, sie jetzt auch aus der letzten Kammer ihres Adeltumes hervortrat in die Windigkeit einer Leere über dem brachen Land, wo von allem Werdenden sichtbar noch nichts war als der Plan.

Im März des Jahres 1830 wurde die Übersiedelung vollzogen.

Unter den vielerlei Andenken an die Weimarer Zeit – Schleifen und Sträuße, Glückwünsch-, Einladungskarten und Stammbucheintragungen in Versen und Prosa – besaß das Ehepaar von Goethe bisher nur eine kleine Spielkarte, eine Karo-zwei, die er beim Spiel im Drolshagenschen Hause ergriffen und in seiner zierlichen Lateinschrift beschrieben hatte mit: ›Geheime Rath von Goethe empfiehlt sich zu geneigtem Andencken‹. – Da es zu einer Eintragung ins Stammbuch aus irgendeinem Grund nicht gekommen war, nahm die Gudel es bei ihrem gemeinsamen Abschiedsbesuch mit Longinus mit und überreichte es Goethe zugleich mit einem Strauß erster Primeln. Diese erfreuten ihn sehr; er roch lebhaft an ihnen und sagte mehrmals: »Wie schön! wie schön! da primelt es wieder!« über welches Wort er in einen scherzhaften kleinen Streit mit der Gudel geriet, da sie behauptete, das gäbe es nicht. Dann zog er sich mit dem Buch in sein Zimmer zurück, und als er nach kurzer Zeit wieder herauskam und es, aufgeschlagen, freundlich überreichte, lasen die Beiden:

Ohne Arm doch ganzer Mann,
Wirkung heilt den Schmerz.
Ohne Kopf geht auch noch an,
Sieht man's allerwärts.
Liebe Freunde, um und an
Lebt sich's durch das Herz!
Kopf und Arm, geb' alles dran,
Primelt mir's im März.


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