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Die Straße

Das Schicksal hatte aber etwas dagegen, daß die Vereinigung der Liebenden sich vollzog. Zuerst währte die Arbeit sehr lange. Longinus war echt genug, um sich nicht durch das Verlangen, davon zu kommen, zum Schludern bewegen zu lassen, – abgesehen davon, daß es der Körper der Gudel war, den er bildete. Er hatte sich aber entschlossen, ein Meisterstück zu schaffen und, erlauchtesten Vorbildern nacheifernd, den geliebten Leib geradeswegs mit Hammer und Meißel aus dem Marmor zu graben, der Vorschrift Buonarottis folgend, wie wenn Wasser abgelassen würde von einer darin liegenden Gestalt, und nur Hand und Auge vertrauend, welche die, mit Hand und Lippe freilich tausendfach abgenommenen Maße sonder Zwischenglied übertrugen. Hierdurch gedachte er gleichzeitig die Arbeit am Tonmodell zu ersparen. Aber, wie es im Sprüchwort heißt: Der Hunger ist größer als der Magen, so mußte er auch einsehn, daß seine Kühnheit größer gewesen als seine Kunst, als nun, nach dem Herausholen der groben Umrisse aus dem Stein, die Augenblicke kamen, wo das Schicksal des ganzen Blockes am kleinsten Meißelschnitt hing. Und je langwieriger die Mühe, je angespannter seine Geduld, um so schmelzender entwich die anfängliche Sicherheit, um so angstvoller zauderte er zehn und zwanzigmal vor dem nötigen Schlag, und Stunden gab es am Ende, wo er da hockte, den Kopf in den Händen, weinend vor Grimm und Erschöpfung, weil er den Wagemut für einen Hieb nicht aufbrachte. So gingen Juni, Juli und halber August, und in einer solchen Stunde ereignete es sich das erste Mal, daß sie überrascht wurden.

Longinus hatte, überreizt und schon aus den Fugen geraten, die Gudel gezwungen, die Morgenstunde zu verlängern, weil eine Falte im Batist, wo er sich unter der Achsel hervor zur Brust und darunter spannte, sich eben so gelegt hatte, wie kein Gott sie schöner hätte dahinlegen können. Dann aber brachte er doch wieder den Mut nicht auf, die allzuflüchtige Zartheit aus dem Stein zu schneiden, und auf eben diese Stunde eines schwerdurchregneten Augusttages natürlich mußten einige Ratsherren der Stadt verfallen, um einen Spaziergang vors Steintor zu unternehmen und den Fortgang des Drolshagenschen Bildwerks zu besichtigen. Plötzlich waren ihre Stimmen unter den Säulen, ihre Füße scharrten in der Vorhalle, Longinus, seitwärts auf dem Block sitzend, den Meißel ansetzend, den Schlegel eben zum siebenten Male erhebend, war daran, aus Wut über die Störung alles zu vergessen in der Wut, sich gerade nicht stören zu lassen, und die Gudel, vom Schrecken gelähmt, starrte nur auf den Teppichfetzen, der den Eingang zum Raume verhing. Im letzten Augenblick dann erraffte sie ihren türkischen Regenschal und warf ihn über sich hin, jedoch, erstlich bedacht, ihr Gesicht zu verbergen, so unglücklich, daß wirklich nicht mehr bedeckt wurde als dies, was sie freilich kaum merkte, froh wie der Strauß, nur die Augen versteckt zu haben.

Aber schließlich genügte es so. Longinus entschuldigte sich nach einigem wüsten Geschrei über die Zudringlichkeit, daß er sein Modell nicht vorzeigen könne, da eine sehr ehrsame Bürgerstochter der Stadt aus reiner Verehrung für die darzustellende hoch selige Tote sich bereitgefunden habe, ihr die Zartheit ihrer Glieder zu weihen, – und zog derweil in Ruhe den Türkenschal ganz über die Liegende. Die, in ihren kotigen Stulpstiefeln und braunen Regenmänteln mit vielen Kragen, ihre triefenden grauen Filzzylinder schwenkenden Bürger, innerlich angegriffen von der unverhofft fleischlichen Darbietung, verhielten sich dann sehr achtungsvoll, tauschten einige halblaute Bemerkungen, begutachteten die fertige Figur des Prinzen, lobten mit Zurückhaltung und sparten nicht leisen Tadel über die geringen Fortschritte der andern Figur. Longinus schwor hingegen, daß kein Marmor der Welt so hart sein könne wie der, den sie da angeschafft hätten; er käme nicht vorwärts, müsse immer zehnmal zuhauen statt einmal, und würde sich übrigens genötigt sehn, eine kleine Sonderforderung über Schleifen und Neuanschaffung abgewetzter Meißel aufzusetzen. – Worauf sie unter Widerstand schieden.

Leider blieb dieser Vorfall nicht ohne die ernstesten Folgen. Die Gudel nämlich tat, vor Schrecken halbtot und ohne Besinnung, kaum daß die Bürger verschwunden waren, nichts als ihren Schal um sich schlagen und davonrennen, mitten in das Unwetter hinein, ohne nur an ihre Wäsche zu denken, die sie unter dem Batistkleid fortgezogen hatte. Am nächsten Tage kam sie noch einmal auf eine Viertelstunde, schon zitternd im Fieber und ganz heiser; dann blieb Longinus einige verzweifelte Tage lang ohne Nachricht, bis er aus der Zeitung von der Lungenentzündung erfuhr, die aus der Verbindung von Nervenerschütterung mit dem Hagelschlag auf den halb entblößten Leib über die Gudel hereingebrochen war. Zwei Wochen lang lag sie schwer und mußte vier weitere das Bett hüten vor Geschwächtheit. Dann war es Ende September geworden, und die Übersiedelung in die Stadt ging sogleich vor sich.

Denn die Fürstin wurde in jedem Herbst von Todesängsten vor den, ihrem Alter gefährlichen Nebeln befallen und floh in die ›Franzosenstadt‹, wie sie seit der Belegung mit französischer Garnison dieselbe nannte. Sie war ihr auf das tiefste verhaßt, wie das ganze Volk, dessen Sprache sie zu der ihrigen gemacht hatte und noch immer, außer im Umgang mit Dienstleuten, ausschließlich gebrauchte, ihr verhaßt war schon seit den Tagen der Revolution und fast mehr seit jenem 18. Brumaire, wo sie den Sohn eines Anwalts als Kaiser verehrten. Obendrein mußte ihr Palais in eine Straße eingebaut sein, deren Form Ähnlichkeit mit der eines Boulevards hatte, wozu das fremde Volk sie sofort erhob, um von früh bis spät darauf herumzuliegen und zu flanieren und mittags die Wache mit klingendem Spiel darüber marschieren zu lassen. Aber die Fürstin bekam es fertig, den Winter lang nicht einen Blick durch die dichten Gardinen zu werfen.

 

Die Straße, neu und breit und gerade mit zwei flachen Knickungen, die sie in drei, ungefähr gleich große und gerade Stücke teilte, verband das Ägidientor mit dem Steintor, und das Palais lag fast aufs Haar in ihrer Mitte. Die gegenüberliegende Straßenseite war ohne Häuserzeile und mit einer kleinen Ulmenallee bepflanzt. Hinter ihr, etwas zurück, erhoben sich in breiter Front die grauen Terrassen, jonische Säulenreihe und das gewaltige Giebeldreieck des Neuen Theaters. Links an ihm vorüber zog die zum Ständehaus, derzeitiger Kommandantur führende, häuserlose Straße, an die sich weiter links der Röpkesche Kaffeegarten mit Grotten und Bäumen und seinem chinesischen Pavillon anschloß. Rechts vom Theater war über Gemüsefelder und Gärtnereien die Aussicht frei über den Wall und seine Ahornallee in die blaue Leere über dem Glacis, bis sie weiter zur Rechten von dem roten Backsteinbau des Lyzeums abgeschlossen wurde, an dessen Arkaden hinunter die Ulmenzeilen gegen die platzartige Erweiterung vor den Bogen und Betürmungen des Ägidientors verlief. Eine hübsche Aussicht, – aber die Fürstin machte sich nichts aus ihr –, und ein hübscher Teil der damals anmutigen Stadt, die mit allen Bedingnissen der Residenz ausgestattet war, ohne es mehr zu sein.

 

Der unruhige Winter des Jahres 1812 auf 13 hatte früh eingesetzt mit anderthalb Tagen wirbligen Schneefalls und während das Thermometer auf den Gefrierpunkt sank, in der letzten Woche des September. Und nun, übergangslos wie im Traum, noch immer matt von den Nachwirkungen der Krankheit, saß die Gudel in ihrem alten Lehnstuhl, Erbstück des Großonkels, aus dem heraus er sie unterrichtet hatte, am Fenster ihres kleinen Boudoirs im Oberstock – es reichte bis fast zum Boden hinunter, und sie hatte die Aussicht nach rechts die Straße hinunter frei bis auf das Ägidientor, so daß sie des Mittags vor dem Wachgebäude ganz klein die bunten Uniformen und das Blitzen der Bajonette bei den Manövern des Ablösens erkennen konnte –, saß sie, aufgehend in dem anschauenden Genuß einer langen Reihe von schönen Oktobertagen.

Kaum sichtbare Flöre von Silber, haardünne Gewebe von Schnee flossen über die erleichterte Bläue des offenen Himmels auf das Dach des Theaters, dessen neuer Kupferbelag, wie der des Mausoleums, frischrot und golden in der Sonne glänzte. Frühmorgens war die Aussicht daneben vom Brodeln der weißen Giebel verdeckt, darin aus den braun gewordenen Wipfeln der Ulmenzeilen Blatt um Blatt langsam sich löste. Dann klärte es sich; die nassen Gemüse auf den Beetreihen, in den Gärtnereien die starken blauen, orangegelben und violetten Farben des Rittersporns, der Sonnenblumen und Astern wurden leuchtend; aus dem weichenden, zerstiebenden Weiß erschienen die wie Gold glänzenden Kronen der Ahornallee auf dem grünen Wall, glitzernd vom abschmelzenden Rauhreif. Und überall brach die weichmütige Bläue durch, und als Letztes vor der Leere erschien die Windmühle über dem Glacis. Die Gudel konnte den Laufposten mit Bärenmütze und breitem weißem Bandelier unter den Alleebäumen über den Wall traben sehn und von zwei zu zwei Stunden das Erscheinen der Ablösung, drei Mann, Bärenmützen und Funkeln der Bajonette.

Unten die Straße erfüllte sich mittlerweil mit farbiger Bewegtheit. Die blau und roten Uniformen, grünen Fräcke und weiße, straff und wie Bretter grade gespannte Hosen der Offiziere, Bärenmützen, quer gesetzte Zweispitze, weiter in phantastischen, goldstrotzenden Uniformen und Federhüten auf glanzvollen Pferden erschienen von beiden Seiten zwischen den lichtfarbenen Kleidern der Bürgerstöchter, ihren strohgelben Schuten mit breiten Atlasbändern in kräftigen Farben – ponceaurot, violett und birnengrün – den türkischgemusterten Dreiecken der Umschlagetücher betagter Personen und den braunen und grauen, auch schon schwarzen Röcken und Filzzylindern der Männer. Ein weniger elegantes als buntkräftiges Bild; das Militär hatte das Wort darin, und den wenigen vorhandenen Elegants nützten kaum weder die enganliegenden, nach der Wade geformten Stiefel mit Troddeln zu ebenso anschließenden weißen Hosen, noch daß sie die schlanken schwarzen Beinröhren so straff spannten wie die Offiziere ihre weißen. – In der Zehnuhrpause strömten die älteren Schüler unter der roten Arkade hervor, standen in Gruppen oder gingen umher, soweit es erlaubt war. Auf den Bänken unter den Ulmen flegelten sich Napoleons Gardisten und Jäger mit offenen Monturen und hatten ab und an eine, vom Wochenmarkt kommende Magd, eine Wäscherin oder Zofe zwischen sich, mit denen sie sich friedfertig in die Seiten stießen. Und um die, vor der Terrasse des Theaters aufgefahrenen Kanonen spielten die Straßenjungen, von Weile zu Weile auseinanderstiebend vorm Dazwischentreten eines bärtigen Sergeanten, der so tat als ob.

Endlich, mittags um zwölf Uhr, wenn das Getümmel am dichtesten geworden war, ertönte das ferne zischende Bumpen der Janitscharen, erschien auf der Breite der Straße zum Ständehaus, von tanzenden Bengeln umringt, der galonierte Tambour, wirbelte blitzäugig den langen, kordelumwundenen Stab mit dem Goldknauf und ließ ihn haushoch fliegen; dahinter die Reihen der kleinen Tambourjungen mit ihren riesigen blauweißen Trommeln, die Musikkapelle mit blitzendem Messing, endlich, die zwei langen, links und rechts an den Gossenrändern marschierenden Reihen der Bärenmützen führend, funkelnd der fremde Adler, der für den Rest des Tages zur Hauptwache am Ägidientor geleitet wurde. Und damals schon, obgleich es hieß, Napoleon sei noch immer im Vormarsch durch Rußland, konnte die Gudel zu Seiten der marschierenden Kolonne Bürger bemerken, die beim Erscheinen des Adlers die absichtlich vorher abgenommenen Hüte finster in die Stirn drückten und sich umdrehten. Kehrten dann die Bärenmützen zurück und schwenkte die Kapelle ab, um, in weitem Kreise um die Geschütze aufgestellt, einige geschwinde und hellschmetternde Weisen hören zu lassen, kam es vor, daß ein grimmiges Frauenzimmer in den Kreis stürzte, einem von den, die Notenblätter haltenden Jungens dieselben aus der Hand riß und ihn ins Freie schlenkerte. Immerhin gab es noch genug deutsche Männer, die dem Zauber der Musik erlagen und erst während des letzten Stückes, der Marseillaise, wegbröckelten. Nur die, häufig mit schlanken Uniformen gepaarten farbigen Roben mit vielen Volants taten, als wäre auch die Marseillaise nur Musik, und plauderten weiter.

All dieses betrachtete die Gudel, vogelleicht schwebender Seele abwechselnd über diesem glorreichen Herbstgarten und dem leise sich bewegenden Tränensee ihres Innern, aus dem dann und wann mit dem Wellenschlage: Longinus! die Flut in die stillen Buchten der Augen trat, ihre gewelkten Ufer zu feuchten. Immerhin dauerte es nicht allzulange, bis die so unwahrscheinlich gewordene Gestalt des Menschen, dessen Geliebte sie gewesen war, wieder Kraft gewann über ihr Denken, sie ihn wieder sehnlich empfand und auf einmal leibhaft entdeckte im Gewimmel der Menschen, allwo er sich freilich schon des längeren umhergetrieben hatte, ohne ihre Augen auf sich ziehen zu können. Da stand er an einen Baum gelehnt, ganz schwarz gekleidet, und wie eine hingehaltene Kerze entzündete ihr Blick sich an dem seinen, und ihre innere Dämmrung ward hell.

Schwarze Trauer trug dieser Longinus um Deutschland, aber sie hielt ihn nicht ab, die Beinkleider so enge und straff sein zu lassen, daß die Schönheit der Waden nicht vergebens gezeugt war. Doch seine linke Hand war verbunden, was bedeutete das? Aus einer großspurigen Anzeige im Stadtkurier erfuhr die Gudel nicht mehr, als daß der Bildhauer Longinus Drolshagen die Verletzung seines Daumens als geheilt anzeigte und er sich dem p. t. Publikum wieder zum Erteilen von Unterrichtsstunden im Modellieren und zur Ausführung sehr ähnlicher Porträtbüsten zur Verfügung stellte. Die Verletzung bedeutete aber dies:

Longinus hatte, aus kalter Wut und Verzweiflung über der Nachricht von der Erkrankung der Gudel, seinen Schlegel genommen, den linken Daumen wie einen andern Napoleon auf den Block gelegt und mit Sachkunde zugeschlagen. Hiermit traf er das Rechte, denn alsbald begann das Fingerglied zu schwellen, zu gären und zu schwären, der Nagel fiel ab, es dauerte sieben Wochen bis zum Verheilen, eine sehr glückliche Verhinderung der Arbeit, die ohne die Gudel unmöglich fortzusetzen war. Freilich stand noch der Winter erst vor der Tür, aber Longinus fand neue Mittel, und war es zunächst ein Ofen, der fehlte und zu dessen Bewilligung nebst dem Kohlendeputat die Stadt etliche Wochen brauchte, so war es später das Fenster, durch welches das Ofenrohr geführt werden mußte, das die Gesundheit des Modells gefährdete, so daß es die Sitzungen verweigerte, und das überhaupt die Heizbarkeit des Raumes zur Illusion machte. Da schäumte der civis! wie nachmals Longinus zur Gudel sagte, dieweil er – civis – Logis und Beköstigung des Künstlers für die Dauer der Arbeit auf sich genommen hatte – und Longinus ließ sich nichts abgehn –, und wollte Abstreichungen vom Honorar vornehmen, – zu spät, denn Longinus hatte schon den letzten Rest in Gestalt von Vorschuß in Sicherheit gebracht.

Ein Winter zu jener Zeit dürfte für getrennte Liebende nicht eben länger gewesen sein als heute ein Jänner; die Gudel hoffte auf das Frühjahr und faßte sich in Geduld wie die Perle ins Gold. Sie nahm ihre früheren Studien wieder auf, verschaffte sich wiederum Bücher und Schriften durch ihren Lehrer, begann dann nach Tyrannen zu fahnden, bevorzugte überhaupt – vorahnend – Werke philosophischen, politischen und – soweit es das damals gab – sozialen Charakters. So versuchte sie, die des Longinus unverständliche Rede über die dreifache Erneuerung keineswegs vergessen hatte, dem leiblich Getrennten geistig nahe zu kommen.

Denn die leibliche Trennung schien, wenigstens im Anfang, unüberbrückbar, und nur der weiblich ergebungsvolleren Gudel konnte ein Blickewechsel und das Auftauchen und langsame Schwinden der magischen Gestalt zwischen den Säulen des Theaters genügen, magnetisch die Nahrung und Erfrischung ihrer Lebenskräfte aus ihr zu saugen. Die Fürstin verließ selten das Haus und nur im Wagen, an den auch die Gudula gebunden war, mit den seltenen Ausnahmen eines Besorgungsganges bei guter Witterung in die engen Straßen der Altstadt. Luft zu schöpfen genügte der, ganz in andere Gärten und Häuser gefügte, für Longinus daher unerreichbare Garten, und bestand die Gudel auf einem Spaziergang, so fuhr sie der Wagen vors Steintor, und sie konnte zwischen den spärlichen Häusern, Feldern und dem Friedhof die Langelaube hinunter bis zu den Lindenalleen gehn, auch noch zehn Minuten weit hinein und, bevor sie den Wagen wieder bestieg, einen Blick der Sehnsucht in jene Ferne werfen, in der, unerreichbar, das Mausoleum lag.

Doch eines Tages schlenderte ein unterwürfiger Mensch in abgerissener Kleidung an den haltenden Wagen heran, drängte den Jäger mit seinem Arm voller Pelze beiseite, um die Gudel in den Schlag zu heben, und zeigte dabei das braungefärbte und auch sonst kunstreich entstellte Gesicht des Longinus. Als sie dann im Fahren die schmerzhaft von ihm zusammengeballte Hand öffnete, fand sie einen Papierschnitz darin mit den bedeutungsvollen zwei Worten ›Im Mausoleum.‹

Alsbald gab es die Entdeckung, daß ein vermißtes Buch in der Bibliothek des Sommerschlosses verblieben sein mußte; die Gudel konnte hinfahren, im Park spazieren, ins Mausoleum fliegen und in die Arme des Longinus, der unter einem fünfminutenlangen Feuerwerk von Küssen nicht unterließ, ein Versteck für Briefe in der Polsterung des Lotterbettes mit ihr auszumachen und sie zu lehren, daß sie jedesmal, wie schon heute, beim Holen eines Gegenstandes einen andern von Wichtigkeit und nur ihr selber möglichen Auffindbarkeit hinzutragen habe, womit ein wöchentlicher Briefwechsel eingeleitet war.

Mittlerweil verbreiteten sich die ersten Gerüchte über den Rückzug Bonapartes; schon der zweite Brief des Longinus war eine einzige Fanfare über die endlich erfüllte Reife der Zeit und den schon eingetretenen Untergang der großen Bestie. Und die folgenden verzehrten sich bald vor Ungeduld über das Zaudern der Monarchen und füllten sich mit Vorbereitungen der Gudel auf eine fernere und ernstere Trennungszeit.

Und schon, trotz winterkalter Novembertage, konnte die Gudula die innere Erhitzung der Zeit vom Fenster aus spüren. Immer wieder, trotz strengen Verbots, bildeten sich Gruppen, schlossen die Gehenden sich unauffällig zusammen, hörte das bürgerliche Grüßen der Offiziere auf, eilten die Mägde an den Bänken der Gardisten vorüber, knöpften diese die Mäntel zu, strichen die Bärte und hielten sich grader. Eines Mittags zog die, vom Ägidientor zurückkehrende Musikkapelle, statt einzuschwenken, des Weges weiter. An diesem Abend in der Dämmerung drang, wie ein Schauer Schnee, das geflüsterte Wort ›Beresina‹ durch den Türspalt, wie in alle Häuser auch ins Palais, und rührte der Gudel ans Herz; und während ein einsamer Schlitten mit immer erneuten Relais über die weißen Flächen der Länder jagte, zog der düstre Schatten des flüchtenden Adlers wie über alle auch über diese Stadt. Im Palais mehrten sich die früher seltenen Besuche; der Lärm der Gespräche sank zum Flüstern; glühenden, frostigen Herzens horchte die Gudel, und das Wort ›der König‹ ging wie ein magischer Schlüssel um, abgelöst mitunter von ›seine Hoheit‹. Die Fürstin, die seit dem Tode ihres Bruders mit keiner haardünnen Beziehung mehr mit dem Beuglenburger Hofe zusammenhing, tat nun, als ob sie viel wüßte. Da es denn hieß, der junge und hochherzige Großherzog brenne darauf, an der Seite des preußischen Königs den Degen zu ziehn, falls der es tue, so fing die Gudel an zu beten, er täte es nicht! – arme Seele, die nicht ahnte, daß der weimarische Longinus zwar weder mit Beuglenburg noch mit Preußen etwas zu schaffen hatte, daß er sich aber genug zu schaffen machen konnte, wenn er wollte. Vorläufig saß der König noch still in Berlin, aber inzwischen verschwand überm Glacis die alte Windmühle. Eines Vormittages, als die Nebel sich teilten, war sie fort, und der herbeigerufene Lakai raunte der Gudel grausige Dinge zu: die Mühle war geschleift, der Müller standrechtlich erschossen, die Mühlflügel hatten geheime Zeichen gegeben, die vom Benterberg aufgefangen wurden. – Aber davon war kein Wort wahr als das vom Schleifen der Mühle; die Franzosen hatten vorgebeugt.

Jetzt aber ließ sich die Stadt überschütten von einem Brandpfeilhagel von Gerüchten. Überall schlugen sie ein. Man konnte sie im Pflaster stecken sehn und herausziehn, leise stinkend und qualmend an den Enden, und zu Hause herumzeigen und Licht damit machen. Manchmal war das Gerücht so groß, daß es war, wie wenn eine Branntweinflasche zerbrochen ist; alles läuft her und will lecken, die Lache breitet sich riesig, der Duft zieht straßenweit und haftet tagelang erfreulich am Pflaster.

Der Kaiser war bei Koblenz abgefangen und saß auf dem Ehrenbreitenstein. (Daselbst gehörte ihm alles Land und lag voll Franzosen wie voll Fliegen der Küchenherd.) Der Kaiser hatte einen Aufstand der Bürger von Paris mit Mühe gedämpft; Mütter und Töchter forderten ihre im Schnee begrabenen Söhne und Brüder; er hatte gesagt: Mit meinem Blute würde ich sie aus dem Schnee waschen, wenn ich es könnte, oder ähnlich, die französische Version der Worte wechselte. Der Kaiser war nach England geflohn. Der Kaiser hatte – weiß Gott wem – sein Ehrenwort gegeben, alle Garnisonen aus den besetzten Staaten zurückzuziehn und alle fremden Truppen zu entlassen. Auf der Reede von Falmouth lagen zweihundert Kähne von einer besondern flachen Art; eine englische Armee stand unter Waffen, um sich übersetzen zu lassen auf das gegebene Zeichen und dem Kaiser in den Rücken zu fallen. Der Zar wechselte unaufhörlich Briefe mit dem König von Preußen. Yorck stand mit 30 000 Mann bei Tilsit, vor Olmütz, vor Stargard, in Breslau, und verlegte der flüchtenden Armee den Weg. Hunderttausend Russen unter dem Fürsten Bagration … Alle reichsdeutschen Verbände der Grande armée strömten zu Yorck. Der König war in Breslau … Yorck hatte gesagt …

Dann freilich wurde es Ernst. Denn nun erschienen in der Stadt und auch vor den Augen der Gudel, die kaum mehr vom Fenster wich, die ersten Gestalten aus dem Legendenland, zwei Grenadiere und ein Dragoner, kenntlich an nichts als an ihrer Furchtbarkeit, mit verbundenen Gesichtern, in zerschlissenen Pelzen, an Stöcken humpelnd in klaffenden Stiefeln, aus denen Strohhalme starrten, vom Ägidientor her auf dem Wege zur Kommandantur. Es wurden mehr; Söhne der Stadt langten an, in ähnlichem Zustand, zu Tode erschöpft, tagelang nichts als schlafend und essend. Angstvoller immer, von Longinus' Briefen seherisch auch entbrannt, sah die Gudel alle Länder bedeckt mit diesen, von Osten herwimmelnden und versickernden Trümmern der Armee. Von allerwärts her kamen nun schon Nachrichten von Aufständen, Überrumpelungen der Garnisonen, aus der Mark, aus Schlesien, aus Pommern, an denen so viel wahr war immerhin, daß sie vorbereitet wurden, ohne doch zum Ausbruch zu kommen in diesem Jahr. Die Stadt war im Fieber. Ein Vieh von Kerl hatte ein Kind vergewaltigt; mit dem Täter kamen drei Jäger um, alle vier wurden gesäckt, und daß die Mörder entkommen konnten, welch triumphierendes Zeichen der Schwäche!

Nachmals hörte die Gudel, daß diese Zeit sehr groß gewesen sei. Davon merkte sie nichts. Sie hatte Angst. Und sie machte den kräftigsten Gebrauch von ihrem weiblichen Urrecht, auf der Welt nichts zu hassen, – aber den Tod und alles Tödliche. Das dulce mori schmeckte ihr gallebitter. Vaterland, Opfer und Heldentum –, schließlich war das Angelegenheit der Männer, aber sie ließ sich nicht einreden, daß ein Ding, weil es glänzte und viele Flecken hatte, die Sonne sei.

 

Eines Nachts im Dezember riesiger Aufruhr. Aus allen Stadtteilen dröhnte das Rasseln der Trommeln und aufgeregtes Blasen der Hörner. Dann durch Stunden das eilige Schleifen von Füßen über den Boulevard, das Geklapper der Pferde, und wieder das fenstererschütternde Gerassel und das Blasen. Gegen Morgen war alles still, aber die Franzosen waren nicht verschwunden, der Alarmbefehl war widerrufen oder falsch verstanden, die Garnison bezog nur Standquartiere und machte sich fertig. Aber auch die Standquartiere wurden wieder verlassen, alles ward fast wie vorher, die Gerüchte verstummten, die Nachricht von Yorcks Abkommen mit Diebitsch am 13. Dezember machte nach der Übertriebenheit früherer Meldungen wenig Eindruck.

Als aber eines Morgens in der Januarmitte die Gudel an ihr Fenster im Boudoir trat – das Schlafzimmer lag zum Garten hinaus –, erstaunte sie vor einer ganz weiß verschneiten, sonneglitzernden und völlig leeren Straße, auf der es noch kaum Fußstapfen gab. Ein paar Frauen aus dem Mittelstand hielten sich zusammen in wehenden Mänteln mit rotgefrorenen Gesichtern unter den Ulmen; die Rauchfahnen ihres Atems wölkten weiß bei ihrem heftigen Reden, und dann sah die Gudel, daß die Geschütze vor dem Theater verschwunden waren. Sie las unaufmerksam, immer wieder mit einem Blick durch das Fenster feststellend, daß keine Uniform sich zeigte, in Humboldts ästhetischen Versuchen und griff eben nach Fichtes, ihr von Longinus empfohlenen Reden, als die Zofe eintrat und meldete: Eine Empfehlung von der Frau Gräfin Schulenburg, und Frau Gräfin wollte nur sagen, daß die Franzosen fort wären.

Wie erschreckt von dem Unglaublichen schien sich die Bürgerschaft in den Häusern zu halten; erst um Mittag belebte sich die Straße, und gegen ein Uhr war sie auf einmal, besonders unter den Ulmenreihen, mit Stehenden und Gehenden gefüllt, fast nur Männern, die auf etwas zu warten schienen, und auf dem kleinen Platz der geschwundenen Geschütze staute sich die Menge vor der Freitreppe. Plötzlich erschien darüber zwischen den Mittelsäulen eine schwarze und schmale Gestalt, in der, als sie den breitkrempig niedrigen schwarzen Zylinder abnahm, die Arme über der Brust kreuzte und den Kopf zurückwarf, die Gudel mit freudigem Schrecken Longinus erkannte. Durch die Menge ging eine Bewegung zu ihm hin, er streckte den Arm hoch, er begann zu reden. Der Gudel flogen, als sie das Fenster öffnete, mit der Winterkälte die Worte »der König« und »nach langem Zaudern« entgegen, aber der Wind stand auf ihrer Seite, es blieb bei Bruchstücken wie »die qualvolle Zeit des Wartens«, »Stunde der Vergeltung«, »Flammenschrei ausbrechen«; einmal eine längere Periode: »... nur ein ärmlicher Bildhauer, aber morgen, morgen werden wir alle Bildhauer sein und den glorreichen Leib unsers teuren Vaterlandes aus dem Stein der Knechtschaft meißeln«. Dann die Namen von Generälen, Yorck, Gneisenau, Blücher, und brausende Hochrufe von unten, ein bewegtes Getümmel von Hüten und Händen, – »Rákóczy!« immer wieder »Rákóczy!« und »Hoch! Hoch!« und »sein Blut in meinen Adern!« und wieder »Hoch! Hoch!« und die Gudel wehte mit dem Taschentuch zum Fenster hinaus, und plötzlich hörte sie singen. Obgleich sie schon recht ergriffen war, jedoch von der Erscheinung des Longinus als Mittelpunkt einer Volksmenge mehr als von deren aufgeflammten Empfindungen, durchschauerte es sie nun wirklich; sie spürte die Gänsehaut ihren ganzen Rücken zusammenziehn, als sie zum ersten Mal eine solche Menge von Männern im Freien singen hörte, mit entblößten Häuptern in der Winterluft, mit überall sichtlich wehenden Atemrauchen, und sich allmählich aus dem erst undeutlichen Tongewirr das Lied löste, das sie von Longinus kannte: »Der Gott, der Eisen wachsen ließ, der wollte keine Knechte.« Ihre Augen brannten, in diesem Augenblicke spürte sie, wenn auch ohne sich dessen bewußt zu werden, das neue Gefühl des Jahres 13 aus der Gemeinsamkeit dieses Singens: die Einmütigkeit groß und ernst. Die schwarze Gestalt des Longinus zitterte vor ihren tränenden Augen über der Menge, sie verschwand darin hinunter, verschwommen sah sie überall Hände sich fassen und schütteln, Männer, die sich singend ansahen und lächelten, Männer, die sich einander an die Brust warfen; schwörende Hände stiegen empor und zum Himmel geworfene Blicke aus weinenden, trunkenen Augen.

Oh Himmel, dachte die Gudel, das ist das Ende! Oder der Anfang. Sie glaubte, als die Menge sich nun zerstreute, sie würde nach Minuten allesamt wieder zusammenströmen sehn, Gewehre und Säbel in den Händen; sie sah im Geist plötzlich eine riesige marschierende Kolonne, von einem nicht irdischen Schimmer beglänzt, und riesenhafte Rosse gebäumt, auf die sich Gestalten schwangen, licht und gewaltig, fabelhafte Dioskuren. – Es kam aber nichts als nach einer angstvoll verwarteten Viertelstunde zwischen den Säulen hervor ein gravitätischer Junge mit einem Papierhelm und einem ungeheuren Holzschwert, und hinter sich hörte die Gudel die Stimme des Majordomus: La princesse est servis.


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