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Nun wochenlange Stille. In der Bürgerschaft schien niemand zu wissen, was geschehen, ob überhaupt etwas geschehen würde. Kundige deuteten den Abzug der französischen Garnison als Bürgschaft für die allgemeine Vermutung, daß ›unser fremder Herr‹, wie der Beuglenburger damals noch genannt wurde, entschlossen sei, es mit Preußen zu halten. Longinus war außer sich über die Unentschlossenheit des Berliners. Auch als es Februar wurde, der König in Breslau, die Bereitschaft Preußens offenbar war, blieb es im Trassenbergischen still, und nur für die Gudel gab es die erste Nacht der Tränen über des Longinus Entschlossenheit, ins Preußische zu gehn, wo die Freiwilligen schon zu den Fahnen strömten. Er ließ sich aber bewegen, noch zu warten, sogar über den 10. März hinaus, wo das schon gegossene Eisen in ihm mächtig angerissen wurde vom großen Magneten des gestifteten Eisenkreuzes.
Und mit entsetzensvoller Plötzlichkeit dann – für die Gudel – war der Märztag da, wo sie vom Fenster aus große Menschenmassen über die Stufen der Freitreppe gegen zwei Säulen quellen sah, an denen weiße Zettel klebten, und wo dann sie selber, da der Majordomus mit einer unverständlichen Meldung zurückkam, auf die Straße lief ohne Hut und Handschuh. Die Menschen erkannten sie, machten Platz, einige schrieen: »Hoch!« und sie las die zwei Aufrufe: den einen vom König von Preußen an sein Volk, von dem sie kein einziges Wort verstand, es sei denn den Schluß: ›... einen sicheren glorreichen Frieden und die Wiederkehr einer glücklichen Zeit‹; den andern vom Beuglenburger Herzog, in dem er seinen Entschluß, zu Preußen zu stehen, bekanntgab und die gleichen Forderungen des Opferns an seine Länder richtete.
So wars entschieden, und die Gudel kehrte mit flirrenden Augen durch die seltsam verhaltene Menge ins Haus zurück. Die große Flamme brach in dem schwerblütigen Volk des Nordens nur allmählich durch, indem sie sich erst zusammenzog um den Stoff, ihn rundum umfaßte und nun erst kräftig emporloderte. Dann überboten sich Stunden und Tage an Erhitzung; es gab Fackelzüge; auf der Freitreppe des Theaters wechselten die Redner unablässig; Züge der Freiwilligen marschierten durch die Straßen; preußische Offiziere erschienen, wurden brausend begrüßt und gar auf den Schultern getragen; Abend für Abend schollen aus dem Röpkeschen Kaffeegarten die gemeinsamen Lieder, Lützows wilde verwegene Jagd, Der Gott, der Eisen wachsen ließ, Du Schwert an meiner Linken, und die preußische Königshymne; Büsten und Bilder der verbündeten Fürsten, des Kaisers von Rußland, Yorcks, Gneisenaus, erschienen in allen Auslagen; die Händlerfrauen bildeten mit Fächern und Bündeln von Fahnen in den Landesfarben und den preußischen bunte Inseln im ununterbrochen flutenden Strom der Massen; Fahnentücher hingen aus allen Fenstern; die ganze Stadt brannte in Jubel und Trunkenheit lichterloh. Die Gudel stemmte sich täglich erschöpfter gegen das große Unverständliche: Diese da wollen sterben, und sie singen? sie singen, daß sie sterben wollen? – indem sie sich einzureden versuchte, daß all das nur von den Nichtsterbenden, den Daheimbleibenden ausginge, und daß es, wenn diese nicht so lärmten, ganz still sein würde. Nein, keineswegs, denn auch die Briefe des Longinus waren lauter Gesänge, soweit sie nicht sanfte Tadel enthielten über ihr Starrbleiben in der allgemeinen Glut. Vaterland … ja, wie sollte eine siebenzehnzährige Prinzessin dies plötzlich sehn können, von dessen Dasein sie nie eine Ahnung gehabt hatte? Früher schlug man sich für König und Kaiser, das ließ sich begreifen; aber daß man sich für den Beuglenburger schlug, war schon nicht mehr zu verstehn, und Longinus sagte auch, daß er sich durchaus nicht für ihn schlagen würde. Schließlich war sie verständig genug, um, auch aus dem, was sie gelesen hatte, die Gestalt dieses unbekannten Gottes Vaterland zu erkennen; aber ihn fühlen, gar zu ihm beten konnte sie doch nicht.
Nun hieß es aber, daß geopfert werden sollte. Opfern war begreiflich. Die alte Fürstin hatte sofort begriffen, und da sie, wo sie sich hinstellte, voranstehn mußte, so gab sie ihren Schmuck her bis auf die letzte Nadel. Die Gudel stand noch einmal, wie am Tage der Proklamation, unter dem Volke als wie seinesgleichen, in der Halle des Ständehauses, wo große Tresen aufgeschlagen waren. Ruhige Beamte hantierten da mit Wagen, alles stand und lag voller Leuchter und Stoffe, Uhren, Schmuck und dergleichen, ein flinker junger Mann hinter dem Tresen war sehr witzig und rief: Nur hereinspaziert, hier wird alles genommen! – Die in Reihen Wartenden – die Gudel bestand darauf, in der Reihe zu warten – verhielten sich, wie sie das Volk kannte; joviale alte Herren schlugen sich scherzhaft mit den abschätzenden Beamten; ganz arme Frauen, deren Gegenwart die Gudel nicht begriff, standen in ihrer gewohnten Schwangerschaftshaltung, das Handgelenk einer Hand mit der andern fassend über dem Magen, zogen zuweilen ihre Umschlagetücher zusammen, und eine sagte wissend: »Jo, jo, nu bruket se allet, nu bruket se allet.« Die Gudel, hinter sich den Majordomus mit dem Opferturme der Fürstin, hielt ihre kleinen bunten Juwelenschachteln, über die sie als wertlosestes zwar, aber für sie bedeutungsvollstes Opfer, nur um der Opferung willen dargebracht, ihr Haar gelegt hatte – in ein Tüchlein geschlagen –, das freilich nie von besonderem Reichtum gewesen war. Aber in sehr viel späterer Zeit wußte sie sich noch des Kältegefühls im Nacken zu erinnern, wo der griechische Modeknoten verschwunden war, wenn ein Lufthauch die Stelle berührte, den sie damals den ›Geist des Longinus‹ nannte.
Von diesem war ein entflammter Brief in zwei Teilen gekommen, deren Bedeutung für die Gudula jeweils die umgekehrte war wie für ihn. Im ersten nämlich hieß es, daß die Stadt nicht nur sein Gesuch um einen Zuschuß zu seiner Equipierung ausgeschlagen, sondern auch in der Angst um die Vollendung des Bildwerks, falls er im Kriege verloren gehn sollte, ihm den Eintritt in ein Freikorps strenge untersagt hatte, gleichviel ob hiesiges oder preußisches. Aber auf dem Wege zum Mausoleum mit diesem Brief, auf einer Bank im Berggarten, hatte er die Bekanntschaft eines preußischen Artillerie-Offiziers von Adel und eines Bruders in Apolline et musis – nämlich er malte – gemacht, der den Longinus als geborenen Reiter, der er zu sein behauptete, bei seiner Haubitzbatterie als Stangenreiter unterzubringen versprach, was er nun in den Brief noch hineinschreiben konnte.
Denn die Sache war so, daß die waffenfähige Mannschaft des Landes, soweit sie sich nicht hatte loskaufen können, seit langem ihr kleines, nun in Rußland zusammengeschmolzenes Kontingent der napoleonischen Armee bildete; der heimkehrende, schwer zu Schaden gekommene Rest genügte eben, um die Ausbildung der Freiwilligenkompagnien fördern zu helfen. Aber der Großherzog gestattete Preußen, einige Formationen seines Heeres über das Land zu verteilen, um ihm auf diese Weise die eilfertige Zusammenziehung seiner gesamten Heeresmacht zu erleichtern, von der im Laufe der Jahre bisher stets nur die 43 000 Mann, die Napoleon erlaubte, zu den Bahnen berufen und nach drei Monaten kaum genügender Ausbildung wieder entlassen waren. Die Stadt Altenrepen übernahm außer zwei schweren und zwei Feldbatterien ein Füsilierbataillon, zu dem später ein zweites kam, sowie die Stellung eines gewaltigen Fuhrparks, und die Landschaft umher wurde mit mehreren Schwadronen belegt, deren Pferde größtenteils in der Bauernschaft ausgehoben wurden. Auch die Belegschaften wurden vor dem Aufbruch in der Stadt zusammengestellt. – Daß ihr Longinus zur Artillerie kam, war die letzte Erleichterung der Gudel, die von nun an die, bisher unsichtbare Fläche jenseits des Glacis alltäglich bedeckt sah mit einem schwärzliches Gewimmel. An warmen Tagen bei offenem Fenster hörte sie ganz schwach die Kommandos; einzelne schwarze Figuren bewegten sich sehr langsam, Reihen stellten sich schnurgerade auf und bröckelten, kaum daß sie standen, wieder auseinander, und manchmal kroch ein stürmisches Gewimmel plötzlich von jenseits den Wall empor, ihre erhitzten Gesichter glühten in der Sonne, sie schrieen Hurra, schwenkten die Czakos und hielten dicke Prügel in den Händen, denn die Gewehre waren noch nicht gekommen.
Im übrigen war sie längst überzeugt, daß das Schicksal ›es‹ nicht wollte; daß ihr nicht das Leben mit Longinus, sondern das bestimmt war, in dem sie aufwuchs; daß, mit einem Wort, er nicht wiederkäme; und in den wenigen Wochen bis zum Aufbruch, Anfang des Mai, verdichteten ihre Ängste und Zweifel sich so, daß sie in fassungsloser Hülflosigkeit zerfloß.
Noch traf es sich gut, daß es auch in preußischen Armeen poetische Leutnants giebt, die Ausnahmen machen, und daß es Prinzessinnen giebt, um deretwillen Ausnahmen um so lieber gemacht werden; daß also Longinus für die Nacht vor dem Ausrücken Urlaub erhielt und seinen Platz im Sattel sogar erst auf der Landstraße einnehmen durfte, die zum guten Glück eben jene war, die unterhalb des Berggartens, des Mausoleums vorüberführte.
Gute Götter, welch aufgeregte und schaurige Nacht! Bis nach Mitternacht mußte die Gudel auf Longinus warten, hin und her gehend, rastlos hungrig und gequält wie eine Wölfin im Käfig, in dem nachtkalten Raum, wo die gemalten Goldsterne glitzerten auf dem gemalten Nachtblau der Wand, im Lichtschein der einsamen Kerze, die sie auf den halbfertigen Block geklebt hatte, in unheimlicher Gesellschaft mit dem weißen Marmorleichnam ihres Vaters, den großen Schatten, denen der Blöcke und dem der eigenen Gestalt, der immer wieder riesenhaft vor ihr an den Wänden hochging, der Stille und in Pausen des tröpfelnden Regengeräusches auf dem Dach. Und vor der grausamen halben Figur in dem Block, die mit den Gesichtszügen der Mutter ihre eigene Brust verband und wenig unterhalb ihrer im Formlosen erstarrt war, blieb sie aber und abermal stehn, schüttelte den Kopf, weinte vor Angst und Verzweiflung über das Ausbleiben des Longinus und murmelte sinnlos: Halb im Stein … halb im Stein. – So, ja ganz so würde sie zurückbleiben dahier, halb im Stein. – Die Angst übermannte sie in der letzten Stunde des Wartens, sie lief hin und wider die Pappelalleen zwischen dem Gittertor und dem Haus, hier sich vorspiegelnd, nun stehe er am Gitter, dort sich einredend, er sei auf einem andern Wege ins Haus gelangt. Und dann endlich, kurz vor eins, kam ihr im leichten Regenfall unter den traurig knisternden Bäumen eine schwarze, befremdend dünne Gestalt aus dem Dunkel entgegen; sie roch, an seine Brust geworfen, das harte Zeug, und dann hatte sie ihn vor sich im Schein der Kerze, entfremdet, verkleinerten Gesichts unter dem übergroßen, mit schwarzem Zeug faltig bespannten Czako mit der mächtigen schwarzweißen Kokarde, in eng, wie die Hose, den Beinen anliegenden Stiefeln, in dem schwarzen Rock mit schmaler Doppelreihe von kleinen Knöpfen, in dessen sehr hohem, vorn auseinandergespaltenem Kragen das Kinn eingefügt saß in der hohen Halsbinde, mit dem brettdicken weißen Lederbandelier quer über die Brust, in dem ein ganz plumper Säbel hing und eine Geißel. Er schien sehr erschöpft, nahm den Czako ab mit beiden Händen wie eine Krone, über seine bleiche Stirn lief ein blutiger Streif, und sein Gesicht hatte fremde Form und fremden Ausdruck, doch sah sie nur flüchtig und kaum bewußt, was, außer der hagermachenden Abgespannthelt, es so viel ernster machte und älter: der Armeebart oder die schwarzen Bartstreifen, von den Schläfen vor den Ohren herunter bis zum Kinnbacken. Und über dieser, durch ein Unbekanntes noch vertiefter Fremdheit löste die Gudel sich mit rettungslosem: »Du kommst nicht wieder!« in Tränen auf, bis zum Ohnmächtigwerden. Sie stieß, da er saß, vor ihm kniend, den Kopf in seinen Schoß, schüttelte sich, schrie und biß in seine Hände, und gebärdete sich fürs erste mit einer unsinnigen Raserei gegen jenes Unbekannte in seinen Augen, das sie den verruchten Krieg nannte, und den Leichtsinn des Königs und des Herzogs, denen sie heillosen Untergang prophezeite, weil sie es wagten, ganze Völker ihrer gewissenlosen Gier zu opfern, das gekrönte Tier zu vernichten, das dagegen sie verschlingen würde, und sie lachte über das ganze verrückte Unternehmen und verherrlichte Napoleon, unter dem die ganze Welt in Ordnung gewesen wäre, – nur um ein Recht zu haben für ihren Schmerz und ihren Gram über die Entfremdung des Longinus. Sie wäre in Stücke gebrochen, wenn sie es nur fertiggebracht hätte.
Er mußte sie ganz sich austoben lassen und versuchte dann, als sie mit ausgebrannter Brust und tödlich ermattet auf dem Bett lag, ihr die Dinge von einer andern Seite zu zeigen. Aber das hätte nur ums Haar zur Verfeindung geführt, und er schwieg, und so hielten sie sich denn umschlungen, die innere Fremdheit krampfhaft zerdrückend, kaum ihre Namen flüsternd, in dumpfer Trunkenheit endlose Küsse tauschend, und versinkend mit der Zeit wie das Haus in das leise umhüllende Rauschen des nächtlichen Regens.
Die Gudel glaubte, eine Weile geschlafen zu haben, als sie ihn am Fußende des Bettes sitzen sah in einer seltsamen Haltung, die Ellbogen auf den Knien, die Hände gefaltet, den Kopf emporgedreht, als ob er lausche. Dann kamen seine Augen zu ihr, und mit tiefer Klarheit sah sie jetzt in ihnen jenen heiligen Glanz, das unbekannte Leuchten des inneren Heiligtums. Sie schauderte. Sie glaubte, wenn sie tiefer hineinsähe, alles darin erkennen zu können, jene ganze glücklich arkadische Landschaft, Wipfel und Säulen und Giebel. Endlich verstand sie nun und begriff im Nu, daß eben dieses nichts als das Männliche war, das sich heute in dieser Weise darstellte; das fremd, aber doch immer vorhanden gewesen, eben weil er ein Mann war. Sehr verwundert über die plötzliche Einfachheit dieser Lösung, fühlte sie sich nun auch erleichtert, eingeschmolzen nun wieder in den warmen Golfstrom der Liebe, und konnte, die Augen schließend, zu fühlen glauben, wie über ihr ewiges Fluten ein Schatten glitt, der Schatten einer Brücke, seiner Stirn, unter der sie hinwegströmte durch seine Augen, schwindelnd vor dem Absturz ihres Stroms in den Nachtraum seiner Seele.
»Zwei Uhr,« hörte sie ihn sagen, und gleich darauf setzte ein vielstimmiger Gesang plötzlich auf der Landstraße ein mit den Worten: »Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir –« Damit war es weg, abgeschnitten, nur kam nach einer Weile, entfernter, die Melodie der Stimmen, ohne verständliche Worte; dann nur das Geräusch stampfenden Marschtrittes, der schwächer und schwächer wurde und endlich erstarb.
Das Ausrücken der Garnison hatte begonnen, und nun wurde es ganz traurig. [Ununterbrochen] durch Stunden knarrte das Gepolter schwerer Fuhrwerke, scholl Hufschlag, Schnauben von Pferden und Gewieher; dann lange Stille nach dem Verhallen, und wieder, endlos, das Gepolter. Stille wieder, dann das Getrappel vieler Hufe; Reiterei, eine Eskadron, zweite Eskadron, endlose Schwadronen, ein ganzes Heer schien am Hause vorbeizuziehn, und wieder kamen Marschierende und der Gesang. Das im Marschtritt gesungene ›Morgenrot‹ klang seltsam mit einem heftigen Aufschwung auf dem ›mir‹: mi–ir! dahinter das ›zum frühen Tod‹ wie ein Gemurmel erstarb. – Die Kompagnien der Preußen und der Freiwilligen rückten in Abständen aus, mitunter vermischte verhallender und beginnender Gesang sich zu einem quälenden Durcheinander, unendlich schien das Stampfen der marschierenden Kolonnen, die Beiden standen, als schon der Morgen graute, unter den Säulen, kalt und abgenützt von Leidenschaft, froren und warteten auf die Batterie des Longinus. Erschreckend ging die Sonne auf, alles wurde furchtbar grau und hell, im Osten wurde es gelb, – »ohne Morgenrot kommt sie, wenn auch unter Wolken« flüsterte Longinus, und sie standen im Gittertor und sahen die Sechsgespanne im leichten Antraben eine Kanone nach der andern vorüberrollen, die sie zählten. Kanoniere, die sie bemerkten, schwangen die Czakos, es war nun ganz hell, leer lag die Straße, auf die sie hinaustraten, im leise sausenden Frühwind, leer und stille das Land, die Felder, in unauslöschlicher Sichtbarkeit gegenüber die grauen Gebäude der Orangerie und des Marstalles, diese unbegreiflich, warum sie da waren; alles war, alle Wirklichkeit war unbegreiflich.
Gleich darauf war für die Gudel das ganze ein Traum. Unter der Neigung der Straße das Auftauchen von Rossen, von denen sie gleich wußte, daß diese es waren; Angst, Angst, und das entsetzlich langsame Heraufkommen, das unerbittliche, dieser zwei schweren, braunen Pferde mit hellen Mähnen, die flatterten, mit den taktmäßig nickenden Köpfen, den heftig im Treten gekrümmten Beinen; und das Halten dicht vor ihr, und nun waren es sechs, paarweis hintereinander, die letzten schwarz, dahinter das ungetüme Lange, Verhüllte auf Rädern, Reiter und Gesichter, ein heranbewegter, glänzend roter Pferdeleib ganz nah, ein ernstes und junges Gesicht unter einem Czako, das, sich herabneigend, etwas sagte, – und jemand riß sie an sich, der ihr Gesicht mit kalten Lippen bedeckte. Dann war dies fort, sie sah in ihrer ausgestreckten Hand eine zerdrückte blaßrote Rose, die der Reiter nahm und nach rückwärts reichte, indem er lachte. Er sagte wieder etwas, auf das hin sie blindlings in über ihr hängende Zweige griff und etwas herabriß und hinhielt. Das war eine ganz braune Dolde; eine Stimme sagte: »Welker Flieder«, aber wo war Longinus? Da bewegten sich all die Pferde, auf dem vordersten saß jemand, der sich umdrehte, sie sah sekundenlang, sich einbrennend, das geliebte Gesicht, ehe es ausgewischt wurde von einem blendenden Sonnenschein, in den eine reitende Silhouette sich hineinbewegte; lauter Pferde, und nun das Knirschen von Achsen, Geklirr, es donnerte und grollte in ihren Ohren, lauter bunte Scheiben, die Sonne über der Landstraße, strahlend, blendend, und ein undeutlicher Schattenriß eines Sechsgespanns, das einen Baum schleifte schon ganz fern.
Die Gudel spürte sich mit brennenden Sohlen und Augen durch die unmögliche Tageshelle gehn; sie schöpfte Atem in einem Dunkel, in dem eine Kerze brannte, einsam, und sie stand neben einer liegenden halben Figur aus Stein und sagte: »Du – «