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An einem Aprilmorgen dieses Jahres 1812, wenige Tage nach der Übersiedelung in das Sommerschloß, ereignete es sich, daß die Gudel erwachte mit dem Namen Longinus Drolshagen, der ihrem Bewußtsein während der Nacht angeklemmt sein mußte und während des ganzen Vormittages anhielt, sich von Zeit zu Zeit durch ein sachtes Kneifen bemerkbar, die Gudel dadurch unwirsch zu machen. Ihr fiel ein, daß sie diesen Namen am Abend zuvor ihrer Großmutter aus der Zeitung vorgelesen oder geschrieen und sehr lachhaft befunden hatte, als den des jungen Künstlers, der – allein hier muß etwas nachgeholt werden.
Im Nachlaß des alten Herzogs hatte sich ein Plan vorgefunden für eine Grabstätte seines verstorbenen Neffen, des Erbprinzen, und seiner Frau, der Eltern Gudulas, wofür sich auch eine Summe im Testament angesetzt fand, die sich jedoch nicht als ausreichend erwies. Aber nach langem Für und Wider entschloß sich die Bürgerschaft zur Pietät und, mit einigen Abstreichungen, den Entwurf des Herzogs ausführen zu lassen. Der Auftrag wurde an einen Bildhauer und Architekten der Stadt gegeben, der aber schon alt und leidend war, so daß er nur mit großen Unterbrechungen arbeiten konnte. Es sollte ein kleines Mausoleum werden in archaischem Stil, das in unterirdischer Gruft die Sarkophage selbst, im Raum darüber die liegenden Figuren der Toten auf Postamenten von Marmor aufnehmen sollte. Der alte Meister wurde mit den Gebäudezeichnungen am ersten fertig, aber die Jahre gingen darüber hin, und als im Frühjahr 12 nach einem milden, den Fortgang des Baus ermöglichenden Winter das Haus unter Dach war, starb der Meister unter Hinterlassung eines Gipsmodells für die Figur des Prinzen und einiger Studien in Kohle für seine Gattin. Die Stadt hoffte daraufhin, noch ein Ende Geld zu sparen, indem sie die Witwe des Toten mit der Hälfte des ausgemachten Lohnes abspeiste und die Vollendung der Figuren einem Schüler des Toten übertrug, dessen Begabung der Alte gerühmt hatte. Der war noch jung und konnte für das Urteil der Bürgerschaft nur geringe Nachweise seines Genies aufbringen, weshalb man die Hälfte des verbliebenen Halbs als genügende Honorierung für ihn befand und sehr unzufrieden war, daß er diese Meinung nicht teilte und nicht nachgab, bis er die Stadt auf drei Viertel gesteigert hatte. Aber dies Viertel zahlten sie in Kost und Logis. Die, dem toten Landesherrn und seinem Hause noch ehrfürchtig anhängende Zeitung mit fürstlichen Privilegien hatte sich hierüber teils erbost, teils lustig gemacht in ebendem Artikel, den die Gudel ihrer Großmutter in die Ohren schrie. Die erboste sich auch.
Die Gudel in ihrer Einsamkeit hatte am Erscheinen der Baugerüste jenseits der Gartenmauer, an jedem Fortschreiten des Ganzen rege und ergiebige Teilnahme empfunden, zumal vom Juni 11 an, wo eine Tür durch die Mauer gebrochen wurde, auf Verlangen der Fürstin und Kosten der Stadt. An der Stelle, wo sich das Mausoleum erhob, war damals freies Feld, nur von einigen Eichen bestanden, unter deren Äste das Gebäude sich fügen sollte. Der Raum umher sollte jetzt in den vorhandenen Teil des Berggartens einbezogen werden, und eine Schar Arbeiter war beschäftigt, Rasenflächen und Wege anzulegen, Gebüsche, selbst Bäume, sowie die das Mausoleum mit einem neu zu errichtenden Gitter und Tor verbindenden Alleen von jungen Pappeln anzupflanzen. So war Aufbruch und scheinbare Verwüstung überall, und ein kleines Heer von Handwerkern aller Ort, die mit Weibern und Kindern, wenn sie um zwölf Uhr mit dem Mittagbrot kamen, ein Volk ausmachten wie die Ebräer beim Pyramidenbau.
Daß diese Alle gleichsam für sie arbeiteten, war ein erhöhendes Gefühl für die Gudel, das, im Gemisch mit der natürlichen Schwermütigkeit jenes Sommers, ihr das eigene Wesen in einem noch einsameren, ernsteren und dunkleren Licht erscheinen ließ, ebenso wie es die reichlich hülflosen Empfindungen des Gedenkens an die nie gekannten Eltern stärkte und ihm erstmalig zu etwas Form und Leben verhalf.
Aber ihr Teilnehmen an dem Bauwerk durch emsiges Studieren der Pläne und der vorhandenen Entwürfe für die Figuren erschöpfte sich bald. Die Gudel mußte – o Zeit, die sie lange entschwunden glaubte! – noch einmal einen Baum ersteigen, oder einen Ast wenigstens, nämlich den schräge vom Erdboden aufsteigenden einer gesunkenen alten Esche, der sich, zwanzig Schritt von dem Bauwerk entfernt, auf die Mauer gelegt hatte, so daß sie darauf sitzen, die Füße auf die Mauer stellen und alles beobachten konnte, selber ungesehn, da von unten steigendes und von oben hangendes Zweigicht sie verbarg. Aber das Stillsitzen und Sehen genügte mit der Zeit nicht, und, erst nach Feierabend, wenn die Gegend wüst, leer und abgeschieden in der rötlichen Sonnenglut lag, dann auch während der Arbeitsstunden kam sie mit ihrer Gitarre, die alten Lieder von Matthisson und Salis erst summend, dann lauter singend. Die Arbeiterschaft, die bald heraus hatte, wer die Sängerin war, waren Menschen von achtzehn-, nicht von neunzehnhundertundzwölf, und die Gudula blieb unbelästigt selbst von den jüngsten.
Dann wurde die Tür in die Mauer gebrochen, und nun begannen die Standesgefühle der Gudel sich leutselig zu äußern. Eines Tages erschien sie um Mittag, als alles beim Löffeln und Schlucken war, mit einem Korb voll Obst und verteilte es an die Kinder. Sie wiederholte ihren Besuch, kam mit Müttern und Vätern ins Gespräch, ließ sich von ihren Angehörigen daheim, Greisen oder Kranken erzählen und veranlaßte im Schloß, daß Eßwaren und Stärkmittel hingesandt wurden, wo es not tat. Auf diese Weise wurde sie allgemach heimisch auf dem Bauplatz, begann sich wohlzufühlen, benutzte jede freie Stunde, sich hinzustehlen, versammelte die Kinder um sich, um ihnen vorzusingen oder ihre Volksweisen und Choräle singen zu lassen, und machte ihnen viel Pein durch Fragen nach ihren Schulaufgaben. Am Ende fing sie an, sie zu unterrichten und ihren, von der Garnison aufgeschnappten Schatz an französischen Brocken zu vermehren, was sie überaus belustigte. Alldies zu großem Behagen der zuschauenden Eltern und von sich aus nach anfänglicher Willkür und Launenhaftigkeit mit so viel Regelmaß, wie sie eben aufbringen konnte.
So stand es mit der Gudel an jenem Aprilmorgen des Jahres 12, wo sie mit dem komischen Namen Longinus Drolshagens erwachte. Sie ging deswegen – nämlich wegen seines albernen ihr fortwährend auf der Zunge Liegens – nicht durch die Pforte in der Mauer, obwohl in der Sonne funkelnd ein neurotes Kupferdach und darunter ovale Fensteröffnungen in grauen Wänden, die Gartenmauer überragend, ihr anzeigten, daß das Bauwerk vollendet war. Sondern sie stand nur einige zehn Minuten in der offenen Tür, die im Rohen fertigen Gartenanlagen in Augenschein nehmend und leise beängstigt durch die große Stille der sonnigen Gegend, in der überall das Heilen noch frischer Wunden an Wurzeln und im Erdboden zu spüren war. Auch bedrohlich erschien mittenin der griechische Ernst des Gebäudes, das nun ein mächtiger Würfel unter den Eichbäumen war, mit einer Apsis und dreieckiger Giebelstirn; von den dorischen Säulen, die sie trugen, war der Gudel die äußerste linke sichtbar.
Einmal während dieses Stehens in der Tür wurde ein Geräusch vernehmlich; ein leises Klingen, wie von Metall auf Stein, das mit Pausen vielleicht drei Minuten währte. Bald nachher fiel der Gudel etwas ein, das die Zeitung zu berichten gewußt hatte, – ein Scherzwort des Bildhauers Drolshagen –, leise entrüstet über den Mangel an sittlichem Ernst bei Künstlern. Nämlich, er hatte sich ausbedungen, das Mausoleum selbst als Werkstatt benutzen zu dürfen, erstlich weil er nach dem Heimgang seines Meisters keine mehr habe. Zum zweiten aber hatte er gesagt: das Tote lebendig zu machen, habe er wohl gelernt, nämlich den Stein; noch nicht aber, das Lebendige tot, – nämlich sein Modell, indem er es als Leichnam aushaue, und deshalb würde er jenes Raums bedürfen, um in die erforderliche ernste Stimmung zu kommen. – Der Gudel mißfiel dies, sie schloß die Tür und kehrte in ihren Garten zurück.
Um Mittag dieses Tages wurde es sehr warm. Die des frühen Morgens und die des Mittags waren die geheimen Freistunden der Gudel, wo alles im Hause schlief und sie für schlafend hielt. Gudula, angenehm schläfrig, die süß befremdliche Erneuerung der Natur und der Lüfte, das ohne die Last vieler Überkleider im Freien sich Ergehenkönnen genießend, schlenderte im Garten umher zwischen den noch grauen und wolligen Wiesen, roch alles, prüfte die frischen, aufgesprungenen Knospen der Fliedersträuche, befreite den, wie die andern zur Erde gebogenen und mit Tannengezweig bedeckten Stamm der Rose, die ihren eigenen Namen an einem Täfelchen trug – Züchtung und Geschenk des Herzogs –, la prinzesse de Trassenberg, richtete ihn eigenhändig auf und knüpfte ihn mit einem winzigen rosa Bandende, das sie aus dem Hemdeinsatz zog, am Stocke fest. Nach dieser ländlichen Arbeit, die Finger am Tüchlein putzend, ging sie zur Mauertür, diesmal entschlossen, wofern dieselbe Stille dort herrsche wie am Morgen, das Mausoleum zu betreten.
Die frischgegrabenen Wege schliefen den ersten Schlaf in der Zweiuhrsonne; die neuen Pappelreihen standen noch entsetzt als struppige Ruten, – im ganzen vier, zwei schmale Alleen links vom Hause und rechts, die den breiten Durchblick darauf vom Gittertor und der Landstraße freiließen. Dann stellten sich sehr feierlich und gewaltig die sechs dorischen Säulen des Vestibulums der Gudula dar, die sie mit Gefühlen der Andacht und des Todes durchschritt. Die Torflügel, die aus Bronze gegossen werden sollten, fehlten noch; die hohe Bogenöffnung des Portals war mit Brettern vernagelt, in denen eine Lattentür angelehnt in den Angeln hing. Ein, in großen gotischen Lettern kunstreich bemaltes Plakat fiel der Gudel in die Augen:
Hier wohn' ich im Hause der Toten.
Eintritt strenge verboten!
L. D.
Wieder dieser Drolshagen! Der Ernst der Gudel vertiefte sich um einen Schatten, und ihr Schritt verleiserte sich, als sie in das kalte Dunkel der Vorhalle trat. Diese war von geringer Tiefe; in der Wand gegenüber dem Eingang befand sich, zwischen zwei hohen jonischen Sandsteinsäulen, eine über drei Stufen erhöhte rechteckige Türöffnung, hell golden erfüllt mit Sonnenlicht und dem dichten Gewimmel der tanzenden Staubteilchen, ein sehr stiller und feierlicher Anblick. Die Gudel erstieg die Stufen noch leiser vor Ehrfurcht und blickte in den Raum.
Aber das Sonnenlicht war das Beste daran. Zwei riesige Marmorblöcke lagen da, rechteckig, roh gehauen, und auf dem einen hingeworfen eine schwarze Samtjacke; Werkzeuge auf dem andern, ebenso am Boden. Quer hinter den Blöcken stand, von ähnlicher Größe, das Gipsmodell, Postament und liegende Figur, des toten Vaters der Gudel. Er erschreckte sie, steif und weiß daliegend, das schlafende Gesicht ihr zugewandt, in reicher Galauniform, mit einem Streif des unter ihm liegenden Mantels bedeckt, mit der rechten den Husarenczako an die Brust drückend, die Linke am Griff des Säbels. Als die Gudel den Blick wegzunehmen wagte, traf er durch die schräg von oben, aus den ovalen Luken fallenden Wände der Sonnenstrahlen auf das so verschleierte Bildnis ihrer Mutter in zarten Pastellfarben, – vermutlich dem Künstler überlassen zum Treffen der Ähnlichkeit. Die Wand, an der es hing, war lasurblau gemalt mit goldenen Sternen; an der gegenüberliegenden befanden sich noch die Malergerüste.
Die Gudel hatte sich unter das Bild gestellt und es aus Pflichtgefühl lange betrachtet. Plötzlich traf sie ein gewaltiger Schreck. In der Apsis war ein Mensch! – Aber dies gab einen seltsamen Anblick.
Der Mensch lag auf einem Ding, das dazumal ein Lotterbett genannt war, hatte am Leibe nichts als eine leinene Hose, und seine ganze Brust war bedeckt mit dem buntfarbig leuchtenden Abbild des Fensterovals hoch über ihm, dessen farbige Strahlen die Luft durchschwebten; und es war übrigens das Wappen der Trassenberge, das mit dem der Brabanterin auf der andern Seite die Apsis zierte, und das, umrahmt von den zackigen Wimpeln der Helmzier, dieser Schläfer auf die Brust gebrannt trug. Die Gudel fand dies, sobald Schrecken und Verwunderung verwunden waren, über die Maßen unpassend, sowohl zu schlafen in diesem Raum, wie sich ihr Wappen aufbrennen zu lassen, und sie hätte den Schläfer am liebsten geweckt, wenn ihr das nicht unschicklich vorgekommen wäre. Und was war das für ein Mensch? Ein Handwerker wohl; ein Sansculotte jedenfalls. Sein Gesicht, undeutlich hinter den farbigen Strahlen, war umrahmt von langem und pechschwarzem Haar; es war oval und schien gelblich. Vielleicht war er schön, aber seine Nase schien schief, – was allerdings kein Fehler zu sein hatte in den Augen der Gudel, welche die schiefe Nase, das Zeichen ihres Geschlechts, noch eben im Antlitz ihres Vaters gefunden hatte. Links und rechts vom Kopf dieses schlafenden Drolshagen, der es doch wohl war – seine Aufführung paßte zu dem, was sie schon von ihm wußte –, standen die Ellbogen empor.
Überdem hatte er auf einmal mit Schlafen aufgehört und sie einen Augenblick mit den erstaunlichsten schwarzen, unendlich traurigen, dann mit zwinkernden, schläfrigen Augen angesehn, die überraschend nahe zusammen standen. Die Gudel zog die Brauen gegeneinander, drehte sich langsam, bevor sie errötet war, um, verließ schnellen, wiewohl von Würde genügend gehemmten Schrittes den Raum und ging ohne anzuhalten durch Vorhalle und Vestibulum um die Ecke des Gebäudes auf ihre Mauertür zu. Zu ihrem Vorteil erwartete sie dort, mitten in der Tür in der Sonne sitzend, die Hauskatze, die ihr gefolgt war, aber, anders als die Gudel, das Überschreiten der Grenze nicht für rätlich erachtet hatte; und nachdem sie sich eine Viertelstunde mit ihr um die Büsche gejagt hatte, war der wappenbemalte Sansculotte vom Erdboden völlig verschwunden.
Apriltage folgten mit dem Aprilwetter, und die Gudula betrat selten den Garten, der in rauschendem Regen zu verschwinden pflegte, sobald sie weit genug vom Hause entfernt war, um triefend naß zu werden im Zurücklaufen. Als die Gudel dann eines heitern Vormittags ihre Großmutter auf das Mauerpförtchen zuführte, da sie die Arbeit des Bildhauers in Augenschein nehmen wollte, entdeckte ihr scharfes Auge schon von weitem etwas Ungehöriges am Türflügel, etwas Weißes, das ihr im nächsten Augenblick Herzklopfen verursachte, und schon war sie mit dem Ausruf: »Mal sehn, ob ich auch den rechten Schlüssel habe!« davongerannt, hatte den sichtbar mit Versen beschriebenen Bogen abgerissen und zerknittert und – weg damit!
Sie war schwer außer Atem, die Gudel. Im Mausoleum aber war nichts. Keine Menschenseele, ausgenommen einen fleckigen Maler und einen rotznäsigen Knaben, die das Gerüst auseinandernahmen und dabei unziemlich und schallend laut pfiffen. Die Blöcke lagen unberührt, wie es schien, denn ein kinderkopfgroßes Loch in der Oberfläche des einen konnte schon immer dagewesen sein.
Am Nachmittag aber spielte die Katze auf dem Rasen zwischen den Schloßflügeln mit einem Papierknäuel. Die Gudel riß es ihr, schleunig zustürzend, weg, mußte es aber nun auf ihr Zimmer nehmen, wo sie es stirnrunzelnd entwickelte. Es hatte vom Regen sehr gelitten. Die ungemein zierlich gemalten Lettern, besonders die in hoffnungsvollem Grün mit vielen innigen Ranken getuschten großen Initialen der Strophenanfänge waren ganz ausgelaufen. Leserlich aber war es geblieben, und die Gudel las:
Der Vögel süßes Zirpen,
Quirinken leis und Schirpen
Dringt nun ins Fenster ein.
Die leichten Sonnenscheine
Wechseln am Mauersteine,
Es ist im Zimmer wie im Frei'n.
Und Lüfte, schaukelnd kühle
Natürliche Gefühle
Ziehen ohn Hindernis
Durch Sträucher, grün beflorte,
Von dem zu jenem Orte,
Zu Krokus und Narziß.
Der Beete dunkle Erde
Hat keinerlei Gebärde,
Doch freut sich offenbar.
Die locker braun gehäufte,
Von Frische zart beträufte,
Fühlt sich so leicht wie offnes Haar.
Und sieht in stillem Liegen
Oben durchs Blaue fliegen
Ein weißes Adlerheer
Und auf den kühnen Rücken
Ganz lichte Streiter zücken
Flamberg und Feuerspeer.
Ach, nieder fällt vom Himmel
Nur schattiges Gewimmel,
Dann Traufe silbern leicht,
Davon die offen zarten,
Die Beete in dem Garten
Ein Schauer überschleicht.
Oh hochbeglückte Staren,
Die lang im Süden waren,
Fallt ein mit vollem Schwarm!
Es fröstelt in den Lüften!
Deckt ihr mir Knie und Hüften
Und macht mir um den Busen warm.
Er war ja ein ganz gebildeter Mann, dieser Drolshagen, aber was hatte es wohl zu bedeuten, daß vor dem ›Beete‹ im Vers: ›Die Beete in dem Garten‹ ein durchgestrichenes H zu sehen war, wo grade zuvor von offenen Haaren die Rede gewesen war, braunen! Nein, bloß die Erde war braun genannt, und die Gudel dachte:
Die Menschen da draußen – es ist eigentümlich mit ihnen! Dies hier war ja recht zart, und daß es sich jeder Anspielung enthielt, bis auf die ganz kleine, die vielleicht gar keine sein sollte, da Erde nun einmal braun ist, das war sehr nett. Warum aber wieder diese lakaienhafte Plumpheit, die gleich überall eindringen mußte? Man konnte sich bald auch im Garten nicht mehr zeigen, so kam einem gleich einer vor die Füße gestürzt. Und dieser, der sie kaum überhaupt gesehen haben konnte! (Immerhin wußte die Gudel recht wohl, daß sie im weißen Kleid, ein purpurnes Band unter dem Busen, den breitkrempigen Strohhut am purpurnen Bande am Arm, in der von oben stürzenden Lichtflut so wirksam gestanden hatte wie Klärchens Traumerscheinung im ›Egmont‹, und dieser Drolshagen hatte ebenfalls geschlafen.)
Der Schluß ihrer Überlegungen war, daß sie auch, selbst wenn die ganze Mauer mit Drolshagens besetzt sein würde, sich nicht am Spazieren verhindern lassen wollte, und als nach mehreren schönen Tagen nichts Neues sich ereignete, wurde sie eines Abends in der Dämmerung so kühn, ihren alten Sitz auf der Mauer aufzusuchen, den sie zur Vorsorge mit einem türkischen Schal bedeckte. Da es bereits dunkelte, würde ja wohl niemand mehr im Mausoleum arbeiten, dachte sie. Und wie heilig schön war dieser Abend! Die leeren Felderbreiten vor ihr lagen schon grau und erstorben bis hin zum Dorf, wo kahles Gewipfel und Dächer schwarz und unversehrt vor einem gewaltigen Ausbruch von blutigroten, violetten und schwarzen Himmelsfarben und Wolken standen. Bedrohlich scheinend und unheilvoll, war es doch nur ein gemaltes Schauspiel, und diese Ungetüme von Wolken verschlangen nichts als sich selber. Und als sie zur Rechten durch das kaum befiederte Gezweig ihres Baumes blickte, schwebte im verkühlten Mattblau dort der zunehmende Mond, dessen sanftgoldener Anblick mit seinem etwas unglücklichen Ausdruck einer zerteilten Welt sie langsam verzauberte, so daß sie mit halber Stimme, und dann noch einmal mit ganzer, die ›Frühen Gräber‹ zu singen begann:
Willkommen, o silberner Mond,
Schöner, stiller Gefährt' der Nacht!
Und ihre Tränen flossen, als sie, zum Mausoleum gewandt, die Endstrophe voll aussang:
Ihr Edelsten, ach, es bewächst
Eure Male schon ernstes Moos!
O, wie war glücklich ich, als ich noch mit euch
Sah sich röten den Tag, schimmern die Nacht.
Die Verse, die die Gudel nach vier kalten, durchregneten Tagen, durchweichter noch als die ersten, an der Tür hängen sah, las sie überhaupt nicht. Oder sie las sie doch erst spät abends beim Haarkämmen, nachdem sie die Zofe fortgeschickt hatte, von dem Bogen, den sie auf den Toilettentisch gelegt hatte, hier und da ein paar Worte oder Zeilen aufpickend zwischen Blicken in den Spiegel, Bürstenstrichen oder dem Feststecken der Zöpfe, und dann las sie das Ganze mit gerümpfter Nase, von oben blickend, ohne das Blatt anzufassen. Es lautete:
Willkommen, o silberner Mond!
Ja, willkommen, du Nachtgefährt',
Wieder nach regnichten Stunden
Sanglos kühlerer Einsamkeit!
Denn lange verstummt im Gezweig
Ist mir das Wunder! Da Lenz
Noch auf der frostigen Flur nicht
Erblühete, schauernd der Hain steht,
So kam doch die Nachtigall schon? Nein, es ist
Süßerer, vollerer Klang, es ist
Dryas des Hains, ach, der deine,
Der den Sterbling traf!
O fürchte doch, fürchte dich nicht!
Klage, Kehle, dich weiter aus!
Niemand vernimmt dich als nur im
Hause des Marmors ein fühlend Herz.
L. D.
Erst war die Gudel sehr traurig. Nun durfte sie nie mehr singen; nun war das verdorben. Als sie dann das erste Gedicht hervorholte, um es mit dem andern am Licht zu verbrennen, und es noch einmal entfaltete, streifte ihr Blick die hervorspringenden grünen Initialen der Strophenanfänge, und da las sie DU DU AO! Sollte das Absicht gewesen sein? Du du, A und O, – sie errötete glühend, obgleich sie es im selben Augenblick sehr geschmacklos fand. Trotzdem schienen ihr die Blätter jetzt zu schade zum Vernichten, als ob sie die liebevolle Geduld spürte, mit der sie beschrieben waren, aber als sie dann im Finstern wach lag und nicht einschlafen konnte, das Kopfkissen heißer wurde, füllte sie sich allmählich mit einer tiefen Erzürntheit auf sich selbst. War es nicht ihre eigene Schuld? Was hatte sie auf Mauern zu sitzen und zu singen? Plötzlich brach sie in Tränen aus bei dem Wort: Frechheit, das sie gedacht hatte, und wobei sie sich über die Maßen schutzlos und bedürftig und preisgegeben vorkam. Was würde nun das nächste Mal kommen? Und wenn nun der Gärtner den Zettel fand? – Sie schluchzte lange, fand endlich einigen Trost im Grübeln und Erdenken der schärfsten Bestrafung, durch die sie sich rächen konnte, fand jedoch vorläufig keine und schlief endlich ein. Daß sie sich rächen wollte, war allerdings ein sehr bedenkliches Zeichen von unfürstlicher Gesinnung; aber das ists: sie war sich nicht klar darüber.
Andern Morgens ganz früh, nachdem sie sich heftig ins Kochen gebracht hatte, fuhr sie, ein Flammenwagen von Ingrimm, durch den Garten, durchs Pförtchen und stand, blaß und von einer unendlichen Nichtachtung beseelt, vor diesem Drolshagen, der sich eben von seiner Arbeit an einem der Blöcke aufrichtete, das nach vorn gefallene Haar zurückstreichend mit der Linken, die den Meißel hielt. Seine Nase war allerdings schief, aber sonst sah er nicht unangenehm aus mit seinem gelben Gesicht und den traurigen, zu enge gehaltenen Augen. Übrigens trug er nun ein feines weißes Hemde mit Spitzen und schwarze Kniehosen mit Schuhen und Strümpfen.
»Guten Morgen«, fing die Gudula kalt lächelnd an. »Er ist wohl der Herr Drolshagen?«
Er verneigte sich, ein stummes »Zu dienen« um die Mundwinkel. Das Lakaien-Er der Anrede hatte demnach getroffen.
Sie nahm die zusammengelegten Bogen aus der runden kleinen Pelzmuff, die sie zu diesem Zweck mitgenommen hatte, und legte sie auf den Block.
»Hat Er das geschrieben? Wie kommt Er dazu?« O Triumph sein Zucken und Erbleichen! Darauf sagte er ziemlich steif, wenn die Demoiselle schon ein Recht hätte, über ihn zu richten, so könnte sie ihn deshalb noch nicht in einen Kammerdiener verwandeln.
Sie ließ ihn kaum ausreden; sagte: »Es heißt nicht Demoiselle.«
»Pardon, Madame …«
»Mein Gott, Drolshagen, es heißt nicht Madame, es heißt Durchlaucht!«
Nun war es, als hätte ihn ein Blitz getroffen. Er schien in Stücke zerfallen zu wollen, dann raffte er sich zusammen, warf mit einmal die Arme auseinander, als einer, der sich völlig preisgiebt, und sagte: »Bei meiner Ehre, das habe ich nicht gewußt!«
Darauf beugte er sich auf das rechte Knie vor ihr und senkte den Kopf wie ein Sklave, der sein Urteil erwartet, – all das nicht unpompös, aber es paßte zu ihm, und es paßte zur Zeit. Es paßte auch der Gudel, obgleich es sehr zum Kopfschütteln war, daß es hier einen Menschen geben sollte, der nicht wußte, wer sie war. Immerhin: diese Gedichte galten also nicht ihr, sondern einer vermeintlichen Demoiselle, und die Sache fing an, in Ordnung zu kommen. Doch mußte sie nun etwas sagen, und sie sagte, er solle nur aufstehn, und er hätte sich doch erkundigen sollen. Er beharrte dagegen beim Knieen und bat, lieber wieder Er zu ihm zu sagen. Was aber das Gefühl angehe, so sagte er, daß es vorziehe, in Freiheit zu gehn, unbekümmert um Stand noch Namen. Und daß es Glück nenne, nur die Flügel aufzutun und wie die Schwalbe zu hoffen, daß es willkommen sei.
»Er war ja nicht willkommen,« erwiderte sie spitz, setzte aber hastig hinzu, daß sie ihm auch nicht böse sei, und bat ihn, ihr zu zeigen, was er arbeite. Nun stand er auf und war gar nicht verlegen; er war es vielmehr, aber nur, weil er ihr nichts zeigen konnte als eine Stiefelspitze, die vorn aus dem Block ragte. Die Gudel meinte, seine Teilnahme für die Arbeit scheine nicht groß, und in der Tat, begann er, es falle ihm schwer, das zu leugnen. Einen fremden Entwurf auszuführen, sei an und für sich wenig vergnüglich, und obendrein – vor seiner hochseligen Durchlaucht alle Untertänigkeit, aber eine Uniform aus Stein zu hauen, – sie werde verstehen, daß das ein verquerer Gedanke wäre.
Die Gudel sagte: »Aber das Gesicht!«
Am Gesicht hatte er respektvoll zu tadeln, daß es einen Bart habe, einen Schnurrbart. Das sei auch nichts für einen Bildhauer. Da sie nun verdrießlich wurde und sich zum Gehen wandte, versöhnte er sie eilig, indem er mit den Worten: Etwas Schönes habe er doch, nur sei es nicht ganz fertig, – auf jenes Loch am Rande des Blockes deutete. Die Gudel schauderte aber fast zurück, als sie darin eine Hand fand, eine weiße Totenhand, vielmehr nur vier Finger und die Knöchel und die Adern auf dem Handrücken bis zum Ansatz des fehlenden Daumens. Doch sah sie bald, wie dies schön war, hineingezaubert in den Stein, lebendig wie eine Blume, aber so voll Schlaf, daß sie hervorgekommen schien aus dem großen Block wie von einem ganzen, darin schlafenden Menschen. Die Knöchel glichen geschlossenen Augen voll Schlummer, und diese so weißen Adern schienen dennoch zu pochen von ruhigem Blut.
Die Gudel sah auf und sagte tränenden Auges: »Er ist ein guter Mensch, Drolshagen!« Worauf er gestand, diese Hand für sie gemacht zu haben.
Aber ihre Mama, fragte sie nun, ob ihm die auch nicht gefalle, – und er wurde begeistert. Seine Augen fingen Feuer, er pries die Anmut und Holdseligkeit des Gemäldes, zeigte sich als glänzender Redner und Schaukler in Worten und durchaus nicht so schwermütig, wie seine Augen geschnitten waren, wie es denn überhaupt bald den Anschein gewann, als sei das Traurige dort angebracht aus irgendeinem Grund, eine Arabeske oder dergleichen, und eben nur dort vorhanden und sonst nirgend.
Aber, sagte er, woher ein Modell nehmen für einen so zarten und adligen Leib? Aus diesem Grund habe er auch diese Arbeit, so sehr er danach brenne, bisher unangerührt lassen müssen. – Der Gudel war es unbekannt, zu was eigentlich ein Modell diene; Drolshagen erklärte und entrollte einige Kartons, auf denen liegende nackte Frauen dargestellt waren, grob mit Kohlelinien, und die Gudel erschrak. Nicht wegen der Nacktheit, die damals keinerlei Anstoß zu erregen pflegte, um so weniger da die Gudel selbst in ihrem dünnen Batistkleid, das die halbe Brust frei ließ und deren Übriges ebenso wie die Umrisse der Glieder in voller Sichtbarkeit zeigte, sich in einem, der Nacktheit sehr nahen Zustand befand; aber sie meinte, daß ihre Mutter, etwa wie eine griechische Göttin, nackt dargestellt werden sollte. Sie war denn auch gleich zufrieden, als er eine zartere Bleistiftzeichnung auf rötlichem, in quadratische Felder geteilten Grunde vorzeigte, wo ein dünnes, schleierähnliches Gewand den Gliedern anlag. – Er habe, erklärte er, noch unlängst in Berlin die Entwürfe des berühmten Christian Rauch zum Sarkophag der Königin Luise gesehn, die in Charlottenburg ein Mausoleum bekommen würde ähnlich diesem, und da sei es ganz so. Und er erging sich des weiteren im Preisen der weiblichen Form, im Feuer seiner Reden die leise Befangenheit der Gudel so wenig merkend, wie daß er sie mit glühenden Blicken umriß von oben bis unten. Dies aber tat ihr im Grunde ganz wohl, und sie vergaß nicht, bevor sie ging, die daliegenden Gedichte so anzusehn, daß auch er sie bemerkte und demütig bat, sie nicht liegen zu lassen.
»Und die Nachtigall,« lockte er mit aller möglichen Anmut, bevor sie entschwand, »wird sie nie mehr singen?«
Allein die Gudula war bereits zu weit, um noch zurückrufen zu mögen, und begnügte sich, stillschweigend zu antworten: »Jetzt kommt ja die richtige.«
Nun, diese Sache also war erledigt. Die Gudel war immerhin froh, erfahren zu haben, daß die Welt jenseits der Gartenmauer nicht nur mit Lakaien besiedelt war.