George Sand
Indiana
George Sand

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Vierundzwanzigstes Kapitel.

In der inneren Politik Frankreichs bereiteten sich wichtige Veränderungen vor, welche einer Revolution entgegensteuerten. Die herrschende Gesellschaft hatte sich überlebt, die Partei, der Herr von Ramière angehörte und für die er eine bedeutende publizistische Tätigkeit entfaltet hatte, verlor Macht und Einfluß.

Wenn auch nicht erwünscht, aber unter den obwaltenden Verhältnissen zu gelegener Zeit stellte sich bei Raymon ein heftiges rheumatisches Leiden ein, welches ihn nötigte, sich aus dem ebenso hitzigen als unerquicklichen Streite der Meinungen mit seiner Mutter auf das Land zurückzuziehen.

In dieser Einsamkeit litt er außerordentlich. Die stechenden Schmerzen der Krankheit, die Langweile und das Fieber gaben seiner Ideenwelt unmerklich eine andere Richtung.

Seine Mutter pflegte ihn aufs sorgfältigste, erkrankte aber selbst höchst bedenklich. Darüber vergaß er seine eigenen Leiden. Er wachte an ihrem Lager, doch reichten seine Kräfte nicht aus und er erlag physisch der Last der Anstrengung. Bezahlte Leute waren jetzt seine Pfleger, nur selten besuchte ihn ein Freund. Unwillkürlich mußte er an Indiana denken, die ihm jetzt eine willkommene Hilfe gewesen wäre. Er erinnerte sich an die hingebende Pflege, die sie vor seinen Augen ihrem alten, mürrischen Gatten gewidmet hatte, und vergegenwärtigte sich die wohltuende Anmut, mit der sie ihren Geliebten würde zu umgeben wissen.

»Wenn ich ihr Opfer angenommen hätte,« sagte er sich, »so wäre sie entehrt; aber was würde es mich kümmern in meiner jetzigen Lage? Verlassen von einer frivolen und selbstsüchtigen Welt, stünde ich nicht allein; die, welche alle mit Verachtung zurückgestoßen hätten, wäre liebevoll um mich, sie würde meine Leiden beweinen und sie zu mildern wissen. Warum habe ich dieses Weib verstoßen? Sie liebte mich so sehr, daß das Glück, mein häusliches Leben zu verschönen, sie über die Anfeindungen der Menschen getröstet haben würde.«

Er beschloß, sich zu verheiraten, sobald er wieder hergestellt wäre, und vergegenwärtigte sich alle die reizenden Frauengestalten, die ihn in den Salons der Gesellschaft am meisten interessiert hatten. Dann aber mußte er sich doch fragen, ob ihre rosigen Lippen ein anderes Lächeln hätten, als das der Koketterie, ob ihre zarten Händchen Wunden zu heilen wüßten, ob ihr feiner, glänzender Geist geeignet sei, die Langweile der Krankheit zu zerstreuen? Raymon mißtraute mehr als ein anderer der Koketterie der Frauen; mehr als ein anderer haßte er den Egoismus, weil er wußte, daß sein Glück nichts von ihm gewinnen könne. Er gehörte einer hohen, strengen Familie an, die eine Mißheirat nicht geduldet haben würde, und doch waren die großen Vermögen mit Sicherheit nur noch bei der Bourgeoisie zu finden, voraussichtlich würde diese Klasse sich auf den Trümmern der anderen erheben, und um sich in dem Sturme der Bewegung oben zu erhalten, mußte man der Schwiegersohn eines Fabrikanten oder eines Bankiers sein. Raymon hielt es daher für klug, erst abzuwarten, von welcher Seite der Wind herkommen würde, ehe er einen Schritt tat, der über seine ganze Zukunft entscheiden sollte. Indessen konnte seine Krankheit lange währen, und die Hoffnung auf bessere Tage erstickt die Heftigkeit gegenwärtiger Schmerzen nicht. Er dachte von neuem an jene unbegreifliche Verblendung, da er sich geweigert hatte, Frau Delmare zu entführen, und verwünschte sich, seine wahren Interessen so schlecht verstanden zu haben.

Um diese Zeit erhielt er den Brief, welchen Indiana ihm von der Insel Bourbon schrieb. Die unbeugsame Energie, welche sie mitten in dem Unglück bewahrte, das ihre Lebenskraft hätte brechen müssen, erregte Raymons lebhafte Bewunderung.

»Ich habe sie falsch beurteilt,« gestand er sich, »sie liebt mich wirklich, sie liebt mich noch, und noch jetzt dürfte ich vielleicht nur ein Wort sagen, um, wie ein mächtiger Magnet, sie von einem Ende der Welt an das andere zu mir zu ziehen, wenn nicht sechs bis acht Monate darüber vergehen müßten, um zu diesem Ziele zu gelangen, so möchte ich es wohl versuchen.«

Mit diesen Gedanken schlief er ein. Doch bald weckte ihn ein ungewöhnliches Geräusch im anstoßenden Zimmer wieder auf. Er erhob sich mühsam, warf seinen Schlafrock über und schleppte sich in das Gemach seiner Mutter. Ihr Zustand war beunruhigender als je.

Gegen Morgen fand sie die Kraft wieder, sich mit ihm zu unterhalten; doch täuschte sie sich nicht über die Spanne Zeit, die ihr noch zu leben blieb, und beschäftigte sich mit der Zukunft ihres Sohnes.

»Du verlierst in mir deine beste Freundin,« sagte sie zu ihm, »möge der Himmel mich durch eine deiner würdige Gefährtin ersetzen! Aber sei klug, Raymon, und wage die Ruhe deines ganzen Lebens nicht für einen Traum des Ehrgeizes. Ach, ich kannte nur eine Frau, welche ich hätte meine Tochter nennen mögen. Höre mich, lieber Sohn! Herr Delmare ist alt und gebrechlich; wer weiß, ob jene weite, anstrengende Reise nicht den letzten Rest seiner Kräfte erschöpft hat. Achte die Ehre seiner Frau, so lange er lebt, aber wenn er, wie ich es glaube, mir bald nachfolgen wird, so erinnere dich, daß noch eine Frau auf der Welt lebt, welche dich fast ebenso liebt, wie deine Mutter dich geliebt hat.«

Am Abend starb Frau von Ramière in den Armen ihres Sohnes. Raymons Schmerz war tief und herb; seine Mutter war ihm wirklich unentbehrlich gewesen, mit ihr verlor er den ganzen moralischen Halt seines Lebens. Er vergoß heiße, verzweifelnde Tränen, er klagte den Himmel an, er fluchte seinem Geschick, er beweinte auch Indiana.

Als er etwas hergestellt war, warf er einen Blick auf die Lage Frankreichs. Die politischen Wetterwolken ballten sich immer drohender zusammen, und da er keine Lust verspürte, sich von neuem in den Streit zu mischen, zog er sich nach Cercy zurück mit dem traurigen Andenken an seine Mutter und an Frau Delmare. Er machte sich mehr und mehr mit dem Gedanken vertraut, daß Indiana für ihn nicht verloren sei, wenn er sich die Mühe geben wollte, sie zurückzurufen. In diesem Entschluß sah er manches Bedenkliche, aber noch weit mehr Vorteile. So lange zu warten, bis sie Witwe sei, um sie zu heiraten, wie Frau von Ramière es gewollt hatte, fand er nicht in seinem Interesse. Delmare konnte noch zwanzig Jahre leben und Raymon wollte nicht für immer der Aussicht auf eine glänzende Heirat entsagen. Seine Phantasie malte ihm ein schöneres Glück. Wenn er sich ein wenig Mühe gab, konnte er über Indiana eine unbeschränkte Macht ausüben und an Geschick und Leichtsinn fehlte es ihm nicht, um aus dieser heißblütigen Frau eine ergebene Geliebte zu machen. Die öffentliche Meinung brauchte er nicht zu fürchten, er konnte ja Indiana in tiefer Einsamkeit wie einen Schatz verbergen. Dort sollte sie ihm an Tagen der Einsamkeit das Glück einer reinen und edlen Neigung gewähren. Indianas Gatte verursachte ihm keine Skrupel: er würde wohl seine Frau nicht dreitausend Stunden weit verfolgen, zumal ihn seine Geschäfte auf der Insel Bourbon zurückhielten. Indiana war nicht die Frau, welche Wert auf gesellschaftliche Zerstreuungen legte; sie wollte nur geliebt sein, und Raymon fühlte, er würde sie schon aus Dankbarkeit lieben, sobald sie ihm nützlich wäre. Er nahm sich vor, sich seine Freiheit zu bewahren, ohne daß sie sich darüber beklagen könnte, er schmeichelte sich, so viel Macht über sie gewinnen zu können, um sie in alles willigen zu sehen, selbst in seine Heirat mit einer andern.

»Übrigens,« sagte er sich, »hat diese Frau dann für mich ein Opfer gebracht, das sie nicht mehr zurücknehmen kann. Meinetwegen ist sie über den Ozean gekommen, und dadurch ist ihr jede Möglichkeit abgeschnitten, bei ihrem Gatten Verzeihung zu finden. Die Welt ist nur gegen kleine, gemeine Fehler unbeugsam, eine seltene Kühnheit setzt sie in Erstaunen. Man wird mich nicht verurteilen, wenn ich Indiana nach einem so hohen Beweise ihrer Liebe aufnehme und beschütze. Die Gesellschaft will zuweilen, daß man ihr trotze, sie gewährt denjenigen nicht ihre Bewunderung, welche den breitgetretenen Weg verfolgen. In unserer Zeit muß man die öffentliche Meinung mit Peitschenschlägen regieren.«

Unter dem Einfluß solcher Gedanken schrieb er an Frau Delmare. Sein Brief atmete Liebe, Schmerz und vor allem Wahrheit. Ach, welch ein bewegliches Rohr ist die Wahrheit, daß sie sich unter jedem Hauche beugt!

Raymon hatte jedoch die Klugheit, sich den Schein zu geben, als wenn er Indianas Rückkehr als ein ungehofftes Glück betrachte. Er schrieb ihr die letzten Worte seiner Mutter, schilderte ihr die Verzweiflung, in die ihn dieser Verlust gestürzt hätte, die Pein der Einsamkeit. Er entwarf ein düsteres Bild von der Revolution, welche an Frankreichs Horizont aufzog, tat zwar, als ob es ihn tröste, die kommenden Schläge allein tragen zu müssen, gab aber Indiana zu verstehen, daß der Augenblick für sie erschienen sei, jene begeisterte Treue, jene aufopfernde Hingebung, deren sie sich gerühmt hätte, durch die Tat zu beweisen. Raymon beklagte sein Geschick und sagte, er habe einst das Glück in seiner Hand gehalten und dennoch die Selbstverleugnung besessen, sich zu einer ewigen Einsamkeit zu verdammen. »Sage mir nicht mehr,« fügte er hinzu, »daß Du mich geliebt hast, denn ich wäre dann schwach genug, meinen Mut zu verwünschen. Sage mir, daß Du glücklich bist und mich vergissest, damit ich nicht in Versuchung komme, Dich den Banden zu entreißen, die uns trennen.«

Mit einem Worte, er nannte sich unglücklich, und das bedeutete nicht mehr und nicht weniger, als ob er Indiana gesagt hätte, daß er sie erwarte.



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