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Als Sir Ralph von der Jagd zurückkam und nach seiner Gewohnheit Indianas Puls befühlte, bemerkte Raymon, der ihn aufmerksam beobachtete, einen unmerklichen Schimmer von freudiger Überraschung in seinen Zügen. Als begegneten sich die beiden Männer in dem gleichen Gedanken, trafen sich ihre Blicke, und unwillkürlich senkte Raymon sein Auge zu Boden. Während des ganzen übrigen Tages lag in dem Gesichte des Barons, wenn er auf Frau Delmare sah, ein Etwas, das man Teilnahme oder Besorgnis hätte nennen können, wenn seine Züge ein bestimmtes Gefühl auszudrücken vermocht hätten, vergeblich bemühte sich Raymon, zu ergründen, was es war; Ralph war undurchdringlich.
Plötzlich, als er einige Schritte hinter Frau Delmares Stuhl stand, hörte er Ralph halbleise zu ihr sagen:
»Es würde dir guttun, Cousine, wenn du morgen ein wenig ausrittest.«
»Aber du weißt ja, daß ich kein Pferd hier habe,« antwortete sie.
»Wir wollen schon eins für dich finden, willst du uns dann zur Jagd begleiten?«
Frau Delmare brachte verschiedene Ausreden vor, um sich davon loszumachen. Raymon schloß hieraus, daß sie vorzog, bei ihm zu bleiben, glaubte aber auch zu bemerken, daß es ihrem Cousin darum zu tun war, dieses Beieinandersein zu hintertreiben. Er trat näher und vereinigte seine Bitten mit denen Sir Ralphs. Erbittert gegen diesen lästigen Ehrenhüter Indianas, nahm er sich vor, ihm dieses Amt schwer genug zu machen.
»Wenn Sie einwilligen, der Jagd beizuwohnen,« sagte er zu Indiana, »so werden Sie mich ermutigen, Ihrem Beispiel zu folgen. Ich liebe die Jagd nicht sehr, aber das Glück, Ihr Begleiter zu sein . . .«
»So will ich also mitreiten,« antwortete Indiana unbedacht.
Sie wechselte mit Raymon einen Blick des Einverständnisses, den aber Ralph bemerkte, und während des ganzen Abends konnte Raymon sie weder ansehen noch ein Wort an sie richten, ohne der Beobachtung Ralphs zu begegnen.
Am folgenden Morgen sah Raymon das feierliche Gesicht seines Wirtes in seinem Zimmer erscheinen. Ralphs Benehmen war noch steifer und kühler als sonst und Raymon hoffte schon auf eine Herausforderung. Es handelte sich jedoch nur um ein Reitpferd, welches Raymon nach Bellerive gebracht hatte. Ralph hatte erfahren, daß er es verkaufen wollte, und in fünf Minuten war der Kauf geschlossen. Raymon kam plötzlich auf den Gedanken, es sei nur darauf abgesehen, ihn zu verhindern, die Jagd mitzumachen, und erklärte mit ziemlich dürren Worten, daß er der Jagd zu Fuße nicht zu folgen pflege.
»Mein Herr,« antwortete Ralph, »ich weiß, was ich meinen Gästen schuldig bin.«
Und er entfernte sich.
Als Raymon in die Vorhalle des Hauses herabkam, sah er Frau Delmare im Reitkleide, fröhlich mit Ophelia spielend, welche ihr batistnes Taschentuch zerriß. Auf ihren Wangen war eine leichte Purpurfarbe wieder zurückgekehrt, ihre Augen hatten den lange verlorenen Glanz wiedergewonnen. Sie war schon wieder hübsch geworden. Die Locken ihres schwarzen Haares flossen unter ihrem kleinen Hute hervor, der ihrem Gesichte reizend stand, und das von oben bis unten zugeknöpfte Tuchkleid zeigte ihren feinen, schlanken Wuchs.
Von ihrer Anmut entzückt, sagte Raymon ihr einige artige Komplimente.
»Sie beunruhigten sich über meine Gesundheit,« erwiderte sie ganz leise; »sehen Sie nicht, daß ich leben will?«
Er konnte ihr nur mit einem Blicke des Glückes antworten. Sir Ralph selbst führte seiner Cousine das Pferd vor, welches er soeben von Raymon gekauft hatte.
»Wie?« rief Frau von Delmare, »ist das nicht das Pferd, das ich gestern Herrn von Ramière im Schloßhofe reiten sah? Er hat also die Güte, es mir zu leihen?«
»Hast du nicht die Schönheit dieses Tieres bewundert?« sagte Sir Ralph. »Von heut an gehört es dir.«
»Du wirst witzig, lieber Vetter. Wem soll ich danken, Herrn von Ramière, der mir sein Pferd leiht, oder dir, der ihn vielleicht darum gebeten hat?«
»Du mußt deinem Vetter danken,« bemerkte Herr Delmare; »er hat das Pferd für dich gekauft und macht es dir zum Geschenk.«
»Ist es wahr, guter Ralph?« fragte Frau Delmare, indem sie das schöne Tier mit der Freude eines kleinen Mädchens liebkoste, welches den ersten Schmuck erhält.
»Waren wir nicht übereingekommen, daß ich dir ein Pferd geben sollte für die Arbeit, an der du für mich stickst?«
Indiana warf sich Sir Ralph um den Hals und schwang sich dann auf das Pferd, welches sie mit Keckheit paradieren ließ.
Raymon empfand ein heftiges Gefühl des Unmuts, als er von dem Austausch dieser vertraulichen Zärtlichkeit Zeuge sein mußte.
»Wie bin ich glücklich!« sagte Indiana zu Raymon, als sie in der Schloßallee an seiner Seite ritt. »Es scheint, der gute Ralph hat erraten, welches Geschenk mir das liebste sein könnte. Und Sie, Raymon, sind Sie nicht auch glücklich, das Pferd, das Sie ritten, in meinem Besitz zu sehen?«
»Nein, gnädige Frau, ich bin nicht glücklich,« antwortete Raymon, »denn die untergeordnete Rolle des Kaufmanns zu spielen, um einem anderen Gelegenheit zu geben, sich Ihnen angenehm zu machen, ist eine Demütigung, wenn ich annehmen müßte, daß dies die Absicht Ihres Vetters war, so würde ich mich rächen.«
»O pfui! sehen Sie, jetzt bin ich mit Ihnen schon nicht zufrieden; ich sehe, an diesem Gefühle des Unmuts gegen meinen Vetter hat verletzte Eigenliebe einen sehr großen Anteil.«
»Ich gestehe,« erwiderte Raymon, »ich habe fürchterlich gelitten, als ich sehen mußte, welche Rechte sich dieser Mensch anzumaßen scheint.«
»Anmaßen, er, Raymon? Sie wissen also nicht, welches heilige Dankgefühl uns an ihn fesselt! Sie wissen nicht, daß seine Mutter die Schwester der meinigen war, daß er, als Knabe, meine erste Kindheit beschützt hat, daß er meine einzige Stütze, mein einziger Lehrer, mein einziger Gefährte auf der Insel Bourbon war, daß er mit einem Worte das einzige Wesen ist, welches mich liebt und an meinem Leben Anteil nimmt? Aber fürchten Sie nicht, Raymon, daß ich Sie je bitten werde, mich auf Ralphs Weise zu lieben.«
»Erklären Sie mir doch diesen Menschen, ich bitte; denn wer könnte sein verschlossenes Wesen durchdringen?«
»Ich will Ihnen einiges aus seinem Leben erzählen, was Ihnen seinen Charakter erklären wird,« antwortete Indiana. »Er hatte das Unglück, einen Bruder zu besitzen, den seine Eltern ihm offen vorzogen; dieser Bruder hatte alle die glänzenden Eigenschaften, die Ralph fehlen. Er faßte leicht, sprühte von Geist, war lebhaft, einschmeichelnd, warm, liebenswürdig. Ralph dagegen war linkisch, trübsinnig, liebte die Einsamkeit, lernte langsam. Als er sich von seinen Eltern gegen den glücklicher veranlagten älteren Bruder zurückgesetzt und sogar gedemütigt sah, wurde sein Charakter schon in früher Jugend düster und träumerisch, eine unbewegliche Schüchternheit lähmte alle seine Fähigkeiten. Man hatte ihn dahingebracht, sich selbst zu verachten und zu hassen. Er verzweifelte am Leben, und hat mir oft erzählt, daß er in seinem fünfzehnten Jahre eines Tages die Wohnung seiner Eltern mit dem festen Entschlusse verlassen hätte, sich ins Meer zu stürzen; aber während er bereits auf der Klippe stand, sah er mich an der Hand meiner Amme, einer Negerin, auf sich zukommen. Ich war damals fünf Jahre alt. Ich war hübsch, wie man sagt, und fühlte gegen meinen schweigsamen Vetter eine Vorliebe, die niemand teilte. Beide unglücklich, verstanden wir uns bereits. Er lehrte mich seine Muttersprache und ich stammelte ihm in der meinigen vor. Als ich mich an seinen Hals warf, bemerkte ich, daß er weinte, und ohne zu wissen, warum, weinte ich auch. Dann drückte er mich an sein Herz und schwor, wie er mir seitdem erzählt hat, für mich, das verlassene Kind, zu leben und zu sterben. Ich war also das erste und einzige Band in seinem traurigen Dasein. Seit diesem Tage trennten wir uns fast nie mehr; wir brachten unsere Tage frei und froh in der Einsamkeit der Gebirge zu. Ralphs älterer Bruder, Edmund Brown, starb mit zwanzig Jahren; seine Mutter folgte ihm aus Gram und sein Vater war untröstlich. Gern hätte Ralph seinen Schmerz gemildert, aber die Kälte, mit welcher diese Versuche zurückgewiesen wurden, vermehrte nur seine natürliche Schüchternheit. Ganze Stunden brachte er düster und schweigend bei diesem trostlosen Greise zu, ohne zu wagen, ein liebevolles Wort an ihn zu richten, so sehr fürchtete er, ihn durch einen ungeschickt angebrachten Beweis von Zärtlichkeit zu erzürnen. Der arme Ralph war seit Edmunds Tode unglücklicher denn je, er wurde nach wie vor verkannt. Ich war sein einziger Trost.«
»Ich kann ihn nicht beklagen, was Sie auch sagen mögen,« unterbrach sie Raymon; »aber ein Punkt in seinem und Ihrem Leben bleibt mir unerklärlich: warum hat er Sie nicht geheiratet?«
»Als ich im heiratsfähigen Alter stand, war Ralph zehn Jahre älter als ich, und das ist ein ungeheurer Abstand in unserem Klima, wo die Jugend der Frauen so schnell verblüht. Auch war Ralph schon verheiratet.«
»Sir Ralph ist Witwer? Ich habe nie von seiner Frau sprechen hören.«
»Sprechen Sie nie mit ihm davon. Sie war jung, reich und schön, aber sie hatte Edmund geliebt und war ihm bestimmt gewesen. Aus Rücksichten auf ihre Familie sah sie sich gezwungen, Ralph ihre Hand zu reichen, ohne daß sie sich Mühe gegeben hätte, ihm ihre Abneigung zu verbergen. Er mußte mit ihr nach England gehen, und als er nach ihrem Tode auf die Insel Bourbon zurückkam, war ich mit Herrn Delmare verheiratet und im Begriff, nach Europa abzureisen. Ralph versuchte allein zu leben; aber die Einsamkeit verschlimmerte sein Übel. Er verkaufte seine Kaffeepflanzungen und ließ sich in Frankreich nieder. Die Art, wie er sich meinem Gatten vorstellte, würde mich zum Lachen gereizt haben, wenn die Anhänglichkeit des guten Ralph mich nicht gerührt hätte.«
›Ich liebe Ihre Frau,‹ sagte er mit aller Offenherzigkeit zu Herrn Delmare, ›ich habe sie erzogen; ich betrachte sie wie meine Schwester, und mehr noch, wie meine Tochter. Erlauben Sie, daß ich mich in Ihre Nähe ansiedle und wir drei unser Leben zusammen zubringen? Man sagt, Sie seien ein wenig eifersüchtig auf Ihre Frau, man rühmt Sie aber auch als einen Mann von Ehre und Rechtlichkeit. Wenn ich Ihnen mein Wort gebe, daß ich sie niemals geliebt habe und sie niemals lieben werde, so brauchen Sie ebensowenig besorgt zu sein, als wäre ich wirklich Ihr Schwager, wollen Sie mir glauben?‹«
Herr Delmare, welcher viel auf seinen Ruf militärischer Rechtlichkeit hielt, nahm diese freimütige Erklärung mit scheinbarem Vertrauen auf; doch bedurfte er einer mehrmonatlichen aufmerksamen Prüfung, ehe sich dieses Vertrauen befestigte. »Jetzt ist es unerschütterlich.«
»Sie sind also fest überzeugt, Indiana,« sagte Raymon, »daß Sir Ralph sich mit jener Versicherung selbst nicht ein wenig betrügt?«
»Sein Herz ist tot durch seine vielen Leiden,« antwortete Indiana. »Ralph liebt nichts mehr, um sich den Schmerz des Verlustes zu ersparen. Seine Freundschaft für mich ist nur noch alte Gewohnheit. Jetzt trage ich von ganzem Herzen die Schuld der Vergangenheit ab und suche sein Leben zu verschönern und zu erheitern. Ich bin ihm notwendig, denn ich bin die einzige, die ihn liebt; seit Herr Delmare sich an ihn angeschlossen hat, liebt er diesen fast ebenso wie mich. So mutig und nachdrücklich er mich einst gegen die Tyrannei meines Vaters beschützte, ein so treuer Beschützer ist er mir meinem Gatten gegenüber, mit dem er sich nicht entzweien will. Er fragt nicht, ob ich unglücklich bin, es genügt ihm, mich am Leben zu sehen. Er hat so oft gehört, daß sein Herz gefühllos wäre, daß er jetzt selbst davon überzeugt ist. Er sucht und findet das Glück in der Ruhe, in der Bequemlichkeit des Lebens. Er kümmert sich nicht um fremdes Leid, kurz, Ralph ist ein Egoist.«
»Nun, um so besser!« sagte Raymon, »ich fürchte ihn nicht mehr; ich will ihn sogar lieben, wenn Sie es wünschen.«
»Ja, lieben Sie ihn, Raymon. Er wird empfänglich dafür sein; wir aber wollen uns nie mit der Frage quälen, warum man uns liebt, sondern nur, wie man uns liebt. Wohl dem, der geliebt werden kann, gleichviel aus welchem Beweggrund.«
»Was Sie sagen, Indiana,« erwiderte Raymon, indem er ihren schlanken, feinen Körper umfaßte, »ist die Klage eines einsamen, traurigen Herzens, aber an mir sollen Sie das Wie und das Warum kennen lernen.«
»Um mich glücklich zu machen, nicht wahr?« fragte sie mit einem leidenschaftlichen Blicke.
»Um dir mein Leben zu geben!« beteuerte Raymon, indem er Indianas wallende Haare mit seinen Lippen berührte.
Das nahe tönende Signal eines Jagdhorns warnte beide, auf ihrer Hut zu sein; es kam von Sir Ralph. Vielleicht hatte er sie beobachtet, – vielleicht auch nicht.