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Indiana Delmare und Sir Ralph Brown beobachteten, als sie allein waren, dieselbe kalte Gleichgültigkeit wie vorher. Endlich brach sie das Stillschweigen und sagte im Tone sanften Vorwurfs:
»Es war doch nicht recht, lieber Ralph; ich hatte dich gebeten, Herrn Delmare nicht zu verraten, daß ich mich leidend fühle. Er ist der letzte, der von meiner Krankheit wissen soll.«
»Ich begreife dich nicht, Liebe,« antwortete Sir Ralph; »du hast unrecht, dich so gegen den Oberst zu erbittern; er ist ein Mann von Ehre.«
»Und wer sagt denn das Gegenteil, Sir Ralph? . . .«
»Ei, du selbst, ohne es zu wissen. Deine Traurigkeit, dein krankhafter Zustand und, wie er selbst bemerkt, deine roten Augen sagen jedermann, daß du nicht glücklich bist . . .«
»Schweigen Sie, Sir Ralph, Ich habe Ihnen nicht erlaubt, so viel Dinge zu wissen.«
»Nun ja, ich bin dir nicht fein genug, ich kenne die Subtilitäten deiner Sprache nicht, ich weiß nicht, was man in englischer oder französischer Sprache den Frauen sagen muß, um sie zu trösten. Ein anderer hätte die Kunst besser verstanden dein Vertrauen zu gewinnen, und vielleicht wäre es ihm gelungen, dein Herz, das gegen mich kalt und verschlossen bleibt, zu beruhigen. Ich mache nicht zum erstenmal die Erfahrung, wie in Frankreich die Worte eine größere Herrschaft haben als die Gedanken. Besonders die Frauen . . .«
»O, du hegst eine tiefe Verachtung gegen die Frauen, lieber Ralph. Ich stehe hier allein gegen zwei und muß mich also drein ergeben, niemals recht zu haben.«
»Gib uns unrecht, liebe Cousine, indem du deine frühere Heiterkeit, Frische und Lebhaftigkeit wieder annimmst. Denke an die Insel Bourbon und unsere köstliche Einsiedelei in Bernika, an unsere heitere Kindheit und unsere Freundschaft, die so alt ist, wie du . . .«
»Ich denke auch an meinen Vater . . .,« sagte Indiana mit schmerzlichem Nachdruck, indem sie Ralphs Hand ergriff.
Sie versanken in ein tiefes Stillschweigen.
»Indiana,« begann Ralph nach einer Pause, »was fehlt dir? Du lebst in einem Wohlstande, der dem Reichtum vorzuziehen ist, hast einen trefflichen Gatten, der dich vom ganzen Herzen liebt, und, ich wage es zu sagen, einen aufrichtigen, ergebenen Freund.«
Frau Delmare drückte leise Ralphs Hand, änderte aber ihre Stellung nicht; ihr Kopf blieb auf ihren Busen geneigt und ihr feuchtes Auge auf die Kohlenglut im Kamin gerichtet.
»Deine Traurigkeit, liebe Freundin,« fuhr Ralph fort, »ist ein krankhafter Zustand. Wer von uns kann dem Trübsinn, dem Spleen entgehen! Blicke um dich und du wirst viele Leute finden, die dich mit Recht beneiden. So ist aber der Mensch, immer richtet sich sein Sehnen auf das, was er nicht hat.«
Sir Ralph befand sich hier nicht in seinem Elemente. Es fehlte ihm weder an Verstand, noch an Bildung, aber eine Frau zu trösten, war eine Aufgabe, die seine Kräfte überstieg. Er begriff den Kummer anderer so wenig und fühlte seine Ungeschicklichkeit so sehr, daß er es selten wagte, eine Pflicht der Freundschaft zu erfüllen, die er für die peinlichste hielt.
Während wieder Schweigen herrschte, vernahm man nur noch die tausend leisen Stimmen, welche in dem brennenden Holze knisterten, das Pfeifen des Windes und das Rauschen des gegen die Fenster schlagenden Regens. Dieser Abend war einer der trübsten, welche Frau Delmare in ihrem kleinen Schloß der Brie zugebracht hatte. Auch lastete eine unbestimmte Ahnung auf ihrem, jedem Eindruck leicht zugänglichen Gemüte. Sie besaß allen Aberglauben einer nervösen Kreolin; gewisse Stimmen der Natur, das eigentümliche Licht des Mondes ließen sie an ein bevorstehendes Unglück glauben, und die Nacht hatte für diese träumerische und melancholische Frau eine Sprache voll Geheimnisse und Visionen, welche sie je nach ihren augenblicklichen Sorgen und Körperleiden zu deuten pflegte.
»Du wirst mir wieder sagen, ich sei töricht,« bemerkte sie, indem sie ihre Hand, welche Sir Ralph noch immer hielt, zurückzog; »aber es droht jemandem . . . wahrscheinlich mir . . . eine Gefahr; ich fühle mich aufgeregt, als wenn mir eine neue Gestaltung meines Schicksals bevorstände . . . Ich fürchte mich,« fügte sie schaudernd hinzu.
Und ihre Lippen wurden so bleich wie ihre Wangen. Erschrocken über ihre tötliche Blässe, zog Sir Ralph die Klingel, um Hilfe herbeizurufen. Niemand kam, und da Indiana immer schwächer wurde, legte er sie auf eine Chaise longue, eilte durch alle Zimmer, Wasser und flüchtige Salze suchend, ohne sie zu finden, zerriß alle Klingeln und rang die Hände vor Ungeduld und Unmut über sich selbst.
Endlich kam er auf den Gedanken, die Glastür, die nach den Park führte, zu öffnen, und nach Lelièvre und nach Indianas Kammermädchen, der Kreolin Noun, zu rufen.
Einige Augenblicke nachher kam Noun aus einer der finstersten Alleen des Parkes hervor und fragte lebhaft, ob Frau Delmare sich kränker als gewöhnlich fühle.
»Ja, sehr krank,« antwortete Herr Brown.
Beide traten in den Salon und eilten der ohnmächtig gewordenen Frau Delmare zu Hilfe.
Noun war ihre Milchschwester und ist gemeinsam mit ihr erzogen worden. Beide liebten sich zärtlich. Noun, groß, stark, strahlend von Gesundheit, lebhaft, flüchtig und voll des heißen, leidenschaftlichen Blutes der Kreolen, übertraf an glänzender Schönheit den bleichen, zarten Reiz Indianas, die gegenseitige große Anhänglichkeit ließ jedoch ein Gefühl weiblicher Rivalität zwischen ihnen nicht aufkommen.
Als Frau Delmare wieder zu sich kam, fiel ihr die Aufregung in den Zügen ihres Kammermädchens, die Unordnung und Nässe ihres Haares, die Unruhe, die sich in ihrem ganzen Wesen zeigte, sofort auf.
»Beruhige dich doch, mein armes Kind,« sagte Indiana freundlich.
Noun drückte die Hand ihrer Herrin an ihre Lippen und frug in einer seltsamen Angst und Verstörtheit:
»Ach Gott, gnädige Frau, wissen Sie, warum Herr Delmare im Park ist?«
»Warum?« wiederholte Indiana, »wenn ich mich recht erinnere, so wollte er –«
»Herr Delmare behauptet, es seien Diebe im Park,« unterbrach sie Noun mit bebender Stimme; »er macht mit Lelièvre die Runde, beide mit Flinten bewaffnet . . .«
»Nun?« sagte Indiana, welche irgend eine Schreckensnachricht zu erwarten schien.
»Nun,« erwiderte Noun, indem sie in höchster Aufregung die Hände rang, »ist der Gedanke nicht entsetzlich, daß sie einen Menschen töten wollen?«
»Töten?« rief Frau Delmare auffahrend.
»Ja, ja, sie werden ihn töten!« sagte Noun mit unterdrücktem Schluchzen. Sie ging an das Fenster des Salons und von da wieder an die Chaise longue ihrer Herrin zurück und lauschte mit angstvoller Miene auf das geringste Geräusch.
»Aber hast du denn ganz den Verstand verloren?« rief Sir Ralph unwillig. »Siehst du nicht, daß du deine Herrin erschreckst?« Fast in demselben Augenblicke machte der Knall eines Flintenschusses die Fensterscheiben erklirren. Noun sank auf ihre Knie.
»Was für erbärmliche unnötige Weiberfurcht!« schalt Sir Ralph, »man wird ein Kaninchen geschossen haben.«
»Nein, Ralph,« entgegnete Frau Delmare, mit festem Schritt nach der Tür gehend, »ich sage dir, es ist Menschenblut vergossen worden.«
Noun stieß einen durchdringenden Schrei aus.
Jetzt hörte man im Park Lelièvres Stimme. »Gut gezielt, Herr Oberst!« rief er. »Der Räuber liegt auf der Erde! . . .«
Sir Ralph begann nun ebenfalls unruhig zu werden. Er folgte Frau Delmare, und einige Augenblicke nachher brachte man einen blutenden Menschen ins Haus, der kein Lebenszeichen gab.
»Nicht so viel Lärm und Geschrei!« rief der Oberst in einem Tone, der fast lustig klang, seinen erschreckten Dienern zu, welche sich um den Verwundeten drängten; »meine Flinte war nur mit Salz geladen. Ich glaube sogar, ich habe ihn nicht einmal getroffen; er ist aus Schreck heruntergefallen.«
»Und dieses Blut,« fragte Frau Delmare vorwurfsvoll, »fließt es auch bloß aus Schreck?« Mit einer Entschlossenheit, die ihr niemand zugetraut hätte, trat sie zu dem Verwundeten und leuchtete mit einem Lichte in sein Gesicht. Statt eines Strolches, wie man erwartet hatte, erblickte man einen jungen Mann mit edlen Zügen, sorgfältig, wie zur Jagd gekleidet. Eine Hand war nur leicht verwundet, aber seine zerrissenen Kleider und seine Ohnmacht ließen auf einen schweren Fall schließen.
»Kein Wunder!« sagte Lelièvre, »er ist ja zwanzig Fuß hoch heruntergefallen. Er ritt gerade auf der Mauerkante, als der Oberst auf ihn schoß. Infolge des Schmerzes ließ er los. Ich habe ihn selbst herunterfallen sehen.«
»Wenn dieser Mensch tot ist, so ist es meine Schuld nicht,« sagte der Oberst, »untersuche einmal die Hand, Indiana, und wenn du ein einziges Schrotkorn darin findest . . .«
»Ich glaube dir gern,« antwortete Indiana, welche mit einer Kaltblütigkeit und einer moralischen Kraft, deren niemand sie für fähig gehalten hätte, aufmerksam den Puls und die Halsadern untersuchte. »Auch ist er nicht tot,« fügte sie hinzu, »sondern bedarf schleuniger Hilfe.«
Darauf ließ sie den Verwundeten in den Billardsaal bringen, welcher zunächst lag. Auf einige Bänke breitete man eine Matratze aus, und, von ihren Frauen unterstützt, verband Indiana die verwundete Hand, während Sir Ralph, welcher chirurgische Kenntnisse besaß, einen reichlichen Aderlaß vornahm.
Der Oberst war unter dem Hauseingang bei seinen Dienern geblieben. Er war jetzt ganz zahm geworden, wie immer, sobald er seinem Zorn genug getan hatte. Jeder der Diener teilte seine Ansicht, daß es doch höchst verdächtig sei, wenn jemand sich des nachts über die Mauern einschleicht. Der Gärtner zog seinen Herrn leise beiseite und flüsterte ihm zu, der Eindringling sehe aufs Haar einem jungen Gutsbesitzer ähnlich, der erst seit kurzem in der Nachbarschaft wohne, und den er drei Tage vorher bei dem ländlichen Feste von Rubelles mit Fräulein Noun habe sprechen sehen.
Diese Mitteilung gab Herrn Delmares Ideen eine andere Richtung; seine breite, glänzende und kahle Stirn wurde von einer starken Ader durchfurcht, deren Anschwellen stets der Vorläufer eines Sturmes war.
»Teufel!« sagte er zu sich selbst, indem er die Fäuste ballte, »meine Frau zeigt für diesen Gelbschnabel, der sich bei mir über die Mauern einschleicht, eine ganz auffallende Teilnahme. Dahinter muß ich kommen!«
Bleich und zitternd vor Zorn trat er in den Billardsaal.