George Sand
Indiana
George Sand

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Zehntes Kapitel.

Als Raymon im Hofe von Lagny aus seinem Tilbury stieg, fühlte er seinen Mut sinken. Er sollte unter dieses Dach treten, das ihm so entsetzliche Erinnerungen zurückrief!

Der erste, der ihm entgegentrat, war Sir Ralph Brown, und als er ihn in seinem Jagdkleide, von seinen Hunden umgeben und ernst wie ein schottischer Laird, auf sich zukommen sah, glaubte er das Bildnis zu erblicken, welches er in dem Zimmer der Frau Delmare gefunden hatte. Wenige Augenblicke nachher kam der Oberst und man trug das Frühstück auf, ohne daß Indiana erschienen wäre.

»Frau Delmare will also durchaus nicht herunterkommen?« fragte der Oberst sein Faktotum Lelièvre mit einiger Bitterkeit.

»Die gnädige Frau hat eine schlimme Nacht gehabt,« antwortete Lelièvre, »und Fräulein Noun . . . zum Teufel! der Name kommt mir nicht aus dem Gedächtnis! . . . Fräulein Fanny, will ich sagen, hat mir versichert, daß die gnädige Frau jetzt schliefe.«

»Wie kommt es denn, daß ich sie eben am Fenster gesehen habe? Fanny hat sich getäuscht. Geh und sag' Frau Delmare, das Frühstück sei aufgetragen . . .; oder vielmehr, Sir Ralph, lieber Vetter, wollten Sie wohl selbst sehen, ob Ihre Cousine ernstlich krank ist?«

Hatte der unglückliche Name, welcher dem Diener aus Gewohnheit entschlüpft war, Raymons ganzes Wesen schmerzlich berührt, so mischte der Auftrag des Obersten diesem Gefühl einen sonderbaren Zusatz von Eifersucht bei.

Dieser Engländer hat hier Rechte, dachte er, welche der Gatte selbst in Anspruch zu nehmen nicht zu wagen scheint.

Als wenn Herr Delmare Raymons Gedanken erraten hätte, sagte er:

»Das darf Sie nicht wundern. Herr Brown ist der Arzt des Hauses und dann ist er unser Vetter, dem wir von Herzen zugetan sind.«

Ralph blieb wohl zehn Minuten aus. Raymon war zerstreut und unruhig. Er aß nicht und sah häufig nach der Tür. Endlich erschien der Engländer wieder.

»Indiana ist wirklich nicht wohl,« berichtete er, »ich habe ihr geraten, sich wieder niederzulegen.«

Ruhig setzte er sich an den Tisch und aß mit gesundem Appetit. Der Oberst tat desgleichen.

»Das ist sicher nur ein Vorwand, mit mir nicht zusammentreffen zu müssen,« dachte Raymon.

Das Hindernis steigerte seine Willenskraft. Nouns Bild verschwand und bald schwebte seiner Phantasie nur noch die graziöse leichte Gestalt Indianas vor. Im Salon setzte er sich an ihren Stickrahmen und betrachtete, während er das Gespräch fortführte und den Zerstreuten spielte, die Blumen ihrer Stickerei und berührte die Seidenrollen, welche durch ihre kleinen Finger geglitten waren. Schon in Indianas Zimmer hatte er diese Arbeit gesehen; damals war sie kaum begonnen, jetzt war sie mit Blumen bedeckt, die unter dem Hauche des Fiebers entstanden und von ihren täglichen Tränen befeuchtet waren. Nur mit Mühe vermochte Raymon seine eigenen Tränen zurückzuhalten.

Die Stimme des Obersten erweckte ihn plötzlich.

»Nun, mein geehrter Herr Nachbar,« sagte er, »es ist Zeit, daß ich mein Versprechen halte. Die Fabrik ist in vollem Gange und alle Arbeiter sind in Tätigkeit. Hier ist Bleistift und Papier, damit Sie Ihre Notizen machen können.«

Raymon folgte dem Obersten, besah die Fabrik mit aufmerksamem Blicke, hörte mit unerschöpflicher Geduld die endlosen Erklärungen des Herrn Delmare an, ging in einige seiner Ideen ein und bestritt andere, während doch seine Gedanken auf Frau Delmare gerichtet waren. Nach Besichtigung des inneren Fabriksbetriebes kam das Gespräch auf die Kraft des Wassers. Sie traten hinaus und kletterten auf die Schleuse. Der Werkmeister mußte die Schaufeln stellen und man sprach über den wechselnden Stand der Wasserhöhe. Herr Delmare schätzte den Höchststand auf fünfzehn Fuß.

»Um Vergebung, Herr Oberst,« sagte der Werkmeister, »wir haben dieses Jahr schon siebzehn Fuß gehabt.«

»Wann war das? Sie täuschen sich,« antwortete der Oberst.

»Das war den Tag vor Ihrer Rückkehr aus Belgien, Herr Oberst, in der Nacht, wo Fräulein Noun ertrunken gefunden wurde. Der beste Beweis ist, daß der Leichnam über den Damm gehen konnte und erst hier angehalten wurde, an der Stelle, wo der Herr steht.«

Der Werkmeister zeigte auf die Stelle, wo Raymon stand. Der Unglückliche wurde bleich wie der Tod. Er warf einen Blick auf das zu seinen Füßen dahinfließende Wasser und glaubte Nouns Leiche darin zu erblicken. Ein Schwindel ergriff ihn und er wäre in den Fluß gefallen, wenn Ralph ihn nicht am Arme weggezogen hätte.

»Gut,« sagte der Oberst, der dies nicht bemerkt hatte; »aber das war ein außerordentlicher Fall und die mittlere Höhe des Wassers . . . Aber was Teufel, haben Sie beide?« unterbrach er sich plötzlich.

»Nichts,« antwortete Sir Ralph; »als ich mich umwandte, trat ich Herrn von Ramière auf den Fuß; ich muß ihm sehr weh getan haben.«

Diese Antwort wurde in einem so ruhigen und natürlichen Tone gegeben, daß Raymon sich einredete, Sir Ralph glaube es selbst.

Einige Stunden später verließ Raymon Lagny, ohne Frau Delmare gesehen zu haben. Das war mehr, als er hoffte; er hatte gefürchtet, sie werde ihm gleichgültig und ruhig begegnen.

Er kam wieder, ohne jedoch glücklicher zu sein. Diesmal war der Oberst allein. Raymon tat alles, um sich in dessen Gunst zu befestigen. Er rühmte Napoleon, den er nicht liebte, beklagte die Gleichgültigkeit der Regierung, welche die berühmten Trümmer der großen Armee vernachlässige, und brachte von seinen politischen Glaubensartikeln nur diejenigen zur Sprache, welche Herrn Delmare schmeicheln konnten. Er nahm sogar einen ganz anderen Charakter an, kehrte den Lebemann, den leichten Kameraden, sogar den sorglosen Taugenichts hervor.

»Nun,« sagte der Oberst, als er ihn fortgehen sah, »der wird meine Frau nie erobern!«

Frau von Ramière war damals in Cercy; Raymon rühmte ihr Indianas Anmut und Geist und wußte ihr geschickt den Wunsch einzuflößen, der jungen Frau einen Besuch zu machen. Eine Woche später begleitete sie in der Tat ihren Sohn nach Lagny.

»Jetzt kann mich Indiana nicht mehr vermeiden,« triumphierte Raymon.

Allerdings hatte er recht. Als Indiana aus dem Wagen eine bejahrte Frau steigen sah, die sie nicht kannte, eilte sie ihr auf der Freitreppe des Schlosses entgegen. Sie nahm Frau von Ramière achtungsvoll und gütig auf; aber ihre Kälte gegen Raymon war so eisig, daß er sie nicht lange zu ertragen vermochte. Sein Stolz empörte sich, denn an Verachtung war er nicht gewöhnt. Da spielte er denn die Rolle eines Mannes, der gleichgültig gegen eine Laune ist, er bat um die Erlaubnis, Herrn Delmare im Park aufsuchen zu dürfen, und ließ die beiden Frauen allein.

Indiana konnte dem Reize nicht widerstehen, den ein überlegener Geist, verbunden mit einem edlen und großmütigen Herzen, auch über die geringfügigsten Beziehungen zu verbreiten weiß, und wurde warm und herzlich in Frau von Ramières Gegenwart. Nie hatte sie eine Mutter gekannt, Frau von Carvajal, ihre Tante, konnte deren Stelle nicht ersetzen; um so wohltuender empfand Indiana den sanften Zauber, den Raymons Mutter auf sie ausübte.

Bei der Abfahrt sah Raymon, wie Indiana die Hand seiner Mutter an ihre Lippen drückte. Die arme Indiana fühlte das Bedürfnis, sich an jemand anzuschließen. Alles, was ihr Hoffnung auf Teilnahme und Schutz in ihrem einsamen und unglücklichen Leben bot, wurde von ihr mit Entzücken erfaßt.

»Ich will mich in die Arme dieser trefflichen Frau werfen,« dachte sie, »und, wenn es nötig ist, ihr alles bekennen. Ich will sie beschwören, mich vor ihrem Sohne zu retten, und ihre Klugheit wird über ihn und über mich wachen.«

Das war natürlich Raymons Gedanke nicht.

»Die Güte und Anmut meiner teuren Mutter bewirken Wunder,« sagte er sich. »Was verdanke ich ihr nicht schon! Meine Erziehung, meine Erfolge im Leben. Es fehlt mir nur noch, daß ich ihr das Glück verdanke, die Liebe einer Frau, wie Indiana, zu gewinnen.«

Bald nachher erhielt Raymon eine Einladung, drei Tage in Bellerive zuzubringen, dem prächtigen Landsitze, welchen Sir Ralph Brown zwischen Cercy und Lagny besaß. Es sollte mit Hilfe der besten Schützen der Umgegend Jagd auf Wild gemacht werden, welches den Wald und die Gärten des Besitzers verwüstete. Raymon liebte weder Sir Ralph noch die Jagd, aber bei großen Gelegenheiten machte Frau Delmare im Hause ihres Vetters die Honneurs, und die Hoffnung, sie dort zu treffen, bestimmte Raymon, die Einladung anzunehmen.

Sir Ralph rechnete jedoch diesmal nicht auf seine Cousine; sie hatte sich mit dem schlechten Zustand ihrer Gesundheit entschuldigt. Aber der Oberst ließ das nicht gelten.

»Du willst wohl der ganzen Umgegend glauben machen, daß ich dich unter Schloß und Riegel halte?« warf er ihr vor. »Du läßt mich für einen eifersüchtigen Gatten gelten; das ist eine lächerliche Rolle, die ich nicht länger spielen mag. Ziemt es dir, deinem Vetter einen so geringen Dienst zu verweigern, da wir nur seiner Freundschaft unser Vermögen und das Gedeihen unserer Unternehmungen verdanken? Aber ich weiß wohl, der arme Teufel ist dir nicht sentimental genug, du siehst in ihm einen Egoisten, weil er die Romane nicht liebt und den Tod eines Hundes nicht beweint. Übrigens machst du es Herrn von Ramière nicht besser, wie hast du ihn empfangen? Frau von Carvajal stellt ihn dir vor und du bist entzückt von ihm, aber kaum schenkte ich ihm mein Wohlwollen, so findest du ihn unerträglich und stellst dich krank, wenn er zu uns kommt. Soll ich deinetwegen für einen Mann ohne Welt gelten? Das muß aufhören.«

Als Raymon bei Sir Ralph ankam, hatte die Jagd bereits begonnen. Delmare wurde erst zur Stunde des Mittagessens erwartet. Unterdessen entwarf Raymon seinen Plan, zu dessen Ausführung er drei Tage Zeit hatte.



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