George Sand
Indiana
George Sand

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Vierzehntes Kapitel.

An diesem Abend war Ralph wahrhaft unerträglich; nie war er schwerfälliger, kälter, langweiliger. Der Abend rückte immer weiter vor, ohne daß er sich anschickte, fortzugehen. Frau Delmare begann unruhig zu werden, sie sah nach der Uhr, welche bereits die elfte Stunde zeigte. Ralph war ein Mann, dem nichts entging, weil er alles kalt beobachtete. Raymons scheinbarer Weggang hatte ihn nicht getäuscht. Er bemerkte Indianas Unruhe. »Ich muß an jenen Abend denken,« sagte er plötzlich, »wo wir ebenfalls an diesem Kamin saßen, wie jetzt; das Wetter war trüb und feucht, wie heute . . . Du warst kränklich und gabst dich düsteren Gedanken hin. Du hattest ein ahnungsvolles Gefühl, als ob eine Gefahr drohe, die dein ganzes Schicksal umgestalten werde.

»Damals war ich krank,« antwortete Indiana, welche plötzlich so bleich geworden war wie an jenem Abend, von dem Ralph sprach, »Jetzt, wo ich mich gesund fühle, glaube ich nicht mehr an Ahnungen.«

»Ich aber glaube daran,« erwiderte Ralph, »denn an jenem Abend warst du eine Prophetin, Indiana, eine große Gefahr war wirklich im Anzuge, ein unheilvoller Einfluß bemächtigte sich dieser friedlichen Häuslichkeit.«

»Mein Gott, ich verstehe dich nicht.«

»Du wirst mich gleich verstehen, arme Freundin. An jenem Abend wurde Raymon von Ramière zu uns gebracht . . .«

Ralph wartete einige Augenblicke, ohne zu wagen, seine Augen auf seine Cousine zu richten; da sie nichts antwortete, fuhr er fort:

»Ich rettete dem Verwundeten das Leben, aus Menschlichkeit und auf dein Bitten, Indiana, aber wehe mir, daß ich es tat. Wahrlich, ich allein bin schuld an dem Unglück.«

»Ich weiß nicht, von welchem Unglück du sprichst,« antwortete Indiana kurz.

»Ich spreche von dem Tode jener Unglücklichen,« sagte Ralph. »Ohne jenen Menschen würde sie noch leben; ohne seiner verhängnisvollen Liebe wäre jenes schöne und gute Mädchen noch bei dir.«

Jetzt erst begann Indiana ihren Vetter zu verstehen. Sie fühlte sich im Innersten ihres Herzens empört über diese seltsame Wendung, welche darauf abzielte, ihr ihre Neigung für Herrn von Ramière vorzuwerfen.

»Es ist genug,« sagte sie aufstehend.

Ralph schien darauf nicht zu achten.

»Was mich immer gewundert hat,« fuhr er fort, »ist, daß du den wahren Grund, weshalb Herr von Ramière über unsere Mauern kletterte, nicht erraten hast.«

Ein plötzlicher Verdacht stieg in Indiana auf, ihre Knie zitterten; sie setzte sich nieder.

Ralph hatte das Messer in ihr Herz gestoßen und eine furchtbare Wunde geschlagen. Kaum gewahrte er die Wirkung, so bereute er auch schon seine Worte aufs bitterste und dachte nur an den Schmerz, den er dem Wesen zufügte, welches er vor allem auf der Welt liebte; sein Herz wollte brechen.

»In deiner Abneigung gegen Herrn von Ramière,« sagte sie mit Bitterkeit, »sehe ich dich zu Mitteln greifen, die deiner unwürdig sind; wie du dich aber von deiner Rachsucht gegen ihn so weit fortreißen lassen kannst, das Gedächtnis einer Person zu beflecken, die durch ihr Unglück uns heilig sein sollte, das ist mir unbegreiflich. Ich habe Sie nichts gefragt, Sir Ralph, und weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich will nichts weiter hören.«

Sie stand auf und verließ Herrn Brown betäubt und schmerzlich ergriffen.

Er hatte vorausgesehen, daß er seiner Cousine nur auf seine eigenen Kosten würde die Augen öffnen können; sein Gewissen hatte ihm gesagt, er müsse sprechen, und er hatte es getan, mit all dem Ungeschick, dessen er fähig war.

Verzweifelt verließ er Lagny und irrte wie wahnsinnig im Walde umher.

Es war Mitternacht. Raymon war an der Parkpforte. Er öffnete sie. Aber beim Eintreten schauerte er zusammen. Denn wenn man sich erinnert, unter welch anderen Verhältnissen er sich ehedem durch diese Alleen und diesen Garten geschlichen hatte, so begreift man, daß ein hoher Grad von Mut dazu gehörte, um auf demselben Wege und mit solchen Erinnerungen ein neues Abenteuer aufzusuchen.

Diese Nacht war eben so düster und neblig, wie jene Nächte im vergangenen Frühjahr. Als Raymon an dem Kiosk vorbeikam und einen Blick auf die Tür warf, klopfte sein Herz wider seinen Willen bei dem Gedanken, daß sie sich öffnen und eine in einen Pelz gehüllte weibliche Gestalt heraustreten werde. Um in den eigentlichen Garten zu gelangen, mußte er den Fluß und eine kleine hölzerne Brücke überschreiten. Beim Flusse verdichtete sich der Nebel noch mehr, und um nicht in das am Ufer wachsende Schilfrohr zu geraten, hielt sich Raymon am Brückengeländer fest. Der Mond erhob sich jetzt und warf, indem er die Dünste zu durchbrechen suchte, ungewisse Streiflichter auf die im Wasser schwankenden Pflanzen. Der Wind, welcher durch die Blätter rauschte und die trockenen Äste aneinander schlug, pfiff klagend vorüber und glich einem abgebrochenen menschlichen Hilferuf. Raymons Zähne schlugen aufeinander, er war dem Umsinken nahe. Doch sah er das Törichte seiner Furcht ein und überschritt die Brücke.

Er hatte die Mitte derselben erreicht, als eine kaum sichtbare menschliche Gestalt am Ende des Geländers erschien, als wenn sie ihn hier erwartet hätte. Raymons Gedanken verwirrten sich, entsetzt kehrte er um und verbarg sich unter dem Schatten der Bäume, mit starrem Blicke jene Erscheinung betrachtend, welche im Nebel des Flusses, im zitternden Strahle des Mondes hin und her schwankte und dann plötzlich auf ihn zukam.

Hätten in diesem Augenblick seine Füße ihm nicht völlig den Dienst versagt, so würde er feig davongelaufen sein. Aber er fühlte sich gelähmt und umfaßte, um sich zu halten, den Stamm einer Weide, sich hinter derselben verbergend. Da ging Sir Ralph, eingehüllt in einen hellfarbigen Mantel, der ihm in der Entfernung ein gespensterhaftes Ansehen gab, an ihm vorüber und verschwand auf dem Wege, den Raymon gekommen war.

»Ungeschickter Spion!« lachte Raymon, indem er sah, wie jener die Spur seiner Schritte aufsuchte, »du bist auf dem falschen Wege.«

Die Schrecken waren verschwunden. Raymon überschritt die Brücke.

Das vom Grauen in seinen Adern erstarrte Blut drängte jetzt mit Heftigkeit nach seinem Kopfe. Die bleichen Schrecken des Todes waren der stürmischen Wirklichkeit der Liebe, des Lebens gewichen. Raymon fühlte sich wieder kühn.

»Armer Ralph!« dachte er, indem er die versteckte Treppe mit leichtem Schritte erstieg, »du hast es nicht anders gewollt!«



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