George Sand
Indiana
George Sand

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Fünfzehntes Kapitel.

Frau Delmare hatte sich, nachdem sie ihren Vetter verlassen, in ihr Zimmer eingeschlossen und tausend stürmische Gedanken waren in ihrer Seele erwacht. Nicht zum erstenmal warf ein unbestimmter Verdacht sein düsteres Licht auf das schwache Gebäude ihres Glückes. Einige Zeit vor Nouns Tode hatte Indiana einen kostbaren Ring an ihrem Finger bemerkt. Diesen Ring, den Noun gefunden haben wollte, trug Indiana nun als heiliges Andenken an die unglückliche Freundin, und oft hatte sie Raymon erbleichen sehen, wenn er ihre Hand ergriff, um sie an seine Lippen zu drücken. Einmal hatte er sie gebeten, nie mit ihm von Noun zu sprechen, weil er sich als die Ursache ihres Todes betrachtete, und als sie ihm diesen Gedanken auszureden suchte, indem sie sich selbst die Schuldige nannte, hatte er ihr geantwortet: »Nein, arme Indiana, klage dich nicht an, du weißt nicht, wie sehr ich strafbar bin.«

Dieses in einem bitteren Tone gesprochene Wort hatte Indiana erschreckt. Sie hatte nicht gewagt, mit Fragen in ihn zu dringen, und jetzt fehlte es ihr an Mut, darüber nachzudenken und eine Folgerung daraus zu ziehen. Als sie sich erinnerte, daß Raymon kommen sollte, als sie an all das Glück dachte, welches sie sich von dieser Stunde versprochen hatte, da verwünschte sie Ralph und wollte lieber ihn anklagen, als einen Verdacht gegen Raymon aufkommen zu lassen.

Plötzlich kam sie auf einen jener seltsamen, unklaren Einfälle, wie sie sich in unglücklichen Stimmungen und bei heftigen nervösen Aufregungen nicht selten einzufinden pflegen. Sie wollte Herrn von Ramière auf eine eigentümliche Probe stellen, auf die er nicht gefaßt sein konnte. Kaum hatte sie ihre Vorbereitungen hiezu getroffen, als sie Raymons Schritte auf der geheimen Treppe hörte. Sie eilte, ihm zu öffnen und setzte sich dann rasch wieder nieder, wie in allen wichtigen Krisen ihres Lebens, bewahrte sie sich auch jetzt ihre volle Geistesgegenwart, so groß auch ihre innere Bewegung war.

Raymon war noch atemlos, als er die Tür aufstieß. Indiana hatte ihm den Rücken zugewandt und war in einen Pelz gehüllt. Zufällig war es derselbe, welchen Noun in jener verhängnisvollen Nacht getragen hatte, um Raymon im Park entgegenzugehen. Jetzt, wo er dieselbe Erscheinung, traurig über einen Stuhl gebeugt, plötzlich wieder erblickte, bei dem bleichen, ungewissen Lichte einer Lampe, in demselben Zimmer, welches so verhängnisvolle Erinnerungen in ihm wachrufen mußte, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück, seinen entsetzten Blick auf diese unbewegliche Gestalt gerichtet und wie ein Feigling zitternd, daß er, wenn sie sich umwandte, in die totenbleichen Züge der Ertrunkenen blicken könne.

Frau Delmare ahnte von dem Eindruck nichts, den sie auf Raymon hervorbrachte. Sie hatte um ihren Kopf ein indisches seidenes Tuch geschlagen, nach Art der Kreolinnen: es war Nouns gewöhnliche Kopfbedeckung gewesen. Von Furcht überwältigt, war Raymon dem Umsinken nahe, aber als er Indiana erkannte, hatte er seinen Schrecken schnell überwunden und eilte auf sie zu. Ihr Gesicht trug den Ausdruck ernsten Nachdenkens; sie sah ihn fest an, doch mehr forschend, als zärtlich. Raymon schrieb diesen unerwarteten Empfang der zarten Zurückhaltung eines jungen, weiblichen Herzens zu.

»Meine Vielgeliebte,« flüsterte er, sich vor ihr auf die Knie werfend, »fürchtest du mich denn?«

Aber sogleich bemerkte er, daß Indiana etwas in der Hand hielt, das sie mit einer gewissen schalkhaften Wichtigkeit vor ihm ausbreitete. Es war eine Masse schwarzer Haare von ungleicher Länge, die in der Eile abgeschnitten zu sein schienen und die Indiana mit ihren Händen glattstrich.

»Erkennst du sie?« sagte sie, indem sie einen durchdringenden, seltsamen Blick auf ihn heftete.

Raymon warf seinen Blick auf das seidene Tuch, das ihren Kopf verhüllte. »Böses Kind,« rief er, die Haare aus ihrer Hand nehmend, »warum hast du sie dir abgeschnitten? Ich hatte immer meine Freude daran! Gieb sie mir, damit ich sie immer bei mir haben und sie täglich küssen kann.«

Aber als er diesen reichen Haarschmuck, von dem einige Flechten bis zur Erde reichten, in die Hand nahm, fand er, daß sie sich rauh anfühlten und daß ihnen die duftige Feuchtigkeit der Lebenswärme fehle, als wenn sie schon seit langer Zeit abgeschnitten wären. Sein Auge suchte vergeblich jenen blauen Widerschein, der Indianas Haaren Ähnlichkeit mit dem azurnen Gefieder des Raben gab. Sie waren negerschwarz und schwer wie die von einem Toten.

Indianas klarer Blick haftete sich durchdringend auf Raymon.

»Das sind nicht die deinigen!« sagte er und lüftete das seidene Tuch, unter welchem sich Indianas Haar barg. Da waren ihre Haare in ihrer ganzen unberührten Fülle und sanken in all ihrer Pracht auf ihre Schultern herab. Aber sie stieß ihn zurück und hielt ihm immer die abgeschnittenen Haare hin.

»Erkennst du sie nicht?« fragte sie, »hast du sie nie bewundert, nie geliebkost? Hast du keine Träne für die, welche diesen Ring trug?«

Raymon war eine sehr reizbare Natur. Sein Blut kreiste schnell, seinen Nerven fehlte jede Widerstandskraft gegen starke und plötzliche Eindrücke. Er zitterte von Kopf bis zu den Füßen und fiel ohnmächtig auf den Boden.

Als er wieder zu sich kam, lag Indiana auf den Knien neben ihm, benetzte ihn mit ihren Tränen und bat ihn um Verzeihung. Aber Raymon liebte sie nicht mehr.

»Sie haben mir furchtbar weh getan,« sagte er, »Sie haben mir einen Schmerz bereitet, den wieder gut zu machen nicht in Ihrer Kraft steht. Ich fühle es, nie werden Sie mir das Vertrauen zu Ihrem Herzen wiedergeben, das ebensoviel Rachsucht wie Grausamkeit in sich schließt. Arme Noun, armes, unglückliches Mädchen! ihr tat ich Unrecht, nicht Ihnen! Sie wäre zur Rache an mir berechtigt gewesen, statt dessen opferte sie ihr Leben, um mir meine Zukunft zu lassen. Sie aber hätten das nicht getan! . . . Geben Sie mir diese Haare, sie sind das einzige, was mir von der Frau übrig bleibt, die allein mich wahrhaft geliebt hat. Unglückliche Noun! Du warst einer anderen Liebe wert! Und Sie, Indiana, Sie werfen mir ihren Tod vor, Sie, die ich so sehr geliebt habe, daß ich jene vergaß und den furchtbaren Qualen des Gewissens Trotz bot! Und da Sie sehen, mit welcher wahnsinnigen Leidenschaft ich Sie liebe, schlagen Sie Ihre Nägel in mein Herz. O, als ich eine aufopfernde Liebe wegwarf, um mich einer so wilden Leidenschaft hinzugeben, war ich ebenso töricht als strafbar.«

Frau Delmare antwortete nichts. Unbeweglich, bleich, mit gelöstem Haar und starrem Blick erregte sie Raymons Mitleid. Er ergriff ihre Hand und sagte:

»Und dennoch ist meine Liebe zu dir so blind, daß ich die Vergangenheit und die Gegenwart, das Verbrechen, welches mein Leben befleckt, und die Grausamkeit, die du eben an mir begangen hast, vergessen kann. Liebe mich nur und ich verzeihe dir.«

Als er sah, wie sie fürchtete, seine Liebe zu verlieren, wie sie so demütig vor ihm stand, als wolle sie ihr Unrecht sühnen, heuchelte er einige Augenblicke lang eine tiefe Trauer. Er beachtete kaum Indianas Tränen und Liebkosungen; er wartete, bis sie all ihre Kraft in dem herzzerreißenden Schmerz, von ihm verstoßen zu sein, verbraucht hatte; und dann, als er sie auf ihren Knien, den Tod von einem Worte erwartend, vor sich sah, riß er sie an seine Brust. Sie überließ ihm ihre Lippen ohne Widerstand; sie war fast tot.

Aber plötzlich, wie aus einem Traum erwachend, entzog sie sich seinen stürmischen Liebkosungen und flüchtete sich unter das Porträt Ralphs, als wenn sie sich in den Schutz dieses ernsten Mannes mit der reinen Stirn, den ruhigen Lippen, begeben wollte. Raymon riß sie gewaltsam von ihrem Zufluchtsorte hinweg. »Ich bin jetzt nicht mehr dein Sklave oder dein Freund,« rief er. »Ich bin nur noch ein Mann, der dich wahnsinnig liebt und dich, die launenvolle, grausame, aber doch schöne und angebetete Frau in seinen Armen hält. Mit Worten der Sanftmut und des Vertrauens hättest du mein Blut bemeistern können. Aber du hast alle meine Leidenschaften aufgewühlt, aufgeregt, du hast mich unglücklich, feig, wütend gemacht. Verzeihung, Indiana, Verzeihung! Wenn ich dich erschrecke, ist es deine Schuld; du hast mir so viel Schmerz bereitet, daß ich die Vernunft verloren habe.«

Indiana zitterte an allen ihren Gliedern. »Das also ist die edle, reine Liebe, die Sie mir gelobt haben!« sagte sie mit bitterem Vorwurf.

Er sank vor ihr nieder und klagte sie an, sie liebe ihn nicht.

»Raymon,« sagte Indiana, sich plötzlich besinnend, »du warst vielleicht nicht so strafbar, als ich glaubte. Sage mir jetzt, warst du wegen mir gekommen, als ich dich hier in diesem Zimmer überraschte, oder wegen Noun?«

Raymon zauderte. Da er aber bedachte, Indiana würde bald hinter die Wahrheit kommen oder kenne sie vielleicht schon, antwortete er:

»Wegen ihr.«

»Gut!« erwiderte sie mit traurigem Blicke. »Ich will lieber eine Untreue ertragen, als einen Schimpf. Sei stets aufrichtig, Raymon. Seit wann warst du in diesem Zimmer, als ich eintrat? Bedenke wohl, Ralph weiß alles, und wenn ich ihn fragen wollte . . .«

»Es bedarf der Angeberei des Sir Ralph nicht, Madame. Ich war seit dem vorhergegangenen Abend da.«

Beide schwiegen einige Augenblicke; Indiana erhob sich und wollte eben sprechen, als ein kurzer Schlag an ihrer Tür das Blut in ihren Adern stocken machte. Weder sie noch Raymon wagten zu atmen.

Ein Papier schob sich unter der Tür herein. Es war ein Blatt, auf welchem mit Bleistift die Worte geschrieben waren:

»Dein Gatte ist angekommen!«

Ralph.



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