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VII.
Die Deutschen im Wandel der Demokratie Amerikas


41.
Auf dem Wege zur Nation?

»Auf die Waffenstreckung General Lees folgte der Zusammenbruch der südstaatlichen Konföderation. Die Einheit der Union war gesichert, die verschiedenen bisher einander widerstrebenden Teile schlossen sich zusammen, aus Süd- und Nordstaaten, aus Puritanern des Ostens und Pionieren des Westens entstand die amerikanische Nation, das amerikanische Volk!«

So oder ähnlich heißt es in den meisten Geschichtsbüchern, nicht nur in amerikanischen. Jedenfalls rechnet man ganz allgemein vom Ende des Sezessionskrieges an den Beginn Amerikas als einheitlichen Staat und einheitliches Volk.

Stimmt das? – Es scheint, ja. Ich steige in Chikago in den Louisiana-Expreß und verlasse ihn am andern Morgen in Neu-Orleans. Hier wie dort die gleichen Straßen, die gleichen Wolkenkratzer, Hotels, Läden und – Menschen. In der einen wie der andern Stadt hört man nur englisch. Wurde es irgendwie erkennbar, daß in der ersteren über eine halbe Million Menschen deutscher Abstammung leben, ebenso viele oder noch mehr polnischen Bluts, von Tschechen, Jugoslawen, Griechen und Juden gar nicht zu reden? Merkte man der Stadt im Süden noch an, daß sie von Franzosen gegründet wurde, unter spanische Herrschaft kam, wieder unter französische, erst 1803 der Union beitrat, und dann erst recht ihren Charakter ausbildete als Mittelpunkt des sklavenhaltenden, baumwollpflanzenden Kreolentums? Es gibt keine Sklaven mehr; und seitdem sich eine viertel Million Neger in Chikago niederließ, bildet nicht einmal mehr das Vorhandensein oder Fehlen von Farbigen einen Unterschied im Straßenbild der beiden einstmals so grundverschiedenen Städte.

Gewiß, es gibt noch eine »Vieux Carré« in Neu-Orleans, das alte französische Viertel. Aber das scheint wirklich nichts anderes mehr zu sein als etwa die Altstadt von Frankfurt. Wenn natürlich auch noch geringfügige Unterschiede bestehen zwischen Chikago und Neu-Orleans, was bedeuten sie schon gemessen an der grundlegenden Wesensverschiedenheit von einst, wie sie aus alten Büchern und Bildern lebendig wird; auf der einen Seite die Stadt der rauhen Wildwestler, der Pioniere, die keinerlei Klassenunterschiede kannten, und auf der andern die Stadt der aristokratischen Pflanzer, die sich von Hunderten von Sklaven bedienen ließen.

Überall findet man solche beinahe unfaßliche Angleichung, ob man nun von Nord nach Süd, von Chikago nach Neu-Orleans fährt, von Ost nach West, von Neuyork nach San Franzisko, oder ob man den Erdteil in der Diagonale durchquert, von Seattle am Pazifik nach Miami in Florida oder von Boston nach Los Angeles. Es ist überall das gleiche; das einige, einheitliche, ja das bis ins letzte standardisierte und normalisierte Amerika scheint erreicht.

In diesem einheitlichen Amerika, in dieser gleichmäßigen amerikanischen Flut ist anscheinend auch alles deutsche Volkstum untergegangen, nicht anders wie das irische, französische oder holländische. Das jüngst eingewanderte italienische, polnische und russische Volkstum wird in Kürze folgen. Sie alle sind Amerikaner geworden. Von diesem Gesichtspunkt aus mag es hoffnungslos, ja widersinnig erscheinen, irgendwo auf amerikanischem Boden noch deutsches Volkstum oder deutsche Sprache erhalten zu wollen.

Das Bild der großen Einheitlichkeit trügt aber. Gewiß, der Fordverkäufer und Mitglied des Rotary Club in Madison, Wisconsin, sieht genau so aus und spricht und benimmt sich genau so wie sein Kollege von Denver, Colorado, ja selbst der virginische Farmer ist vom kalifornischen gar nicht so verschieden, wie man erwarten sollte. In der Stadt wie auf dem Lande wohnen die Menschen mehr oder weniger in den gleichen Häusern, zwischen den gleichen Möbeln, fahren in den gleichen Autos, essen die gleiche Kost und lesen dieselben Zeitungen, aber unter diesem einheitlichen Firnis leben die alten Unterschiede weiter oder bilden sich vielmehr in neue Formen um.

Nicht das ist das eigentlich Entscheidende, daß dieses Bild von dem einheitlichen, in Wohnen und Kleiden, in Denken und Fühlen standardisierten Amerika keineswegs so restlos für das ganze Land gilt, wie es einem in den Städten und längs der großen Straßen scheinen möchte. Es ist verhältnismäßig bedeutungslos, daß in einzelnen entlegenen Stadtplätzen in Wisconsin oder Texas noch deutsch gesprochen wird, im südlichen Louisiana noch französisch, in Neu-Mexiko spanisch, in »Little Italy« in Chikago noch italienisch. Es hat auch nicht viel zu sagen, daß irgendwo in den Smokies an der Grenze von Karolina und Tennessee Waldbauern ihren Mais an den Steilhängen noch auf die gleiche Weise pflanzen und daraus ihren »Mondscheinschnaps« brennen wie im 18. Jahrhundert, oder daß die Akadier in Louisiana noch so wohnen wie zur Zeit, als sie ins Land kamen. Das alles ist nicht das Entscheidende. Bedeutsam aber ist, daß der junge Collegestudent aus Alabama auch an der nördlichen Universität, trotz aller Bemühungen sich seinen Kameraden anzugleichen, den Abkömmling aus alter südstaatlicher Aristokratenfamilie nicht verleugnet. Der Nachkomme deutscher Einwanderer, der längst kein Deutsch mehr spricht, dessen Vater oder Großvater vielleicht bereits den Namen anglisierte, der vielleicht kaum noch weiß, daß er aus Deutschland stammt, trägt trotzdem die Merkmale seines Bluts in sich und denkt und handelt entsprechend trotz aller Amerikanisierung.

Töricht wäre es, diese Amerikanisierung zu leugnen. Amerikas Boden, Amerikas Sonne, Amerikas unsichtbares Fluidum, seine Geschichte wie seine Ideen wirken auf jeden, der seine Ufer betritt, einerlei, welchen Bluts er sein mag. Diese Einwirkung spürt bereits, wer auch nur ein paar Jahre drüben lebt, und erst recht natürlich, wer dort geboren wurde. Wer gelernt hat, sich zu beobachten, muß feststellen, daß er nach längerem Aufenthalt im amerikanischen Mittelwesten mit seiner außerordentlich intensiven und langen Sonnenstrahlung, seinem so überaus kontrastreichen Klima und seinen starken luftelektrischen Spannungen in gewisser Weise anders reagiert, anders empfindet und handelt, als er es in Mitteleuropa zu tun gewohnt war.

Aus dieser unbewußten Erfahrung heraus, die die Einheimischen an den Einwanderern machen, erwuchs wohl die Legende vom »Melting Pot«, vom großen Schmelztiegel, in dem die Menschen aller Rassen zu waschechten Amerikanern umgeschmolzen werden. Diese Vorstellung wurde noch unterstützt durch die allgemeine Idee, die das 19. Jahrhundert beherrschte. Der Grundsatz von der Gleichheit aller Menschen mußte naturgemäß zu dem Glauben führen, daß man auf neuem Boden unter den gleichen Lebensbedingungen und Anschauungen in kürzester Frist auch aus den verschiedensten Volksteilen eine neue Rasse erzeugen könne.

Dieser Grundsatz hat Amerika vom Sezessionskrieg bis zu der beginnenden großen Wende nach dem Weltkrieg beherrscht. Aus ihm heraus und durch ihn ist das Amerika von heute entstanden. Er ist es auch, der das herrschende Geschichtsbild prägte, besonders das der letzten großen Epoche.

Will man das Amerika von heute verstehen und das sich in ungewissen Umrissen bereits abzeichnende von morgen, so wird man die kritische Sonde an dieses überlieferte Geschichtsbild legen müssen. Man wird sich fragen müssen: Ist der Sezessionskrieg wirklich der große Wendepunkt? Schuf die mit ihm einsetzende Entwicklung tatsächlich das eine einheitliche Amerika? Oder legte er nicht bereits den Grund zu neuen Spannungen, genau wie der die Vereinigten Staaten begründende Unabhängigkeitskrieg schon die Ursache zu der späteren Abspaltung der Südstaaten in sich trug?

Von der Beantwortung dieser Fragen hängt auch die Beurteilung der Zukunft des deutschstämmigen Volksteils in Amerika ab; denn er ist verständlich und lebensfähig nur als Teil des großen amerikanischen Ganzen.

42.
Der Aufstieg zur Weltmacht

Nicht mehr als sechsundfünfzig Jahre liegen zwischen dem Tiefpunkt Amerikas im Jahre 1863 und seinem Höhepunkt 1919. Im Mai 1863 hatte die Union die Schlacht von Chancellorsville schmählich verloren. Die Konföderierten jubelten; der Sieg schien ihnen sicher. Die Kriegsbegeisterung in den Nordstaaten begann der Niedergeschlagenheit zu weichen. Der Ruf wurde laut: Der Krieg ist verloren! Die Einführung der Wehrpflicht begegnete offenem Aufruhr. Der Staat Ohio wählte einen erklärten Freund der Südstaaten zum Gouverneur.

Außenpolitisch war der Horizont nicht weniger verfinstert. Die europäischen Westmächte machten aus ihrer Zuneigung für die Südstaaten keinen Hehl. In britischen Häfen lief ein konföderiertes Kaperschiff nach dem andern vom Stapel, offen von England mit Waffen und Munition gegen die Union ausgerüstet. Die gefürchtete »Alabama« hatte bereits an die sechzig amerikanische Handelsschiffe erbeutet. Das Außenamt in Washington konnte nicht wagen, energisch dagegen vorzugehen, aus Furcht, Großbritannien ganz in die Arme Napoleons III. zu treiben, der die englische Regierung zu gemeinsamem Vorgehen gegen Washington zu veranlassen suchte. Frankreich hatte entgegen der Monroedoktrin eine Armee in Mexiko stehen, um den von ihm eingesetzten Kaiser Maximilian zu sichern. Englands Truppen in Kanada waren verstärkt. Eine Zeitlang sah es aus, als sei das Ende der amerikanischen Union gekommen.

Im Januar 1919 aber reiste ein Präsident der Vereinigten Staaten als Triumphator und Schiedsrichter der Welt nach Europa. Er hatte im Namen Amerikas erklärt, daß Frieden sein solle. Er hatte bestimmt, wie dieser Frieden auszusehen habe. Zwei Millionen frischer, mit dem besten Kriegsmaterial ausgerüsteter amerikanischer Soldaten standen auf französischem Boden, zwei weitere in Amerika, bereit nachzukommen, um den Worten ihres Präsidenten den gehörigen Nachdruck zu verleihen. Von einem um seine Existenz ringenden Staat hatte sich die amerikanische Union zum Weltschiedsrichter emporgeschwungen, der erfolgreich sein Schwert in die Waagschale warf, um die Demokratie, so wie Amerika sie auffaßte, in der ganzen Welt durchzusetzen.

Wir haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten so viel erlebt, die Ereignisse sind zeitweise wie Steinschlag auf uns herabgeprasselt, daß wir uns über nichts mehr wundern oder vielmehr, daß wir uns manche Geschehnisse überhaupt nicht klarmachen. Wir nahmen und nehmen die Weltmacht Amerikas hin als etwas Selbstverständliches, ohne daran zu denken, daß es sechsundfünfzig Jahre vor dem Waffenstillstand von 1918 noch ein in der Auflösung scheinendes, Europa schwer verschuldetes halbes Kolonialland war.

Was sind sechsundfünfzig Jahre? Nicht einmal ein Menschenleben! Es gibt viele unter uns, die auf eine wesentlich längere Zeitspanne zurückzublicken vermögen. Was sind schließlich noch nicht sechs Jahrzehnte im Völkerleben, im Weltgeschehen? Welch ein ungeheurer Aufstieg in so unglaublich kurzer Zeit!

Aber in diesen sechsundfünfzig Jahren ist gleichzeitig etwas anderes geschehen, was uns viel näher angeht, und was ebenso erstaunlich ist, wenn auch in einem bestürzenden Sinne. In diesen sechsundfünfzig Jahren ging der Einfluß des deutschstämmigen Volksteils in Amerika auf völlige Bedeutungslosigkeit zurück. Dieser Abstieg lief erstaunlicherweise parallel mit dem Aufstieg Deutschlands. Mit ihm wandelten sich auch die Beziehungen der beiden Staaten zueinander. Aus herzlicher Freundschaft und Bewunderung wurden plötzlich und scheinbar unbegründet bittere Kritik und offene Feindschaft.

Beides in sechsundfünfzig Jahren! Dieses gleichzeitige Einsetzen zweier sich in entgegengesetzter Richtung bewegender Entwicklungen ist viel zu bedeutsam, als daß wir achtlos daran vorbeigehen dürften. Dieses Buch hat es sich zur Aufgabe gemacht, daran mitzuhelfen, dem deutschen Anteil am Aufbau Amerikas Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Es wäre ein schlechter Dienst am Deutschamerikanertum wie an Deutschland selbst, nunmehr blind alles zu loben und an den eigenen Fehlern vorbeizugehen. Da die Fehler von beiden Seiten begangen wurden, von den Deutschen draußen, wie denen in der Heimat, so kann man sie offen besprechen, ohne in den Verdacht eines häßlichen Pharisäertums zu geraten.

Um unsere Schuld zu erkennen und ähnliche Fehler in der Zukunft zu vermeiden, müssen wir uns klarmachen, wie alles kam. Das ist nicht ganz leicht. Gerade die amerikanische Geschichte vom Sezessions- bis zum Weltkrieg ist an unserm Bewußtsein ziemlich spurlos vorübergegangen. Wäre sie das nicht, hätten wir die Entwicklung der Vereinigten Staaten sorgfältiger verfolgt, die politische und militärische Leitung des kaiserlichen Deutschlands hätte sich über die Bedeutung der Macht Amerika nicht in so verhängnisvoller Weise täuschen können.

Diese Täuschung ist entschuldbar, sie ist nur zu begreiflich. Gerade in der gleichen Zeit vollzog sich unter drei Kriegen Deutschlands Einigung. Da hatten wir keine Muße, uns um das zu kümmern, was in Amerika vorging. Daran aber kehrt sich das Weltgeschehen leider nicht. Da wir in einer Zeit leben, in der nun einmal alle Länder aufeinander wirken, ist es wichtig, ist es lebensnotwendig, die Vorgänge aller, auch der scheinbar am fernsten liegenden Länder zu verfolgen. Als Bismarck das Deutsche Reich gründete, konnte er nicht ahnen, daß die sich eben aus der tödlichen Krise des Sezessionskrieges wieder sammelnden Vereinigten Staaten, mit denen er in den freundschaftlichsten Beziehungen stand, seine Schöpfung zerstören würden – »ehe noch der Hahn krähte!«

Bismarck konnte das nicht ahnen, aber seine Nachfolger trifft Verschulden. Sie übernahmen ein Verhältnis und eine Lage als gegeben, ohne zu merken, wie beide sich wandelten. In der Weltpolitik ist nichts gegeben, und alles kann sich ändern, auch die scheinbar festestgefügte Freundschaft, und zwar in allerkürzester Zeit.

Warum aber wurde Amerika in so überraschend kurzer Zeit derart groß und mächtig, und warum wandte es sich immer heftiger gegen alles Deutsche, im eignen Land wie in Europa, je größer und mächtiger es wurde?

Amerika erholte sich von der entsetzlichen Katastrophe des Bürgerkriegs so erstaunlich rasch, weil die Zerstörungen, so furchtbar sie auch waren, nur einen Teil des Landes getroffen hatten, den Süden. Die Südstaaten haben zum Teil erst jetzt den Rückschlag vollkommen überwunden. Die Niederlage hatte den Südstaatlern aber das eine gebracht, was wir selber erlebt haben: die außerordentliche Anspannung aller nationalen Kräfte.

So kamen in den Vereinigten Staaten nach dem Bürgerkrieg die fördernden seelischen Triebkräfte von Sieg und Niederlage in einem Land zusammen. Sie konnten sich ohne Reibung nebeneinander entfalten, weil sich gleichzeitig grenzenlos scheinendes Neuland öffnete. Kurz vor Ausbruch des Sezessionskriegs hatte ja Mexiko die Hälfte seines Gebiets an die Staaten abtreten müssen. Gleichzeitig war Oregon an die Union gefallen. Unmittelbar darauf tätigte sie den glücklichen Kauf Alaskas. All dieser neue Boden barst von Schätzen. Man fand Gold und Öl. Die riesigen Reichtümer, die in Amerikas Kohlen-, Eisen- und Kupferfeldern liegen, wurden erst jetzt ausgebeutet. Das Industriezeitalter brach an. Amerika besaß alles für das Entstehen einer riesigen Industriemacht: die Bodenschätze, den Raum, den Markt. Und die Menschen? Nun, die rief man eben herein. Die kamen von Europa zu Hunderttausenden und bald zu Millionen, Jahr für Jahr.

Diese maßlose, materielle Entwicklung, die nach dem Bürgerkrieg einsetzte, wurde getragen von einer ideellen Kraft, die im Materiellen das letzte Ziel sah; die möglichst große Wohlfahrt einer möglichst großen Zahl. Die Vereinigten Staaten schienen das Mittel für die Erreichung dieses letzten göttlichen und menschlichen Ziels zu besitzen in ihrer demokratischen Verfassung, in ihren gesellschaftlichen Einrichtungen, und so hatten sie das Recht, nein, viel mehr als das: die Pflicht, sich für die Verbreitung der amerikanischen Lebensformen, der Demokratie – wie der amerikanische Durchschnittsbürger sie verstand – in der ganzen Welt einzusetzen.

Aus dieser Einstellung und dieser Entwicklung folgte die lawinenartige wirtschaftliche und politische Ausbreitung der Vereinigten Staaten zur Weltmacht, die gleichzeitig das Karibische Meer wie den Pazifik mit Beschlag belegte, die nach Asien wie nach Europa hinübergriff und unter Woodrow Wilson im besten Glauben wie in naivster Weise nach dem Zepter des Weltschiedsrichters langte.

Diese Entwicklung trug natürlicherweise in sich den Keim des Endes des deutschen Einflusses in der Union wie der Freundschaft mit Deutschland. Allerdings wäre der Wechsel in der amerikanischen Haltung und Politik ohne unsere Fehler wohl kaum derart jäh über uns hereingebrochen.

43.
Vom Freund zum Feind

Beim Abschluß des Sezessionskriegs ergab sich folgende Lage für das deutsche Element in den Vereinigten Staaten und die Beziehungen zu Deutschland:

Die deutschen Länder waren neben Rußland die einzigen gewesen, die während des Kriegs geschlossen auf Seite der Union gestanden hatten. Diese Zuneigung für die Sache des einigen und freien Amerikas hatten die Deutschen nicht nur mit Worten gezeigt, sondern auch mit Taten. Deutschland war der beste Markt für die Kriegsanleihen der Union; sein Mittelpunkt war Frankfurt am Main.

In Amerika selbst hatte das deutsche Element entscheidend zum Sieg des Einheitsgedankens beigetragen. Die aus Deutschland Eingewanderten hatten im Verhältnis zu ihrer Zahl mehr Soldaten gestellt als jeder andere Volksteil, ja als die geborenen Amerikaner selbst. Die Amerikaner deutschen Bluts übten einen wachsenden, schließlich sogar einen entscheidenden Einfluß in der von ihnen mitbegründeten Republikanischen Partei aus, die während und nach dem Bürgerkrieg Amerika beherrschte. Deutschstämmige wurden in den Kongreß, den Senat und alle wichtigen Ämter gewählt, ein in Deutschland Geborener wurde Innenminister. In deutscher Sprache geschriebene Zeitungen gehörten mit zu den einflußreichsten Blättern des Landes. In dem Teil des Staats, in dem das Deutschtum geschlossen saß, wurde die deutsche Sprache neben der englischen in den öffentlichen Schulen eingeführt.

Die Lage der Deutschen war ähnlich wie kurz nach dem Unabhängigkeitskrieg, nur noch unvergleichlich günstiger. Damals hatten die Deutschstämmigen an der Erringung der Unabhängigkeit der Union mitgewirkt, diesmal an der Sicherung ihrer Einheit. Beide Male war die Folge eine Stärkung des politischen und kulturellen Einflusses des deutschen Volksteils. Nach dem Unabhängigkeitskrieg hatte er sich nicht halten können, außer in einigen Bezirken Pennsylvaniens, weil die Deutschgeborenen zahlenmäßig zu schwach waren, und weil der Zustrom deutscher Einwanderer fast ganz aufgehört hatte.

Diesmal war der Anteil der Deutschen am politischen und militärischen Erfolg unvergleichlich stärker. Ihr Hundertsatz an der Gesamtbevölkerung war wesentlich größer als bei der Erringung der Unabhängigkeit. Der Zustrom deutscher Einwanderer ließ nach Friedensschluß keineswegs nach, sondern wuchs im Gegenteil von Jahr zu Jahr. 1866 überschritt er die Hunderttausendgrenze, 1882 überstieg er die Viertelmillion. In den beiden Jahren 1891 und 1892 zusammen wurde diese Ziffer noch einmal fast erreicht. Dann begann die deutsche Einwanderung abzunehmen, um 1898 einen Tiefstand von nur siebzehntausend zu erreichen. Alles in allem waren im Laufe des 19. Jahrhunderts über fünf Millionen Deutsche eingewandert, Österreicher, Schweizer und Deutschrussen nicht gerechnet. Damit übertraf die Einwanderung aus Deutschland allein die aus England, Schottland und Wales zusammen um zwei Millionen.

Es war also ein ganz gewaltiger Zustrom frischen deutschen Bluts, den das amerikanische Deutschtum Jahr für Jahr empfing. Dazu kam noch eins, was das deutsche Element bisher immer hatte entbehren müssen, der kulturelle und seelische Rückhalt an einem großen, mächtigen und einigen deutschen Reich.

Dieser Vorteil sollte sich in der Folge freilich zum Gegenteil wandeln, zum Teil mit durch unsere Schuld. Der Ausgang des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts war ja die Zeit der ungehemmten Weltmachtsansprüche der weißen Mächte. Daß es auch noch farbige gab, die Ansprüche machen könnten, daran dachte man nicht einmal. Die Welt war das ausschließliche Beutefeld der weißen Großmächte. Jeder, der sich daran beteiligen wollte, war ein natürlicher Feind und Gegner. So entstand langsam der Gegensatz zwischen Deutschland und Amerika.

Der große Gegner war freilich im Grund immer noch England. Es verstand aber sehr geschickt, seinen Frieden mit Amerika zu machen. Als es erkannte, daß die Vereinigten Staaten zu stark geworden waren, gab es die amerikanische Stellung auf. Es verzichtete sogar auf alle Ansprüche am Panamakanal und erkannte die Monroedoktrin an – noch vor Deutschland.

Das war ein schwerer Fehler von unserer Seite. Er ermöglichte England, den Amerikanern Deutschland als den eigentlichen Gegner und Bedroher der Freiheit und Unabhängigkeit amerikanischer Staaten hinzustellen. Dies wurde nicht so sehr durch die deutsche Regierung erleichtert, als vielmehr durch die Haltung eines Teils der Presse und öffentlichen Meinung. Einige Schriftsteller und Zeitungen forderten überall in der Welt deutschen Einfluß, deutsche Herrschaft, besonders auch im lateinischen Amerika. Unvorsichtige Aussagen des Kaisers kamen hinzu. So war es der feindlichen Propaganda ein leichtes, Deutschland als den Störenfried der Welt hinzustellen.

Die Beziehungen der Vereinigten Staaten zu Deutschland verschlechterten sich weiter durch den Spanisch-Amerikanischen Krieg, in dem die deutschen Sympathien ziemlich einheitlich auf spanischer Seite standen. Besonders ungünstig wirkte die Entsendung eines deutschen Geschwaders nach Manila. Die Amerikaner sahen darin deutsche Ansprüche auf die Philippinen, ja eine Kriegsdrohung. Vorher hatte es bereits Auseinandersetzungen wegen Samoa gegeben. – Deutschland trat als Mitbewerber im Pazifik auf, den Amerika für sich beanspruchte. Dazu kam der wachsende Wettstreit im Handel, das immer bessere Einvernehmen, ja die herzliche Entente Amerikas mit England und Frankreich. Die Vorbedingungen für unfreundliche Neutralität und späteren Kriegseintritt der Vereinigten Staaten waren gegeben.

Das wäre alles noch nicht so schlimm gewesen, hätte man sich in Deutschland nicht so vollkommen über die Stimmung in Amerika getäuscht. Da war man in Öffentlichkeit wie Regierung fest davon überzeugt, mit den Vereinigten Staaten noch immer in besten freundschaftlichen Beziehungen zu stehen. War nicht Präsident Theodore Roosevelt in Berlin beim Kaiser gewesen? War er mit diesem nicht geradezu befreundet? Hatte Wilhelm II. nicht seinen Bruder nach den Staaten entsandt, als Unterpfand von Friede und Freundschaft zwischen beiden Völkern? – Der Kaiser und die deutsche Regierung hatten als Tatsache genommen, was in Wirklichkeit lediglich bedeutungslose Geste war. Von diesen scheinbaren Freundschaftspfändern geblendet, übersahen sie völlig, in welch weitgehendem Maße sich Amerika bereits in den Ring unserer Feinde eingegliedert hatte, der an Deutschlands Einkreisung arbeitete. Außerdem rechnete man in Deutschland politisch auf die Deutschamerikaner, obgleich man nichts dazu getan hatte, sie kulturell an das Mutterland zu binden.

Nun ist es heute freilich überaus leicht zu kritisieren, und ich muß gestehen, daß ich bei meinen zwei Vorkriegsreisen 1912 und 1914 nichts von einer deutschfeindlichen Stimmung in den Vereinigten Staaten merkte, allerdings war ich damals noch sehr jung. Daß aber der deutschamerikanische Volksteil politisch bedeutungslos und gesellschaftlich mißachtet war – von einigen hochgekommenen und englisch gewordenen Spitzen abgesehen –, das merkte ich trotz meiner Jugend.

Ebenso wie man sich in Deutschland des Wandels der amerikanischen Einstellung Deutschland gegenüber nicht bewußt geworden war, so entging den Deutschstämmigen in Amerika selbst der Wechsel ihrer eigenen Stellung. Auf deutschen Feiern und Festen redete man noch immer von Carl Schurz, ohne sich bewußt zu sein, daß die Tage längst vorüber waren, wo Deutschstämmige noch entscheidenden Einfluß auf amerikanische Politik zu nehmen vermochten.

44.
Glück und Ende des politischen Einflusses der Amerikaner deutschen Blutes

Im Frühling 1912 nahm ich in der gleichen Woche an zwei Veranstaltungen des amerikanischen Deutschtums teil. Die erste war ein Diner bei Sherry's, einem der Neuyorker Luxusrestaurants, die andere ein Fest im Bayern-Verein, beide veranstaltet zu Ehren einer Gruppe angesehener Besucher aus Deutschland.

Bei Sherry's war zusammengekommen, was von den Neuyorker deutschen Kreisen über Geld und Ansehen verfügte, bei den Bayern die »misera plebs«, die große Masse der Amerikaner deutschen Bluts, die es über ein mittleres oder leidliches Auskommen nicht hinausgebracht hatte. Beide Gruppen waren noch deutsch aus einer gewissen Gefühlsduselei heraus, und nur soweit es ihnen gesellschaftlich und geschäftlich nicht schadete. Unter sich und vor Besuchern aus dem Reich, die einen gewissen Namen hatten und auch von der »amerikanischen« Presse und Öffentlichkeit anerkannt wurden, mochte man sich seiner deutschen Abkunft noch erinnern, im übrigen anglisierte man sich so weitgehend und so rasch wie möglich, was man »amerikanisieren« nannte. Dieses Abstandnehmen der zu Geld und Ansehen gelangten Deutschamerikaner von der großen Masse der in ihren Gesang- und Geselligkeitsvereinen zusammengeschlossenen Deutschen wurde ihnen damals nicht einmal verübelt; denn es bedeutete eine gesellschaftliche Scheidung von den nicht zu Geld und Erfolg Gekommenen, was im Interesse des eigenen Fortkommens und der eigenen Stellung innerhalb der »Gesellschaft« von Wichtigkeit war.

Beide Gruppen hatten nichts miteinander gemein, und die Besucher aus der alten Heimat im Grund mit beiden nichts. Auch diese gaben sich mit den unten gebliebenen Massen des Deutschtums nur so weit ab, als es unvermeidlich war, und suchten den Verkehr mit den zu Erfolg und Ansehen gelangten Deutschamerikanern, weil sie durch diese mit den »eigentlichen«, den angelsächsischen Amerikanern in Verbindung zu kommen hofften.

Das amerikanische Deutschtum hat versagt, und wir Deutsche der Vorkriegszeit haben ihnen gegenüber versagt. Das ist ein überaus bitteres Urteil, und es ist bitter, es fällen zu müssen. Aber nur wenn wir unerbittlich gegen uns wie gegen unsere Fehler sind, können wir hoffen, ein ähnliches Unglück in Zukunft zu vermeiden. Und es war ein Unglück, wenn ein Land, dessen Bevölkerung zu einem Viertel deutschen Bluts ist, und mit dem wir in den besten freundschaftlichen Beziehungen standen, sich gegen uns wandte, gegen uns in der schwersten Stunde unseres nationalen Daseins in den Krieg zog und gleichzeitig einen beispiellosen Haßfeldzug gegen alles Deutsche im eignen Land eröffnete. Der daraus erwachsene Schaden ist für beide Länder ungeheuer, und es mag sein, daß er sich in der Folge für Amerika als nicht geringer erweist denn für uns.

Wir haben gesehen, wie beide Länder und Völker, einstmals freundschaftlich verbunden, auseinandergerieten. Wie aber war es möglich, daß der deutsche Volksteil in den Vereinigten Staaten dies zuließ, daß es ihm nicht gelang, daß er scheinbar gar nichts tat, den endgültigen Bruch zu vermeiden.

Das amerikanische Deutschtum hat politisch versagt, weil es eine Aufgabe unternommen hatte, der es nicht gewachsen war, weil es über keinerlei klare Leitgedanken verfügte, über kein Bild, keine Vorstellung eines Amerikas, in dem das deutsche Blut eine entscheidende, formende Rolle spielte, und weil es überdies vom Deutschtum in der Heimat im Stich gelassen worden war.

Das Deutschtum in den Staaten hatte mit dem Einströmen einer starken deutschen Welle im politisch entscheidenden Augenblick eine seltene Gelegenheit. Wenn sie ergriffen und wieder preisgegeben wurde, so ist daran schuld, daß die deutsche Welle der dreißiger Jahre zu spät kam, um noch an das Deutschtum aus der Zeit der Unabhängigkeitskriege anzuknüpfen und auf seinen Leistungen und Verdiensten um Amerika weiterzubauen. Die Deutschen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts nach den Staaten kamen, wußten vom pennsylvanischen Deutschtum kaum etwas und nahmen keinerlei Verbindung mit seinen Überresten auf, da sie sich in ganz andern Teilen der Union niederließen.

So kamen die Deutschen wiederum als »Einwanderer«, als zu spät Gekommene, auf die die Einheimischen mit unverhohlener Mißachtung herabsahen und gegen die sie sich erst recht wandten, als die Neuankömmlinge durch den Bruderzwist innerhalb der Staaten und die Gunst der Umstände zu einem entscheidenden Faktor geworden waren.

Der Amerikaner, und zwar jeder Amerikaner, das gilt von Süd- genau wie von Nordamerika, sieht grundsätzlich auf jeden Neuankömmling herab und erblickt in ihm etwas Minderwertiges. Einem Europäer, der durchdrungen ist von der alten Kultur seines Lands, mag dies unfaßbar vorkommen. Aber es ist so; noch der armseligste Bolivianer oder Paraguayer dünkt sich im Grunde besser als jeder Fremde. Der Nationalstolz der Völker jenseits des Atlants ist sehr viel größer, als wir Europäer es uns im allgemeinen vorstellen.

So sah man auch in den Vereinigten Staaten der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre mit kaum verhohlener Mißachtung auf die deutsch-irische Masseneinwanderung herab. Für den Durchschnittsamerikaner waren das selbstverständlich alles arme Schlucker, die überdies in ihrem eignen Land von ihren Fürsten unterdrückt und mißhandelt worden waren. Warum wären sie sonst nach Amerika gekommen? Sie waren willkommen, den weiten Westen zu erschließen und urbar zu machen und all die harte, schwere und schmutzige Arbeit zu verrichten, die der geborene Amerikaner nicht mehr verrichten mochte. Sie waren den Parteipolitikern überdies erwünscht als Stimmvieh. Daß sie Wünsche und Anregungen äußerten, daß sie selber eine politische Rolle spielen wollten, daß sie am Ende gar ihre eigene Vorstellung von Amerika mitbrachten und es danach zu gestalten versuchten, das ging natürlich nicht. Deshalb mußten die »Eindringlinge« in ihre Schranken zurück verwiesen werden, sobald die politische Lage es erlaubte.

Wie damals selbst ein gebildeter, kluger und weitsichtiger Mann über die deutschen Einwanderer dachte, geht erschreckend aus einem Ausspruch Ralph Waldo Emersons hervor. Dieser auch in Deutschland angesehene Philosoph schrieb noch 1860: »Die deutschen und irischen Millionen haben wie die Neger eine große Menge Guano in ihrer Bestimmung. Man führt sie über den Atlantischen Ozean, man lädt sie über Amerika ab, zu graben und sich zu plagen, das Getreide billig zu machen und dann vor der Zeit sich niederzulegen, um einen Flecken grünen Grases auf der Prärie hervorzurufen!« Wenn das ein Emerson schrieb, was konnte man von einem Daniel Smith aus Springfield, Illinois, erwarten, der bisher gewohnt war, in seiner Partei und durch seine Partei alle örtlichen Angelegenheiten zu bestimmen, und der sich plötzlich von Menschen hereinreden lassen sollte, die nicht einmal richtig englisch sprachen.

Es wäre falsch, für den national-amerikanischen Standpunkt kein Verständnis zu haben. Nicht jeder Einwanderer war ein Carl Schurz, der mit der festen Absicht hinübergekommen war, die neue Heimat von der besten Seite zu nehmen und sich ihr ganz und hemmungslos hinzugeben. Viele, die aus Deutschland kamen, waren unverbesserliche Weltverbesserer, die nun sofort das neue Land nach ihren doktrinären Ansichten umwandeln wollten. Man darf auch nicht vergessen, daß Sozialismus wie Kommunismus durch deutsche Einwanderer nach Amerika gebracht wurden. Zahlreiche kommunistische Siedlungen wurden gegründet, und die ersten anarchistischen Unruhen in Chikago gehen auf deutsche Agitatoren zurück.

Als die Sklavenfrage brennend wurde und der Bürgerkrieg drohte, da standen die Deutschen aus ihrer idealistischen Grundeinstellung zwar wie ein Mann gegen die Sklaverei und für die Aufrechterhaltung der Union auf und traten mit den Waffen für sie ein. Aber vom Standpunkt alteingesessener Amerikaner lag in der politischen Betätigung von hunderttausenden eben erst ins Land Gekommenen eine nicht unerhebliche Gefahr, so angenehm den Nordstaaten die deutsche Hilfe zunächst auch war.

Die Mehrzahl der Deutschen, die Lincoln wählten und für die Abschaffung der Sklaverei eintraten, kannte ihre politische Verantwortung nicht. Lincoln selbst, so sehr er persönlich die Sklaverei verabscheute, war sich als geborener Amerikaner genau bewußt, daß diese Frage viel zu schwierig war, als daß sie mit einfacher Aufhebung der Sklaverei gelöst werden könnte. Er ist deshalb auch nur überaus zögernd an den Erlaß des Edikts herangegangen, das die Sklaven für frei erklärte. Die Radikalen aber, zu denen auch die Deutschen gehörten, suchten ihn von vornherein zu diesem Schritt zu drängen.

Da die deutschen Einwanderer und selbst die Deutschstämmigen im allgemeinen weder die nötige politische Reife und Einsicht besaßen, noch sich einig waren, noch überhaupt über eine große, klare eigene Idee verfügten, mußte ihnen die politische Macht wieder entfallen, die eine ungewöhnlich glückliche Verkettung von Umständen in ihre Hände gelegt hatte. Eine Führernatur wie Carl Schurz konnte bis zu dem höchsten für einen im Ausland geborenen Amerikaner überhaupt erreichbaren Posten aufsteigen, konnte eine Weile sie und sich darüber hinwegtäuschen, daß die politische Stunde des amerikanischen Deutschtums bereits vorüber war.

Aber Carl Schurz ging an der Entscheidung vorüber; jedenfalls wagte er nicht, die deutschamerikanische Frage grundsätzlich anzupacken. Er war nur der Sohn seiner Zeit, und er war es doppelt. Man darf nicht vergessen, daß er ein politischer Flüchtling war. Er hatte um bestimmter Ideen willen seine Heimat verlassen müssen, und er war nach Amerika als der Heimat dieser Ideen gekommen. Ohne sich selber untreu zu werden, konnte er sie nicht preisgeben, auch als er erleben mußte, daß sie in der Wirklichkeit keineswegs so ideal waren, wie er sie sich in seinen Jugendträumen vorgestellt hatte.

Carl Schurz besaß die menschliche Größe, der Einigkeit Deutschlands zuzujubeln, auch als sie auf ganz andern Wegen verwirklicht wurde, als er sich vorgestellt, und durch Männer, in denen er lediglich Reaktionäre und »Feinde der Freiheit« gesehen hatte. Die Erkenntnis, daß auch Amerika neue Wege gehen müsse, um die letzten idealen Ziele der Demokratie zu verwirklichen, das war von einem alten Achtundvierziger wohl zuviel verlangt. Dieses letzte Ziel, für das Schurz und seine Kameraden ihr Leben gewagt hatten, war das große, freie Reich, das allen seinen Bürgern den gleichen Anteil am Glück sicherte. Carl Schurz hatte ein starkes Gefühl dafür, daß dieses »Glück« für die aus Deutschland Eingewanderten nicht gewahrt war, wenn man sie völlig vom Mutterboden abtrennte, dem sie entsprossen. Er war aber allzusehr in die allgemeine Vorstellung seiner Zeit verstrickt, die von der »naturgegebenen Gleichheit« aller Menschen ausging und in der Demokratie ihre Verwirklichung im Rahmen des Staats sah. So war ihm die Erkenntnis verschlossen, daß man, um das »gleiche Glück« aller zu sichern, von der – »Ungleichheit der Menschen« ausgehen müsse. Die erste Voraussetzung dazu aber wäre in einem Einwanderungsland wie den Vereinigten Staaten die Bewahrung der völkischen Ungleichheit gewesen. Schurz fühlte wohl, daß die deutschstämmigen Amerikaner gegenüber denen angelsächsischer Abkunft hoffnungslos ins Hintertreffen gerieten, wenn man ihnen den eigenen kulturellen Untergrund nahm und sie durch Verlust ihrer Muttersprache sogar des Zugangs dazu beraubte. Er trat deshalb auch für die Erhaltung des Deutschtums ein, aber doch nicht mit der nötigen Entschlossenheit und Unerbittlichkeit. Der politische Führer der Amerikaner deutschen Bluts war viel zu sehr Gleichheitsfanatiker und in demokratischen Theorien befangen, um zu erkennen, daß nicht nur um der Geführten, sondern auch um Amerikas willen die möglichst lange Bewahrung der völkischen Ungleichheit geboten war.

Selbst wenn er das Ziel gewollt hätte, so scheute er doch vor dem Weg dahin zurück. Dieser Weg wäre die politische Zusammenfassung des amerikanischen Deutschtums in eine starke Partei gewesen, die an alle Lebensfragen der neuen Heimat zunächst von ihrem völkischen Bewußtsein aus herangegangen wäre. Um das zu erkennen, um das zu wollen und zu wagen, dazu war Carl Schurz bereits allzusehr amerikanischer Parteipolitiker geworden. Deshalb trat er allen derartigen Versuchen mit seiner ganzen Autorität entgegen. In seinem politischen Glaubensbekenntnis, das er auf dem »Deutschen Tag« in Cincinnati ablegte, erklärte er: »Es ist zuweilen die Rede gewesen, eine deutsche politische Partei zu gründen. Ich kenne keinen Plan, der unstatthafter und sinnloser wäre, und ich freue mich herzlich, daß ein solcher Plan bei der Masse der Deutschamerikaner niemals Gehör gefunden hat. Es gibt in dieser Republik keine deutsche Politik. Es darf keine geben, und Gott sei Dank es kann keine geben!«

Wenn der Führer des amerikanischen Deutschtums glaubte, sich in so entschiedener Weise gegen eine »deutsche Partei« und eine »deutsche Politik« in Amerika wenden zu müssen, so nahm er damit Stellung gegen die völlig unangebrachten politischen Forderungen, die die alte Heimat an ihre über das Meer gegangenen Söhne stellte. Der Hauptgrund lag freilich in den geistigen Strömungen und den herrschenden Ideen der Epoche. In einer Zeit, die den Begriff der Rasse überhaupt vergessen hatte, die nur an die Menschheit glaubte, war es natürlich nicht angängig, war es selbstverständlich »unstatthaft«, einen neuen Staat auf völkischer Grundlage aufbauen zu wollen. In einer Zeit, die fest davon überzeugt war, daß Umgebung und Erziehung die entscheidenden Triebkräfte seien, die gar nicht daran zweifelte, daß man Menschen jeden Bluts nach einem bestimmten Vorbild formen könne, noch dazu innerhalb von längstens zwei Generationen, war es natürlich gegen den Sinn der amerikanischen Idee, das deutsche Blut als einen besonderen Teil des amerikanischen Volks bewahren zu wollen. Viele Einwanderer, und nicht die schlechtesten, auch im amerikanischen Sinn, hatten zwar ein Gefühl für die Wichtigkeit der Bewahrung von Sprache und Rasseeigentümlichkeiten. Deshalb riefen sie nach deutschen Schulen. Deshalb gründeten sie deutsche Vereine. Die herrschende Idee aber und vor allem auch die Überzeugung von der Alleingültigkeit des von den Angelsachsen getragenen demokratischen Ideals waren doch viel zu stark, als daß man gewagt hätte, diesem ein anderes entgegenzusetzen, ja es auch nur auszudenken.

Wenn nun die Deutschen wenigstens restlos und ohne Vorbehalte die amerikanische politische Idee übernommen hätten, wie es die Iren taten, wenn sie das politische Spiel gespielt hätten, wie es nun einmal war, mit allen seinen Gemeinheiten und aller Käuflichkeit, dann hätten sie sich ihren Platz im Staat trotzdem sichern können. Aber sie waren nun einmal Deutsche. Sie wollten von gewissen Idealen nicht lassen und brachten sie zur Unzeit vor.

Bei Ende des Bürgerkriegs gab das Deutschtum in der entscheidenden Republikanischen Partei den Ausschlag. Es konnte seine politische Macht bewahren, indem es geschlossen der Republikanischen Partei treu blieb, aber innerhalb der Partei einen festen Block bildete, so daß die Parteileitung auf die deutschen Sonderwünsche Rücksicht nehmen mußte und die deutschen Mitglieder bei Verteilung der Ämter genügend berücksichtigte. Oder die Amerikaner deutschen Bluts konnten eine eigene Partei bilden, die bald mit den Republikanern, bald mit den Demokraten ging und so das Zünglein an der Waage bildete.

Die Deutschamerikaner taten weder das eine noch das andere, und ihr Führer Carl Schurz ging ihnen dabei mit schlechtem Beispiel voran. Er trennte sich von der Republikanischen Partei, die er selber mitgegründet, die ihn groß gemacht hatte, bekämpfte sie und stellte eine neue Partei auf. Gewiß tat er das aus den reinsten idealen Absichten. Er wollte damit Ämterschacher und Bestechlichkeit bekämpfen, die mit der lange währenden Herrschaft der Republikaner in furchtbarer Weise eingerissen waren. Ja, ihm schwebte eine Regierung über den Parteien vor.

Frühzeitig erkannte er die Wichtigkeit der Versöhnung der Südstaatler, und als Hayes, für dessen Wahl er sich eingesetzt hatte, ihn als Innenminister in sein Kabinett nahm, wurden auf seine Veranlassung auch Vertreter anderer politischer Richtungen, sogar ein südstaatlicher Demokrat darin aufgenommen. Schurz war der erste, der das verhängnisvolle »Beutesystem« einschränkte, und der die ersten, wenn auch bescheidenen Reformen des Beamtendienstes bewirkte. Im Gegensatz zu der bisherigen Übung brachte er in sein Ministeramt keinen Schwarm von Freunden und Anhängern mit, nicht einmal seinen eigenen Privatsekretär.

So gut und nützlich und ideal das alles war, so sehr verstieß es gegen die Spielregeln. Wenn die Amerikaner deutschen Bluts sich an der Politik des Landes beteiligen wollten, so mußten sie die Verhältnisse nehmen, wie sie eben waren, und sie mitmachen, solange sie der herrschenden Idee nicht ihre neue geschlossen entgegensetzen konnten.

So ging die Zersplitterung und damit die politische Entmachtung der Deutschen in den Vereinigten Staaten immer weiter. Noch Theodore Roosevelt versuchte, mit ihnen Politik zu machen. Die Deutschen hatten ihn bei der Präsidentenwahl entscheidend unterstützt. Als er zur Macht gelangt, sie dafür dem allgemeinen Brauch entsprechend an der politischen Macht beteiligen und ihnen Ämter zukommen lassen wollte, erklärten sie entrüstet, daß sie ihn nicht deshalb gewählt hätten. Das nahm Roosevelt übel, von seinem Standpunkt aus mit Recht. Er sagte sich, daß man mit solchen Leuten keine Politik machen könne, wenigstens nicht in Amerika. Und er, der in Dresden zur Schule gegangen war und stets mit besonderer Freude von seiner Jugendzeit in Deutschland erzählt hatte, wurde mit der Zeit ein erbitterter Deutschenfeind.

Kurz vor Ausbruch des Weltkrieges wurde von den Deutschen der amerikanische Nationalbund gegründet. Er brachte es auf zweiundeinhalb Millionen Mitglieder. Da er jedoch nichts war als die unpolitische Zusammenfassung unpolitischer Vereine, konnte er auch keinerlei Wirkung ausüben, als das Verderben über Deutschland und die Amerikaner deutschen Bluts hereinbrach.

45.
Das deutsch-amerikanische Versailles

Der amerikanische Professor wurde einsilbig, als das Gespräch auf die Zustände in Amerika während des Weltkriegs kam. In den zwei Jahren, die wir uns kannten, waren wir wirkliche Freunde geworden. Es gab kein Gebiet, auf dem wir nicht in aller Offenheit unsere Ansichten austauschten. Aber als ich ihn jetzt nach seinen Erlebnissen und Eindrücken während des Kriegs fragte, kamen auch ihm die Antworten nur zögernd von den Lippen, wie allen Amerikanern deutschen Bluts, mit denen ich bisher hier über dieses Thema gesprochen hatte.

Mein Freund war in den Vereinigten Staaten geboren, als Sohn eines Deutschen, der selber als Kind in die Neue Welt gekommen war. Er wuchs im Westen auf dem Land auf, da, wo Amerika am echtesten ist. Er war sicher ein so guter, ein so »hundertprozentiger« Amerikaner, wie nur irgendeiner; als aber der Krieg ausbrach, mußte er seine Frau und seine Kinder aus der Universitätsstadt, in der er seine Professur hat, aufs Land hinausbringen, gleichsam verstecken. Seine Frau war eine Deutsche, und seine Kinder sprachen deutsch wie englisch. Sie waren noch zu klein, um ihnen verständlich zu machen, daß sie auf der Straße nicht mehr deutsch sprechen dürften. Ein unbedachtes Wort seiner Kinder aber hätte ihm die größten Ungelegenheiten bereiten und seine Stellung kosten können.

Es ist immer erst der persönliche Einzelfall, an dem wir die ganze Tragweite eines allgemeinen Geschehens erfassen. Ich habe die ganze furchtbare Tragik des deutschamerikanischen Schicksals während des Weltkriegs erst durch das Geschick meines amerikanischen Freunds begriffen.

Wir Deutschen in der Heimat sind von je leicht bei der Hand gewesen mit Vorwürfen gegen unsere über See gezogenen Volksgenossen, insbesondere gegen jene in Amerika. Wie kommt es, daß sie, die ein Viertel des amerikanischen Volks ausmachen, den Kriegseintritt nicht verhinderten? Wie konnten sie, die unseres Bluts sind, zu Zehntausenden, vielleicht sogar zu Hunderttausenden die Waffen gegen uns ergreifen und gegen das Land ihrer Väter ins Feld ziehen?

Diese Frage ist leicht gestellt, aber sie ist schwer gerecht beantwortet. Mit dem gleichen Recht können die Amerikaner deutschen Bluts uns fragen: »Warum ist es in Europa zum Krieg gekommen?«

Es gibt Geschehnisse, die nachträglich betrachtet unbegreiflich erscheinen, die aber, während sie abrollen, alle Beteiligten mitreißen wie ein wild über seine Ufer getretener Strom.

So und nicht anders ging es den Amerikanern deutscher Abkunft während des Weltkrieges. Es ist nicht so, als ob sie nicht versucht hätten, sich dem Verhängnis entgegenzustellen. Sie haben viel mehr getan, als wir in Deutschland wissen. Scham und Stolz verbieten ihnen davon zu reden. Die unerbittliche Verfolgung von allem, was auch nur deutsch dachte, die mit der Kriegserklärung der Vereinigten Staaten hereinbrach, hat auch die Erinnerung an die Wogen heißer Liebe weggespült, die bei Ausbruch des Kriegs alle Menschen deutschen Bluts zu dem Land ihrer Väter erfaßte.

Überall, wo Deutsche saßen, brandete diese Woge hoch, in Illinois, in Wisconsin, in Missouri, in Ohio. In Chikago wie in Neuyork oder St. Louis wurden Massenversammlungen abgehalten, meldeten sich Hunderte von Deutschgeborenen bei den Konsulaten zum Dienst mit der Waffe, wurden Tausende von Dollars für das Rote Kreuz gesammelt. Als es immer offenkundiger wurde, daß die Vereinigten Staaten es mit der verkündeten Neutralität nicht ernst nahmen, als die Sympathien für die Alliierten, insbesondere für England, immer unverhüllter wurden, da hat es nicht an Versuchen gefehlt, Amerika auf der Gleitbahn in den Krieg aufzuhalten. Deutsche Zeitungen traten mit großer Entschiedenheit für die Aufrechterhaltung oder vielmehr Wiederherstellung wirklicher Neutralität ein. Vereinigungen wurden gegründet, die die Neutralität sichern sollten, wie die »Amerikanische Neutralitätsliga« oder die »Teutonischen Söhne Amerikas«. Versuche wurden gemacht, den Präsidenten, den Kongreß zu beeinflussen, entsprechende Gesetze einzubringen. Es hat den Deutschamerikanern nicht an Mut gefehlt, und manch einer hat sein Eintreten für das Land seiner Väter teuer bezahlt.

Alles war umsonst, trotz aller Bemühungen und Hingabe war das Verhängnis nicht abzuwenden, weil sich innerhalb weniger Wochen und Monate die politische Macht nicht zurückerobern ließ, die man während der letzten Jahre und Jahrzehnte leichtsinnig aufgegeben hatte. Die Deutschen waren in den politischen Körperschaften viel zu schwach vertreten, um jetzt in letzter Stunde noch entscheidenden Einfluß ausüben zu können.

Außerdem war die Macht der Gegenseite viel zu groß. Der Kriegsausbruch hatte bei den Angloamerikanern das Heimatgefühl, die Liebe zum Land der Väter nicht weniger geweckt als bei den Amerikanern deutschen Stammes. Bei ihnen kam noch dazu, daß Angelsachsentum ohne weiteres mit Amerikanertum gleichgesetzt wurde. Sie waren die wahren Patrioten, die andern nur die »Bindestrich-Amerikaner«, die es nicht nur mit den Feinden Amerikas hielten, sondern auch mit den Feinden der Menschheit. Denn das war die zweite Gleichung, die ohne Skrupel aufgestellt wurde: »Die Sache der Alliierten ist die Sache der Menschheit, der Freiheit, der Demokratie.« War es unter diesen Umständen nicht unvermeidlich, daß sich Amerika den Kämpfern für diese erhabenen Ideen anschloß, als sie anders nicht zu retten waren?

Dazu kam, daß die Hetze gegen alles Deutsche mit einer kaum zu überbietenden Gewissenlosigkeit betrieben wurde. Die große Presse stellte sich genau so in ihren Dienst wie die Hochfinanz und die Regierung. Theodore Roosevelt, der als Präsidentschaftskandidat die Unterstützung des amerikanischen Deutschtums gesucht hatte und mit seiner Hilfe gewählt worden war, der sich in Berlin als Freund Deutschlands hatte feiern lassen, entfesselte einen wilden Haßfeldzug gegen alles Deutsche, mit dem Ziel des Eintritts Amerikas in den Krieg. Bereits im Sommer 1915 ließ er sich in einer öffentlichen Versammlung zu den bösen Worten gegen die Deutschamerikaner hinreißen: »If I have my way, they will either fight for us or they will be shot by us.« – »Wenn es nach mir geht, so werden sie entweder für uns kämpfen oder von uns niedergeschossen werden.« Und der gleiche Woodrow Wilson, der sich mit der Begründung, daß er Amerika dem Kriege ferngehalten habe, wiederwählen ließ, erklärte im Sommer 1919 einem Senatsausschuß gegenüber, der die Ursachen des Eintritts in den Krieg feststellen sollte, mit zynischer Offenheit, daß die Vereinigten Staaten auf jeden Fall in den Krieg eingetreten wären, auch wenn Deutschland durch keinerlei Kriegshandlung und keine Akte der Ungerechtigkeit amerikanischen Bürgern gegenüber unmittelbaren Anlaß dazu gegeben hätte.

Erinnern wir uns doch nur, wie wir selber, Volk, Heer und Regierung zum großen Teil auf Wilsons vierzehn Punkte und seine Tiraden reagiert haben. Wie ganz anders mußte er damit auf seine Mitbürger wirken, auch auf die deutschen Bluts. Es erscheint mir außer allem Zweifel, daß das amerikanische Volk in seiner Gesamtheit davon überzeugt war, in einen Kreuzzug für die heiligsten Güter der Menschheit ins Feld zu ziehen.

Auch ein erheblicher Teil der Amerikaner deutschen Bluts, zum mindesten der zweiten und dritten Generation, ließ sich so täuschen und von der Propagandawelle eines künstlichen Enthusiasmus mitreißen. Nachdem der Krieg einmal erklärt war, gab es ja für keinen Amerikaner, auch den naturalisierten nicht, eine andere Wahl, als treu und loyal zu Amerika zu stehen wie die Amerikaner britischen oder irgendeines andern Bluts. Die Amerikaner deutscher Abstammung haben so gut wie ausnahmslos die schwere Pflicht erfüllt, mochte manchen auch das Herz darüber brechen. So waren unter den zuerst 10 000, später 100 000, 200 000 und schließlich 300 000 amerikanischen Soldaten, die ab Ende 1917 Monat für Monat in französischen Häfen landeten, auch ungezählte deutschen Bluts, ja selbst zahlreiche in Deutschland Geborene.

Ehe Präsident Wilson am 3. Dezember 1918 den Dampfer nach Europa bestieg, verkündete er in seiner Kongreßbotschaft, daß 1 996 431 amerikanische Soldaten nach Frankreich eingeschifft worden waren. Von diesen riesigen Truppentransporten waren durch unsere U-Boote nur ganze 758 Mann vernichtet, und so standen uns im Herbst 1918 an der Westfront außer Franzosen und Engländern nebst allen ihren Hilfstruppen noch zwei Millionen frischer, auf das beste ausgerüsteter Amerikaner gegenüber.

Viele von uns, die damals im Westen standen, haben sie kennengelernt, ich zuerst bei unserer mißglückten Offensive beiderseits Reims. Damals standen östlich von Reims die 42. amerikanische Division und die Infanterieregimenter Nr. 390, 371 und 372, die auf französische Divisionen aufgeteilt waren. Vor dem Angriff hatte ein Stabsoffizier des A.O.K. zu mir gemeint: »Ich freue mich schon auf den Angriff. Uns gegenüber stehen Amerikaner. Die Kerle laufen ja beim ersten Schuß davon.« Nun, ich habe den Angriff mitgemacht und erlebt, wie unser Sturm an diesen Amerikanern zerschellte, die wie ein Mann standen. Freilich war unser Angriff dem Gegner bekanntgeworden, und Foch hatte ihn aufgefangen, indem er die Truppen in eine zweite Stellung zurücknahm, so daß unser ganzes Wirkungsschießen verpuffte. Aber auch wo die Amerikaner sich in der Folge unter ungünstigeren Bedingungen zu schlagen hatten, stellten sie ihren Mann. Jener Stabsoffizier, der so verächtlich von den Amerikanern sprach, dachte wohl nicht daran, wie viele von ihnen desselben Bluts waren wie wir. Nebenbei bemerkt haben sich die Angloamerikaner nicht weniger gut geschlagen.

Wie viele Deutschstämmige im amerikanischen Heer waren, darüber gibt es keine Statistik. Wer amerikanische Gefangene traf, und erst recht, wer in amerikanische Gefangenschaft geriet, erinnert sich, wie er erschrak, als er so viele amerikanische Soldaten deutsch sprechen hörte. Ja, während mancher Gefechte selbst ertönten deutsche Rufe auf beiden Seiten. In den Kämpfen um den Wald von Belleau im Juni 1918 kam das deutsche Infanterieregiment Nr. 40 durch deutsche Zurufe seiner Gegner in Verwirrung. Das gleiche gilt von den Kämpfen um den Chatillonwald in den ersten Novembertagen. Bei diesem Kampf, der besonders furchtbar dadurch wurde, daß die Amerikaner keinen Pardon gaben, wurde auf beiden Seiten mit erbitterter Tapferkeit gefochten. So wiederholte sich die Tragödie von Yorktown aus dem Unabhängigkeitskrieg: Deutsche gegen Deutsche!

Amerika tat mit Unterstützung seiner deutschstämmigen Bürger alles, um Deutschland zu vernichten. In den letzten Monaten des Kriegs trat der amerikanische Anteil von Woche zu Woche, von Tag zu Tag stärker in Erscheinung. An die amerikanische Beteiligung östlich Reims schloß sich der Kampf der 3. amerikanischen Division an der Marne. Der Angriff auf St-Mihiel am 12. September sah bereits drei Armeekorps unter General Pershing vereinigt. In der großen Offensive der Alliierten Ende September bis Anfang Oktober hatte Pershing schon den ganzen Maas-Argonnen-Abschnitt und zwei rein amerikanische Armeen übernommen. Von den Amerikanern aus gesehen, war das alles nur ein Anfang. Der eigentliche große amerikanische Angriff sollte erst im Frühling 1919 kommen, wenn sie mit ihren Vorbereitungen fertig waren. So schließen die Heeresberichte der Obersten Heeresleitung am 11. November 1918 mit einer Meldung von der Abwehr amerikanischer Angriffe. Gleichzeitig schrieb General Allen, der spätere Führer der amerikanischen Besatzungstruppe im Rheinland in sein Tagebuch: »Nur mit Widerstreben stellten wir unsere Operationen ein. Uns schien, als hätten die Deutschen eine viel schwerere Niederlage verdient!«

Dank des amerikanischen Eingreifens endete der Weltkrieg für uns mit Versailles. Aber auch für die Amerikaner deutschen Bluts bedeutete dieser Krieg ein »Versailles«. Mit rücksichtsloser Brutalität wurde der Wahn über ihre Stellung und Bedeutung in den Vereinigten Staaten zerstört, in dem sie bis dahin gelebt und auf die sie, auf Grund ihrer Treue wie ihrer Leistungen, einen Anspruch zu haben geglaubt.

Uns gab »Versailles« letzten Endes den Ansporn zu einer vorher kaum für möglich gehaltenen Erneuerung des ganzen Volks. Es sprechen Anzeichen dafür, daß das »deutsch-amerikanische Versailles« auf die Amerikaner deutschen Bluts eine ähnliche Wirkung haben kann.


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