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Genau hundert Jahre, nachdem ein Deutscher den Namen Amerika geprägt und ihn in eine Weltkarte eingetragen hatte, landeten die ersten »Amerikaner« an der Küste des neuen Erdteiles.
Wenn wir von Europäern oder Asiaten sprechen, so meinen wir damit alle Bewohner des Erdteils ohne Rücksicht auf Rasse oder Staatszugehörigkeit, unter »Amerikanern« aber versteht man im allgemeinen Sprachgebrauch die Bewohner von nur einer der zweiundzwanzig Republiken Amerikas. Seine Gründer nannten sich Amerikaner und ihr Land die Vereinigten Staaten von Amerika. Damit beschlagnahmten sie den Namen des Ganzen für ihren kleinen Teil, der damals sogar noch recht klein war. Dadurch machten sie einen jeden, der ihn aussprach, zu einem Propagandisten ihrer Ansprüche, die von vornherein auf den ganzen Erdteil abzielten, zum mindesten so weit, daß sie alle Europäer von ihm ausgeschaltet wissen wollten. Die Amerikaner vollbrachten aber etwas noch viel Außerordentlicheres. Sie gründeten ihren Kontinentstaat als einen englischen, und sie brachten es fertig, den angelsächsischen Charakter ihres Landes sowohl der eigenen Bevölkerung wie der ganzen Welt derart einzuhämmern, daß beide nicht daran zu zweifeln wagen, obgleich kaum die knappe Hälfte seiner Bewohner angelsächsischen Blutes ist. Das ist eine so erstaunliche Leistung, eine so verblüffende Tatsache, daß man auf die Dauer nicht stillschweigend an ihr vorbeigehen kann, auch wenn man bisher vor der ganzen Welt so getan hat, als ob das selbstverständlich wäre.
Als im Jahre 1607 die »Susan Constant« mit ihren beiden kleinen Begleitschiffen in der Chesapeakebucht an der virginischen Küste schaukelte und hundertundfünf Kolonisten ihre am Ufer errichteten Zelte, Laubhütten und Erdhöhlen zu Ehren des Königs Jamestown nannten, da konnte niemand ahnen, daß dieser bescheidene Anfang die Grundlage der später so mächtigen Vereinigten Staaten von Amerika bilden würde. Noch weniger ließ sich voraussehen, daß der größte und wichtigste Teil der Neuen Welt angelsächsische Sprache und angelsächsischen Charakter haben würde.
Wir Heutigen denken gerne seufzend an die Zeiten, wo die Welt noch frei und offen war, wo Abenteurer, Entdecker und Eroberer noch große Möglichkeiten hatten. Allein das stimmt nicht. Die Welt ist niemals frei und offen gewesen. Was irgend Wert besitzt, hatte immer einen Herrn. Wer es haben will, muß es sich holen, falls es ihm der andere nicht gutwillig oder unter Druck abläßt. Höchstens Wüsten und Eismeere waren ehemals herrenlos, und es ist ein besonderes Kennzeichen unserer langsam sich übervölkernden Erde, daß auch sie heute aufgeteilt sind.
Aber Amerika war auch im siebzehnten und selbst im sechzehnten Jahrhundert nicht mehr herrenlos. Kaum war es entdeckt, da war es auch schon aufgeteilt, und zwar durch den berühmten oder vielmehr berüchtigten Vertrag von Tordesillas vom Jahre 1494, der die ganze Erde in eine spanische und eine portugiesische Interessenzone teilte. Diese Zonen wurden von den glücklichen Besitzern eifersüchtig gewahrt, solange sie die Macht dazu hatten. Nach dem kalten und nebeligen Neufundland, da mochten die aus dem amerikanischen Paradies ausgesperrten übrigen europäischen Völker immerhin fahren, zumal diese Insel infolge eines Vermessungsfehlers Portugal zugesprochen worden war, das nichts damit anzufangen wußte und dem es völlig aus dem Wege lag. Aber alle Versuche der Engländer wie der Franzosen, sich an der atlantischen Küste festzusetzen, wurden von den Spaniern unerbittlich, teilweise sogar mit der größten Grausamkeit verhindert. Wollten die Engländer über den Atlant fahren, so mußten sie erst die spanische Armada vernichten, und erst nachdem ihnen dies gelungen war, konnten sie wagen, Händler und Siedler über den Ozean zu schicken, um sich einen bescheidenen Anteil an der Neuen Welt zu sichern. Daß er je sehr groß werden könnte, erschien damals unwahrscheinlich. Dazu waren Spanien und Portugal immer noch zu stark. Einstweilen hielten sie die besten Stücke, und für den Rest gab es reichlich viel Bewerber.
Da waren zunächst die Franzosen. Diese hatten sich im westlichen Neufundland festgesetzt, hatten von hier aus den Sankt Lorenz entdeckt und waren überdies die ganze atlantische Küste hinuntergesegelt. Sie hatten sie Nova Francia genannt und für den französischen König in Besitz genommen. Das gleiche hatten freilich britische Seefahrer zur Zeit Elisabeths auch getan. Die Bezeichnung Virginien zu Ehren ihrer jungfräulichen Königin galt für die gesamte nordamerikanische Küste, bis zu dem Punkt nördlich von Florida, wo die spanische Macht immer noch unbezweifelbar war und mit ihren Kanonen selbst den Versuch sehr energisch zurückgewiesen hätte, auch nur dem Namen nach eine Oberhoheit zu schaffen.
Daß sich somit spanische, portugiesische, französische und britische Besitzansprüche bereits überschnitten, hinderte weder die Holländer, sich an der Hudsonmündung festzusetzen, noch die Schweden, das Gebiet des Delaware für sich zu beanspruchen. Damals sah es nicht im entferntesten so aus, als würde Nordamerika einmal ein angelsächsischer Erdteil werden, sondern es schien, als ob wenigstens die nördliche Hälfte der Neuen Welt von allen europäischen Völkern gemeinsam erschlossen und entwickelt, daß sie ein gesamteuropäischer Tochtererdteil werden würde.
Es hat nicht sein sollen. Die Briten schluckten nacheinander die holländischen, schwedischen und französischen Besitzungen. Ihre Nachfolger, die in Sprache und Kultur englisch gebliebenen Amerikaner, drängten die spanischen Elemente über den Rio Grande zurück. Überall ging man gegen alles, was nicht angelsächsisch war, als antiamerikanisch vor. Man bemühte sich, Florida und Kalifornien seinen ursprünglich spanischen, Louisiana seinen ehemals französischen Charakter zu nehmen. Nur mit der kanadischen Provinz Quebec ging das nicht, die blieb französisch in Sprache und Sitte bis auf den heutigen Tag, ein Pfahl im Fleisch des angelsächsischen Amerikas.
Wie aber stand es mit den Deutschen? Die Deutschen hatten keine eigene Kolonie in Amerika begründet, so ziemlich als einziger europäischer Staat; sogar das kleine Dänemark hatte sich mit den Jungferninseln seinen Teil zum mindesten von Westindien gesichert. Das kam, weil sich in dem gleichen Jahr, in dem England seine Kraft auf Übersee ansetzte zur materiellen wie geistigen Eroberung einer neuen Welt, in Deutschland der Knoten schürzte, der das gesamte deutsche Volk um der Auslegung der göttlichen Lehre willen in den furchtbarsten Bruderkrieg stürzte. In dem gleichen Jahr, in dem die Engländer mit der Stadt Jamestown den Grund zu einem neuen großen Reich in Übersee legten, kam es in der deutschen Reichsstadt Donauwörth wegen einer Prozession zu Streitigkeiten zwischen den katholischen und protestantischen Bürgern, der nach blutigem Kampf mit Reichsacht endete. Der Grund war gelegt zu einem dreißigjährigen Krieg und einer fast dreihundertjährigen Machtlosigkeit des deutschen Volkes.
Wer in der Folge von Deutschen nach Übersee auswanderte, der ging nicht als siegreicher Eroberer mit dem Schwert in der Hand hinüber, sondern kam demütig als Geschlagener und Verfolgter, als Ausgeplünderter, als Verkaufter, als Emigrant, als seiner religiösen oder politischen Überzeugung wegen Verfolgter. Wenn die Deutschen drüben auch Unerhörtes leisteten, wenn auch einzelne Kühne und Kräftige unter ihnen waren, die sich zu Führern aufschwangen, auch sie vermochten diese Stellung für ihre Volksgenossen nicht zu sichern, da kein deutscher Staat hinter ihnen stand, der sie geschützt und gedeckt hätte.
Um geschichtliche Ereignisse in ihren Wirkungen zu begreifen, muß man sie in das richtige Blickfeld rücken. Das ist leichter gesagt als getan. Ob man will oder nicht, man wird von den Ereignissen der letzten Zeit doch immer wieder gewissermaßen überschwemmt und über den Haufen gerannt. Sie dehnen sich über alles Maß aus, im Raum wie in der Zeit, während die weiter zurückliegenden ungebührlich zusammenschrumpfen. Das gilt nicht nur vom Altertum, sondern selbst vom verhältnismäßig kurz Zurückliegenden. Wer macht sich beispielsweise klar, daß die Vereinigten Staaten selbst heute länger britische Kolonie waren als unabhängiger Staat? Was hat sich für unser Empfinden alles ereignet seit der Bostoner Tea Party: die Eroberung des Westens, der zweite Krieg mit England, die kalifornischen Goldfunde, der mexikanische Krieg, die Monroedoktrin, der Kampf um die Sklaverei, der Sezessionskrieg, der Krieg gegen Spanien, Amerikas Rolle im Weltkrieg, endlich der phantastische Traum von der in die Wolken wachsenden Wirtschaftsmacht der USA. und ihr jäher Sturz. Die fast zweihundert Jahre aber, die zwischen der Landung der ersten Siedler und der Unabhängigkeitserklärung liegen, scheinen uns in eine so kurze Zeitspanne zusammenzufließen, daß diese beiden Ereignisse fast aufeinanderfolgen.
Macht man sich klar, wie lange der Einfluß des Heimatlandes auf die britischen Siedler auf amerikanischem Boden einwirken konnte, so wundert man sich nicht mehr so sehr, warum Amerika bis heute den Stempel eines angelsächsischen Landes wahrte, trotz der Einwandererströme fremden Blutes, die später über seinen Boden hingingen. Man wird sich nicht wundern, daß die Vereinigten Staaten heute noch ein britisch geprägtes Land sind, allein man wird seinen Zweifel daran haben, wie lange sie es bleiben. Das englische Blut hat drei Jahrhunderte Zeit gehabt zu wirken, das fremde teilweise nur ebenso viele Jahrzehnte. Wir müssen abwarten, wie das Antlitz Amerikas in ein- bis zweihundert Jahren sein wird, jedenfalls nicht mehr angelsächsisch, selbst wenn die Einwanderungstore für alle Nichtbriten luftdicht geschlossen bleiben sollten.
Der besondere Charakter der Amerikaner als eines angelsächsischen, aber nicht englischen Volkes rührt noch daher, daß gleich zu Beginn der Besiedelung ein verhältnismäßig starker Einwandererstrom einsetzte, der dann ziemlich plötzlich aufhörte. Die dreizehn Kolonien, die den Grundstock der Vereinigten Staaten bildeten, sind zwar innerhalb der langen Zeit von 1607 bis 1733 gegründet worden. Die älteste Kolonie ist also von der jüngsten durch einen Zeitraum von einhundertvierundzwanzig Jahren getrennt. Die entscheidenden Gründungen aber, die von Virginien und die der Neuenglandstaaten, drängen sich in die kurze Spanne von 1604 bis 1637 zusammen. So gut wie die ganze puritanische Einwanderung, die Amerikas Gesicht und Wesen so entscheidend prägte und heute noch prägt, spielte sich in den zwei Jahrzehnten von 1620 bis 1640 ab. All die ungezählten Millionen »Yankees« stammen von den zwanzigtausend damals eingewanderten Puritanern ab. Deutsche wanderten allein nach Pennsylvanien in dreifacher Zahl ein, aber sie kamen um etwa ein Jahrhundert zu spät, abgesehen davon, daß sie keine Führer hatten und auch nicht von einer nur annähernd so starken und unbezwinglichen Idee beseelt waren wie die Puritaner.
Wären diese sechzigtausend pennsylvanischen Einwanderer und die etwa vierzigtausend, die in der gleichen Zeitspanne nach den übrigen Kolonien auswanderten, früher gekommen, sie hätten wahrscheinlich dem Geschick Amerikas eine andere Wendung gegeben. Aber obgleich der angelsächsische Charakter der Vereinigten Staaten gewahrt wurde und der Einfluß der Pennsylvaniadeutschen und der nach dem Staate Neuyork ausgewanderten zehntausend Pfälzer nicht nach außen in Erscheinung trat, so ist er heute doch noch spürbar, selbst in den Teilen, in denen die Urenkel jener Deutschen längst kein Wort Deutsch mehr sprechen, ja vielleicht nicht einmal mehr wissen, daß ihre Ahnen aus Deutschland kamen.
Die atlantische Küste Amerikas ist wie Schwemmland, auf das viele Flüsse ihre Sinkstoffe abgelagert haben, fruchtbare und faulige. Sie ist wie ein Troja, in dem eine Kultur, eine Rasse über der andern baute. Alles aber hat die moderne amerikanische Zivilisation mit Standardisierung aller Lebensformen wie mit gleichmäßigem Firnis überzogen. Trotzdem, wer im Wagen mit offenen Augen etwa von Boston nach Washington fährt, der wird voll Staunen erkennen, daß der verschiedene Urgrund, die verschiedene Entstehung der einzelnen Staaten und ehemaligen Kolonien heute noch erkennbar sind. Das gilt nicht nur für Gebiete mit verschiedener rassischer Beimischung in der Kolonialzeit, sondern selbst für jene, in die in den entscheidenden Jahren fast nur Briten einwanderten.
Wer die Geschichte der Vereinigten Staaten verstehen will, der muß selbst heute noch auf die Entstehungsgeschichte der dreizehn Kolonien zurückgreifen. Die damals gelegten Schicksale wirken jetzt noch in die Zukunft.
Das britische Nordamerika, die dreizehn Kolonien, über dem fast zweihundert Jahre lang der Union Jack wehte, entstand aus drei grundverschiedenen Keimen.
Den ersten bilden die südlichen Kolonien mit dem Kernstück Virginien. Auf dem ersten Schiff, das an der virginischen Küste anlegte, kamen bereits »Herren« und »Sklaven« hinüber. Dieses Verhältnis führte schließlich zum Sezessionskrieg, und es ist heute noch bestimmend für Schicksal und Zukunft des gesamten Südens der Vereinigten Staaten; denn der Geist Virginiens und der übrigen angegliederten südlichen Kolonien, der beiden Karolinas, Georgias und Marylands hat sich über den gesamten Südteil der Vereinigten Staaten ausgedehnt.
Den zweiten Teil bildeten die nördlichen Kolonien mit Massachusetts als Führer. Sie wurden von den Puritanern geprägt. Heute haben sich die Puritaner über die ganzen Staaten verstreut. An ihre Stelle sind in den von ihnen aufgegebenen Farmen und Stadthäusern Italiener, Iren, Polen und französische Kanadier eingedrungen. Aber auch heute noch herrscht bis zu einem gewissen Grade der puritanische Geist, und er hat sich vom Atlant bis an den Pazifik ausgedehnt.
Die mittleren Kolonien waren von Anfang an die am wenigsten englischen, und sie sind es bis heute geblieben. Sie waren die einzigen, die in Kolonialzeiten eine nennenswerte deutsche Einwanderung erhielten. Sie blieben in aller Zukunft die Haupteinwanderungsländer mit dem stärksten Zusatz fremden Blutes. Von hier floß es in das Herz des Erdteils, in die Präriestaaten des Mittelwestens, die als typischst amerikanisch gelten und die am wenigsten englisch sind. Von hier aus wird die zweite große Epoche des nicht mehr angelsächsischen, sondern »amerikanischen« Amerikas ihren Anfang nehmen.
Ein bekanntes Wort besagt, daß die Franzosen in die Neue Welt nur Offiziere entsandt hätten, die Deutschen lediglich Soldaten, die Briten aber beides. Das stimmt nicht ganz. Die Franzosen haben mit den normannischen und bretonischen Bauern, die das Sankt-Lorenz-Becken besiedelten, sogar einen besonders tüchtigen Stamm gemeiner Soldaten hinübergeschickt, der ausharrte, als die »Offiziere« nach dem gegen England verlorenen Krieg den Boden der Neuen Welt verließen. Auf der andern Seite verfügten auch wir Deutschen drüben über Offiziere, freilich über viel zuwenig. Das Unglück aber war, daß gewöhnlich unsere Mannschaft ohne Führer war. Trat einmal ein »Offizier« auf, so fehlte es ihm bestimmt an Soldaten. Im allgemeinen erfolgte der deutsche Einsatz überall zu spät, nicht geschlossen genug, und brachte sich überdies um seine Wirkung durch Führerlosigkeit und Zersplitterung.
Freilich waren bereits bei dem ersten britischen Vorstoß, der Expedition der »Londoner Companie«, nach Virginien einige Deutsche dabei. Es waren nicht viele, aber unter einer Truppe von einhundertundfünf Mann zählt jeder einzelne. In den erhaltenen Berichten ist allerdings nur von »Dutchmen« die Rede, von »damned Dutchmen« sogar, also von »verdammten Holländern«. Das Wort »dutch« ist aber heute noch in USA. für deutsch gebräuchlich, die »Pennsylvania Dutch« sind die pennsylvanischen Deutschen. Damals machte man erst recht keinen Unterschied, zumal die Niederlande amtlich noch zum Deutschen Reich gehörten. Was sich in einem holländischen Hafen nach drüben eingeschifft hatte, zählte als dutch. Daß sich unter diesen »Dutchmen« der ersten virginischen Expedition aber rein Deutsche befunden haben, beweisen Namen wie Unger und Keffer.
Wie die liebevolle Bezeichnung »damned Dutch« besagt, war das Verhältnis zwischen den verschiedenen Nationalitäten nicht gerade besonders gut. Es wird aber wohl mehr der Klassen- als der Nationalitätenunterschied gewesen sein, der zu Reibereien Anlaß gab. In diesem Klassenunterschied liegt ein weiterer Grund, warum die Deutschen von Anfang an in der Neuen Welt trotz aller Leistungen nicht zu ihrem Recht kamen. Sie fuhren eben »dritter Klasse« hinüber und die Engländer »erster«, die einen als Knechte, die andern als Herren.
Das ist buchstäblich zu verstehen. Amerika ist keineswegs von Anfang an die Demokratie gewesen, als die es später gelten wollte. Noch Washington war Aristokrat und Feudalherr, der sich von einem Heer von Sklaven bedienen ließ. Die ersten Einwanderer nahmen die Feudalzeit aus Europa mit sich nach Amerika hinüber, wenigstens jene, die nach den Südstaaten auswanderten. Das ist im Grunde bis auf den heutigen Tag so geblieben. Der Herr und der Knecht, die auf der »Susan Constant« und ihren beiden Begleitschiffen nach Virginien fuhren, haben sich dort wie in den ganzen Südstaaten bis auf den heutigen Tag erhalten, nur daß damals der Knecht ursprünglich weiß war, während er später mehr und mehr schwarz wurde.
Die sogenannten »Kolonisten«, die damals hinüberfuhren, waren eigentlich große Herren, die gar nicht daran dachten, drüben zu arbeiten. Sie hatten ihre Passage der »London Company« voll bezahlt, mit zehn Pfund, was damals ungeheuer viel Geld war, und so glaubten sie, beanspruchen zu können, drüben gut zu leben, und zwar auf Kosten der »Knechte«, die mitkamen, um die Arbeit zu leisten.
Die Knechte hatten ihre Überfahrt eben nicht bezahlt, sondern sollten sie drüben abarbeiten. Das war damals und noch lange nachher allgemeiner Brauch. Man hielt fünf, sieben, ja noch mehr Jahre für nicht zuviel dafür.
Allerdings dauerte die Überfahrt wesentlich länger als heute. Die »Susan Constant« fuhr über Westindien nach Virginien und brauchte volle vier Monate. Die Zustände auf den winzigen, überladenen Schiffen ohne die geringsten Bequemlichkeiten, die heute für das schlechteste Zwischendeck Selbstverständlichkeiten sind, bei verschimmelnder Verpflegung, die von Würmern wimmelte, und bei fauligem Wasser, müssen grauenhaft gewesen sein. Daß auf der Fahrt die Sterblichkeit groß war, ist selbstverständlich. Die »Susan Constant« hatte dabei noch eine besonders gute Überfahrt. Man pries sich glücklich, so gut davon gekommen zu sein. Nur sechzehn Passagiere waren unterwegs gestorben und hatten ins Meer versenkt werden müssen. Das war ungewöhnlich wenig, später ist auf manchen Fahrten die volle Hälfte der Auswanderer gestorben, ehe man das Ziel erreichte.
Die Kolonisten waren am 19. Dezember abgesegelt; als sich ihre Schiffe in dem lauen Wasser der Chesapeakebucht schaukelten, blühten die Blumen und sangen die Vögel. Virginien ist ein schönes, warmes Land, es ist eher nur zu warm. Es war reichlich spät im Jahr geworden, und ehe Kapitän Newport den Fluß, der in die Bucht mündete, auf und ab gesegelt war und einen geeigneten Platz für die neue Kolonie gefunden hatte, war es zu spät zur Frühjahrsbestellung. Das war bös; denn man hatte nicht allzu viele Vorräte mit. Kapitän Newport erklärte deshalb, zurücksegeln zu wollen, um so bald wie möglich mit frischem Proviant und neuen Siedlern zurückzukehren.
Die ersten Amerikaner blieben auf einem Platz am Flußufer zurück, der eigentlich nur den einen Vorteil hatte, eben am Wasser zu liegen. Im übrigen dehnten sich ringsherum Sümpfe, und das Fieber setzte bald ein. Es dauerte nicht lange, so begann es die ersten Opfer zu fordern. Man war nicht im geringsten darauf vorbereitet, und zunächst fehlte es an Unterkunft. Sie konnte auch nicht so rasch beschafft werden; denn die gute Hälfte der Kolonisten waren ja »Herren« und »Kavaliere«. Sie waren nicht herübergekommen, um zu arbeiten, sondern um auf Kosten anderer reich zu werden.
Diese »andern« mußten also jeder für zwei arbeiten, dafür hatte man sie ja mitgenommen. Zu ihnen gehörten die »damned dutchmen«, die Holländer, die Deutschen, die Schweizer. Sie waren die Zimmerleute, die Maurer und die Landwirte. Es waren natürlich auch Engländer unter ihnen, sie bildeten sogar die Mehrzahl – im andern Lager aber, in dem der Herren, befand sich kein einziger Deutscher, und das machte von Anfang an den Unterschied.
Einen besonderen Grund zu ständigen Reibereien zwischen den britischen Herren und den deutschen Arbeitern bildete die grausame und niederträchtige Art, mit der die ersteren die Eingeborenen behandelten. Sie war nicht nur gemein, sondern auch töricht, denn dadurch hatte man sich die Möglichkeit genommen, von den Indianern Lebensmittel einzutauschen, und sich unnützerweise einen Todfeind gemacht, vor dessen Überfällen man ständig in Sorge sein mußte. Unter diesen Umständen war es nur natürlich, daß die deutschen Handwerker, die von den britischen Kavalieren tyrannisiert wurden, nicht den gleichen Stolz auf Jamestown, auf die erste britische Siedlung auf amerikanischem Boden, hatten wie die Engländer, ja, daß sie mit den gleichfalls schlecht behandelten Indianern sympathisierten.
Von den hundertundfünf Kolonisten, die im Frühling 1607 Jamestown begründeten, waren nach Ablauf von dreiviertel Jahren, als Kapitän Newport zurückkehrte, noch achtunddreißig am Leben. Ob unter den Überlebenden Deutsche waren, verschweigt der Bericht. Wie es heißt, sollen etliche, die die schlechte Behandlung nicht länger ertragen wollten, zu den Indianern in die Wälder gelaufen sein.
Es kam in der Folge noch eine ganze Anzahl Deutscher nach Virginien und in die übrigen Südstaaten, aber sie trafen vereinzelt ein, in zu kleinen Gruppen, in zu großen Abständen. Vor allem aber fehlte ihnen eine große Idee, ein starker Glaube, ein einheitliches Ziel. So wurden sie gute Bürger der Vereinigten Staaten, die im Unabhängigkeits- wie im Sezessionskrieg ihre Schuldigkeit taten, aber nicht von sich aus dazu beitrugen, das Antlitz Amerikas zu formen.
Es gehört zu meiner »Reisetechnik«, zu einer seit Jahrzehnten erprobten Arbeitsweise, das Wesen fremder Länder und Völker zu erfassen, möglichst regelmäßig ihrem Gottesdienst beizuwohnen. So war ich auch in Amerika in methodistischen und baptistischen Kirchen, bei Presbyterianern, Unitariern, Kongregationalisten und Mormonen, besuchte katholische Messen wie lutherische Bibelstunden, Neger- wie Indianerandachten.
Wer sich ein wenig mit dem religiösen Leben Amerikas befaßt, wird die Entdeckung machen, daß es selbst heute noch erstaunlich stark ist. Natürlich hat auch in den Vereinigten Staaten und Kanada der Kirchenbesuch nachgelassen. Es ist nicht mehr einfach eine Selbstverständlichkeit, daß man Sonntags zum Gottesdienst geht. Man kann auch ohne das gesellschaftlichen Umgang bekommen oder Bankkredit. In kleinen Städten aber ist die Zugehörigkeit zu einer »Denomination« irgendeiner Kirche, wenn auch nicht mehr gesellschaftliche und geschäftliche Notwendigkeit, so doch zum mindesten zweckmäßig. Jedenfalls ist es das einfachste und rascheste Mittel, in einer fremden Stadt Anschluß zu bekommen, einer religiösen Gemeinschaft beizutreten.
Wir haben das oft erlebt. Nach unserm sonntäglichen Kirchenbesuch war es nicht immer ganz leicht, uns dem Pfarrer oder dem Gemeindeältesten zu entziehen, die uns begeistert als neue Mitglieder begrüßen wollten. In Amerika gibt es ja keine Kirchensteuer, die der Staat einzieht; da muß jede Gemeinde für sich selber sorgen, und bei den schlechten Zeiten ist man natürlich über jedes neue Mitglied froh.
Auch in Amerika beginnt sich heute die alte religiöse Grundlage zu lockern; gerade daran erkennt man erst, wie stark sie war, und wie weitgehend das öffentliche wie private Leben darauf ruhte. Diese Grundlage ist ungeheuer vielgestaltig. Es gibt wohl kaum ein anderes Land mit derartig vielen Bekenntnissen, und trotzdem haben sie alle, von Katholiken und Juden abgesehen, eine gewisse Gemeinsamkeit. Man kann nicht sagen, sie haben eine gemeinsame Grundlage, aber doch eine gewisse gleiche Grundfärbung in den wichtigen Lebensfragen, nämlich Geschlecht und Geschäft. Die verschiedenen Denominationen mögen in Dogmenfragen voneinander abweichen, von strengster Orthodoxie bis zu reiner Freigeisterei, das Geschäftsethos sowohl wie die Stellung von Mann und Frau zueinander sind überall grundsätzlich gleich bestimmt, und zwar durch die puritanische Überlieferung, die selbst Anglikaner und Lutheraner zwar nicht in religiöser, wohl aber in sozialer Hinsicht beeinflußte.
Der Geist des Puritanertums hat die Vereinigten Staaten – ich will nicht sagen – geschaffen, aber doch entscheidend geprägt. Er lebt heute noch, trotz all der Wellen von Einwanderern verschiedenster Rasse und Religion, die über Amerika hingegangen sind, trotz des beispiellosen Wandels aller Lebensverhältnisse und Anschauungen seit den Tagen der Pilgerväter. Wer nur flüchtig in Amerika weilt, mag das vielleicht nicht merken, aber wer länger im Lande ist, stößt auf Schritt und Tritt darauf. Allen Flappern, allem »Sexgerede«, allen Nacktrevuen zum Trotz werden die geschlechtlichen Beziehungen heute noch entscheidend von puritanischen Anschauungen bestimmt. Wenn trotz der überaus weitgehenden Freiheit, die die Jugend beiderlei Geschlechts in den Vereinigten Staaten genießt, ein freier und vertrauender Verkehr zwischen Jungen und Mädchen, der zu Liebe und Ehe führt, nicht in dem Maße möglich ist wie bei uns, und den Beziehungen der jungen Leute noch allzu leicht etwas versteckt Schuldhaftes und Ungesundes anhaftet, so ist die puritanische Überlieferung daran schuld, die in aller »Fleischeslust« Sünde sieht. Ein Professor, der in irgendeine Scheidungsaffäre verwickelt ist, muß heute noch gehen, selbst an einer so freien Universität wie in Chikago, und das in dem Land mit dem Scheidungsrekord der Welt. Und wenn der Durchschnittsamerikaner auch heute noch mit seinem Leben nicht viel anderes anzufangen weiß als Geld zu verdienen, um des Verdienstes willen, so ist auch das puritanisches Erbe.
Es wäre aber durchaus falsch, die Wirkungen des Puritanismus nur in der bestimmten Formung sehen zu wollen, die sie dem Geschlecht wie dem Geschäft in Amerika gaben. Das Puritanertum hat unendlich viel mehr getan. Wenn sich die Vereinigten Staaten ihren angelsächsischen Charakter nach außen hin bis heute bewahrten, so ist auch dies Verdienst oder Schuld der Puritaner. Wenn sich Amerika in seiner politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Führerschicht fast rein angelsächsisch und protestantisch erhalten hat, so dankt es das den Puritanern. Erst jetzt, erst in unsern Tagen beginnen die Vereinigten Staaten ihren angelsächsisch-puritanischen Charakter, oder sagen wir lieber die angelsächsisch-protestantische Selbstverständlichkeit zu verlieren. Man hat den Bogen überspannt, und die puritanische Idee läuft ab.
Diese Idee war die stärkste Waffe des Angelsachsentums. Ihre Stärke beruhte darauf, daß die Puritaner nicht nur religiöse Fanatiker waren, sondern auch nationale und überdies bei all ihrer Frömmigkeit außerordentlich gute, um nicht zu sagen gerissene Geschäftsleute. Ihr hatten die Deutschen, die im Verlauf der Jahrhunderte in die Vereinigten Staaten einwanderten, nichts an Geschlossenheit wie an Entschlossenheit Gleichwertiges entgegenzusetzen, wie groß ihr frommer Eifer und ihre religiöse Hingabe auch immer sein mochten.
Die Geschichte der Puritaner und der Schaffung eines angelsächsisch-protestantischen Amerikas durch sie ist eine der erstaunlichsten, ja unwahrscheinlichsten, die sich je zugetragen hat. Die Puritaner waren ursprünglich nichts als eine Sekte, die, von der Reformation in Deutschland und der Schweiz beeinflußt, mit den Formen und dem Wesen der anglikanischen Kirche nicht übereinstimmte, wie sie Heinrich VIII. und nach ihm die Königin Elisabeth geschaffen hatten.
Diese Puritaner, die auch Nonkonformisten hießen, Independenten oder Dissidenten – je nach dem Grad ihres religiösen Radikalismus –, waren höheren Orts nicht sehr beliebt. Die Stuartkönige, die der Königin Elisabeth auf den Thron gefolgt waren, neigten im Grund ja mehr dem Katholizismus zu; jedenfalls erblickten sie in der Lehre der Puritaner eine Anzweiflung ihres Gottesgnadentums. Jakob I. fing damit an, puritanische Geistliche ihrer Stellen zu entsetzen; bald aber ging man zu stärkeren Abschreckungsmitteln über. Eines schönen Morgens sahen die Londoner vor dem Tower einen Mann am Pranger. An Stelle der Ohren hatte er zwei furchtbare Wunden, aus denen Blut über Hals und Brust hinunter zu Boden tropfte. Ein Schild verkündete, daß der Verbrecher, ein gewisser Prynne, außer zu Pranger und Ohrenabschneiden noch zu schwerer Geldbuße und lebenslänglichem Gefängnis verurteilt worden sei, weil er – ein Buch geschrieben habe, das Tanz, Theater und Maskerade als Werke des Teufels verdammt hätte, alles Dinge, an denen der königliche Hof Gefallen fand.
Die Puritaner gingen in nachdenklichem Schweigen an dem Unglücklichen vorüber. Sie sollten bald erfahren, daß er nicht der einzige blieb, sondern daß es ihnen allen an den Kragen ging. Verurteilungen zu Pranger, Verstümmelungen und Kerker regneten auf die Widerspenstigen, und Jakob I. sagte von den »Nonkonformisten«: »I will make them conform.« Andernfalls drohte er, sie alle aus dem Lande zu jagen. Sie ließen sich nicht konform machen, und so mußten sie schließlich aus England weichen, wenigstens die Eifrigsten in der Glaubensreinheit.
Sie flohen nach Holland. Dort hatten sie, was sie wollten, Frieden, Freiheit und völlig ungestörte Ausübung ihrer Religion. Aber sie waren trotzdem nicht zufrieden; denn wie gesagt, waren sie nicht nur religiös, sondern auch national. Sie waren Engländer, und so wollten sie auf die Dauer nicht in Holland leben. Nach einem Dutzend Jahren sahen sie mit Schrecken, daß ihre Kinder anfingen, ihr Englisch zu vergessen, holländisch zu sprechen und in holländische Familien hineinzuheiraten. Das war ebenso schlimm wie das papistische Wesen in der anglikanischen Kirche. Sie dachten deshalb neuerlich an Aufbruch. Noch eins kam hinzu. Die Puritaner waren ja nicht nur Eiferer und Frömmler, sondern auch gute Geschäftsleute, freilich nur zur höheren Ehre Gottes. Die Geschäfte in Holland aber gingen nicht allzu glänzend. Die puritanischen Emigranten ernährten sich ziemlich kümmerlich von ihrer Hände Arbeit. Also dachten sie daran, in eins der neu entdeckten Länder zu gehen, und verhandelten wegen Übersiedelung in eine der holländischen Kolonien.
Es ist überaus spannend zu sehen, in welchem Maße weltgeschichtliche Entscheidungen auf Messersschneide stehen, und welch unbedeutende Zufälle mit zu spielen scheinen, damit der geschichtliche Ablauf den und nicht jenen Weg nimmt. Aber im Grunde scheint das wohl nur so, in Wirklichkeit nehmen die Geschehnisse ihren schicksalhaften Lauf.
So ist es ziemlich müßig, sich auszumalen, was wohl geworden wäre, wenn die Puritaner statt nach Amerika nach Indien gezogen wären und ihre Glaubenskraft und Geschäftstüchtigkeit in einem holländischen Gemeinwesen angesetzt hätten. Sie waren eben englische Nationalisten, und auch jene, die sie aus der Heimat vertrieben, sahen in ihnen immer noch Engländer. Gerade als sie wegen der Überfahrt nach Indien verhandelten, trat eine englische Gesellschaft mit dem Angebot an sie heran, ihnen Reise wie Niederlassung in Virginien zu finanzieren. Gleichzeitig ließ sie der König wissen, daß er dem Unternehmen keine Schwierigkeiten in den Weg legen würde, und daß sie in der Neuen Welt unter der englischen Flagge alle Freiheit haben würden. Sie konnten sogar die Reise über England machen, um sich dort auszurüsten und mit Gesinnungsgenossen zu vereinen, die sich ihnen anschließen wollten.
Hier beginnt sich die englische Geschichte von der deutschen klar abzuzweigen. In beiden Ländern hatte die Reformation zu schwerem innerem Zwiespalt geführt. Während er sich nun in Deutschland immer mehr vertieft, bis im Dreißigjährigen Krieg die Gegensätze unheilbar aufeinanderprallen und eine unüberbrückbare Kluft zurücklassen, scheiden in England die radikalsten Teile aus dem Volkskörper aus, ohne ihm jedoch verlorenzugehen. Während sich in Deutschland die unerhörten Energien und seelischen Kräfte, die die Reformation auslöste, in sinnlosem gegenseitigem Kampf verzehren, schaffen sie in England eine neue Welt.
Ich kenne kaum ein eindringlicheres Beispiel für die alles bezwingende Macht einer Idee, für die unwiderstehliche Kraft des Glaubens als die Geschichte der Puritaner in Nordamerika. Sie ist weiter ein Beispiel dafür, wie wenig es im Grund auf die sogenannte historische Wahrheit ankommt, sondern lediglich auf die Legende, den Mythos, der vielleicht eben die tiefere Wahrheit enthält. Es ist so ziemlich alles unwahr, was als historische Überlieferung von den ersten Puritanern in Amerika berichtet wird, aber trotzdem bildet es das granitene Fundament des amerikanischen Lebens. Nicht die »Mayflower« brachte die ersten dauernden Siedler nach Amerika, sondern die »Susan Constant«. Allein, wie viele kennen überhaupt deren Namen. Ehe die Puritaner sich in Plymouth einschifften, bestand in Virginien seit dreizehn Jahren eine Kolonie. Diese Kolonie hatte bereits Selbstverwaltung und eine demokratische Verfassung, ehe die Pilgerväter in der Kabine der »Mayflower« ihr berühmtes Dokument aufsetzten, das angeblich die Grundlage der gesamten amerikanischen Demokratie bildet.
Die Puritaner, die nach der Neuen Welt hinüberkamen, waren überhaupt alles andere als Demokraten. Hätte jemand sie als solche bezeichnet und sie gleichzeitig darüber aufgeklärt, was Demokratie eigentlich ist, so hätten sie sich wahrscheinlich bekreuzigt und den Betreffenden erschlagen. Sie waren Kommunisten und gleichzeitig Autokraten, die mit äußerster Unduldsamkeit, gleichsam mit Feuer und Schwert, jede andere Meinungsäußerung bekämpften, ja überhaupt nur das Hegen einer andern Ansicht. Das klingt ungeheuerlich und gänzlich unamerikanisch. Das Ungeheuerliche daran aber ist höchstens, daß diese Einstellung durchaus nicht unamerikanisch ist, sondern im Gegenteil typisch amerikanisch. Den Kommunismus haben die Puritaner allerdings bereits nach drei Jahren abgelegt; in dem weiten leeren Land mit seinen ungeheuren Möglichkeiten gab es keine Verwendung dafür.
Die Unduldsamkeit der Puritaner aber, ihre felsenfeste Überzeugung, das von Gott ausgewählte Volk zu sein, allein im Besitz der wahren Gnade, wirkte durch drei Jahrhunderte auf das amerikanische Volk und gelangte als puritanisches Erbe bis auf die heutige Generation. Hat der Puritanismus die Formen des Verkehrs der Geschlechter wie des Geschäftslebens bestimmt, so in noch stärkerem Maße die des amerikanischen Glaubens, und zwar nicht nur des religiösen, sondern des Glaubens im weitesten Sinn, der amerikanischen Idee. Nur ein puritanisches, von seiner Unfehlbarkeit restlos überzeugtes Volk konnte die Stirn haben, einen »Krieg, um den Krieg zu enden«, vom Zaun zu brechen.
Für die Puritaner des 17. Jahrhunderts in den Neuenglandstaaten war es eine Frage göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, einen Quäker zu hängen, bloß weil er ein Quäker war. Warum war er ein Quäker und warum brachte er seine unheilige Person in die Gemeinschaft der von Gottes Gnadenwahl gesegneten Puritaner! Die puritanischen Erben im Amerika des 20. Jahrhunderts glaubten sich glücklicherweise berechtigt, ja verpflichtet, Völker, die ihnen nicht das mindeste getan, mit denen sie nicht den geringsten Streitfall gehabt hatten, mit Krieg zu überziehen und sie in das furchtbarste Unglück zu stürzen, bloß weil ihnen ihre Regierungsform nicht paßte, »to make the world safe for democracy«, um der Welt die Demokratie zu bringen.
Der Grund zu all dem wurde gelegt, als die »Mayflower« an einem nebligen und stürmischen Novembermorgen des Jahres 1620 in einer unwirtlichen Bucht vor einem kahlen Felsen lag. Die Pilgerväter hatten mit ihren Frauen und Kindern nach dem warmen, fruchtbaren Virginien gewollt, in dem es bereits blühende englische Kolonien gab. Hier hatten sie ein Stück Land erworben. Um dieses wie ihre Überfahrt abzuzahlen, hatten sie sich samt Frauen und Kindern für sieben Jahre an die Londoner Kaufleute verkauft, die das Unternehmen finanziert hatten. Dazu hatten sie auch die kommunistische Gemeinschaft gebildet, die alle Erträge einziehen und abliefern sollte, bis sie sich freigearbeitet haben würden.
Jetzt lagen sie hier an dieser düsteren, unwirtlichen Küste, von Herbststürmen umtobt, den Winter vor der Tür, am Felsenstrand eines Landes, auf das sie kein Recht hatten, schutzlos, ausgestoßen und doch wieder gebunden durch Verträge und Abmachungen, die sie vielleicht ein Leben lang in Sklavenketten halten würden; denn wie sollten sie hier ihren Verpflichtungen nachkommen, wie ihre Schulden abtragen, in einem Land, das nicht einmal in der Lage schien, das Notdürftigste zu erzeugen, um sie und ihre Frauen und Kinder vor dem Untergang zu bewahren?
Es war eine Lage, in der Menschen entweder zerbrechen oder das Schicksal zwingen. Mit diesem Entschluß, das Schicksal zu zwingen, und in dem felsenfesten Vertrauen, von Gott persönlich berufen und auserwählt zu sein, traten die einundvierzig erwachsenen Männer der Expedition zusammen und setzten das Dokument auf, das alle beschworen. Dieses Schriftstück war freilich alles andere als eine demokratische Verfassung, es waren eher die Gesetze eines Blutbundes. Aristokratisch und autokratisch blieben auch in Zukunft die puritanischen Gemeinwesen. Heute freilich gelten sie als Urbild und Muster der Demokratie, aber die wahren Beherrscher Amerikas haben es ja bis zum heutigen Tage verstanden – und daran liegt nicht zum wenigsten ihre Größe –, als vorbildliche Demokratie hinzustellen, was in Wahrheit eine Oligarchie ist.
Die finstere Gewitterwolke, die sich seit Jahren und Jahrzehnten immer drohender über Deutschland zusammengezogen hatte, war geborsten, der große religiöse Krieg ausgebrochen. Damit war das deutsche Volk in dem Augenblick lahmgelegt, als eine neue Welt sich auftat und die Erde verteilt wurde. Trotzdem ist der Dreißigjährige Krieg in sich noch keine genügende Erklärung, warum Deutschland bei der Verteilung der Welt derart ins Hintertreffen geriet. Schließlich war es ja nicht nur ein deutscher, sondern ein allgemeiner europäischer Krieg; Schweden und Polen, Dänemark und Holland, England, Frankreich und Spanien waren mehr oder weniger in ihn verwickelt. Das hinderte aber die andern, insbesondere die Westmächte nicht, sich trotzdem die größten Kolonialreiche zu sichern, ja das englische ist eigentlich nur unter dauernden Kämpfen gegen europäische Gegner entstanden. Auch der religiöse Zwiespalt blieb ja nicht auf Deutschland beschränkt, und die Hugenottenkriege in Frankreich waren kaum unblutiger als die Religionskämpfe in Deutschland.
Trotzdem sehen wir bei den andern aus all den Kämpfen und Wirren eine starke, nationale Macht hervorgehen, einerlei ob das nun in Frankreich das Königtum oder in England dessen Gegner ist; in Deutschland aber erwies sich auf keiner Seite der nationale Gedanke stark genug, um schließlich über den religiösen Zwiespalt zu triumphieren, weder bei dem katholischen Kaiser noch bei den protestantischen Fürsten und Städten.
Doch gab es im Verlauf des großen Krieges einen Augenblick, wo es so aussah, als könne aus ihm eine Macht hervorgehen, die auf das Meer und das Land jenseits des Meeres übergreifen könne. Das war im Jahre 1626, als Tilly die Dänen bei Lutter am Barenberge geschlagen und Wallenstein sie im Anschluß daran aus Holstein und Jütland geworfen hatte, als der Friedländer mit seinen siegreichen Truppen am Rand der Ostsee stand und er den Dänen nicht auf ihre Inseln zu folgen vermochte. Da blitzte in seinem Hirn der Gedanke auf, eine deutsche Flotte zu schaffen.
Der Augenblick war nicht ungünstig. Der Krieg war zu einem gewissen Stillstand gekommen und fand drei Jahre später im Frieden von Lübeck auch formell sein Ende. Hätten damals Kaiser und Fürsten auf der Höhe ihrer nationalen Aufgabe gestanden, all das Elend, das in der Folge über das deutsche Volk hereingebrochen ist und bis auf den heutigen Tag nachwirkt, wäre uns vielleicht erspart geblieben. Mit dem Frieden, von Lübeck war die kaiserliche Gewalt derart gestärkt, daß hinfort eine starke kaiserliche Politik möglich gewesen wäre. Die Hansastädte hätten die Schiffe wie die Mannschaft für eine kaiserlich-deutsche Kriegsflotte verfügbar gehabt. Der Weg in die Welt hätte dem deutschen Volk offengestanden, nicht als Knechten, Bettlern und Flüchtlingen – wie in der Folge –, sondern als Herren.
Die Habsburger aber waren damals bereits zunächst Katholiken und dann erst Deutsche; erst kam ihnen ihre Hausmacht und dann vielleicht das Deutsche Reich. So erließ der Kaiser das Restitutionsedikt in einem Augenblick, wo alles darauf angekommen wäre, den Protestanten die Hand zur Versöhnung hinzustrecken. Mit diesem Gewaltakt katholischer Reaktion war natürlich kein Friede zwischen den Konfessionen möglich, und der Wiederausbruch des Krieges, der dann mit der Landung Gustav Adolfs in Pommern so dramatisch einsetzte, nur eine Frage der Zeit. Auch an eine kaiserlich-deutsche Flotte war jetzt natürlich nicht mehr zu denken. Die Stadt Lübeck, mit der Wallenstein als Vorort der Hansa dieserhalb verhandelt hatte, brach die Verhandlungen ab. Mit Recht mochte sie wie die andern deutschen Seestädte für ihren Protestantismus fürchten.
Welche weltpolitischen Möglichkeiten sich damals ergeben hätten, wenn man den konfessionellen Hader hinter den nationalen Gedanken zurückgestellt hätte, ergibt ein Blick auf die gleichzeitigen Vorgänge des Jahres 1626 in Amerika.
In diesem Jahr war Virginien noch immer eine wenig ausgedehnte Kolonie, die Pilgerväter waren über Plymouth Rock noch kaum hinausgekommen. Die große puritanische Auswanderung setzte erst um 1630 ein. Zwischen diesen beiden britischen Siedlungen dehnte sich eine weite, herrenlose Küste; denn um diese Zeit hatte Spanien alle Ansprüche nördlich von Florida aufgegeben, und die Franzosen beschränkten sich darauf, vom Sankt Lorenz über die Großen Seen vorzudringen. Am Hudson lagen noch ein paar holländische Handelsniederlassungen und Pelzjägerhütten. Der große britische Entdecker, nach dem der Fluß seinen Namen trägt, hatte ihn in holländischem Auftrag befahren, auf der Suche nach der Nordwestpassage. Seitdem machten die Niederlande Anspruch auf dieses Gebiet. Aber die Holländer waren in erster Linie Händler, und so kam es erst zu einer wirklichen Koloniegründung, als die Niederländische Westindien-Kompanie, der Handel und Schiffahrt an der gesamten afrikanischen wie amerikanischen Küste unterstand, einen Deutschen als Bevollmächtigten an die Hudsonmündung entsandte und zum Gouverneur der von ihm begründeten holländisch-amerikanischen Kolonie ernannte.
Dieser Peter Minnewit aus Wesel ist einer der bedeutendsten deutschen Kolonialpioniere. Er zeigt, daß es unter den Deutschen jener Tage koloniale Führernaturen gab. Wären nun zu diesem Führer die Auswanderer gestoßen, die später in Scharen über den Atlant zogen, und wäre in Deutschland nur ein Fürst, nur eine Reichsstadt gewesen, die die Wichtigkeit erkannt hätten, rechtzeitig für Deutsche ein Stück der Neuen Welt zu sichern, es hätten nicht so viele Millionen deutscher Volksgenossen Kulturdünger für andere Völker sein müssen.
Hätte man den Frieden von Lübeck nur ein paar Jahre, statt lediglich wenige Monate halten können, so wäre vielleicht alles anders gekommen. Amerikanische Kolonisationspläne lagen damals auch in Deutschland in der Luft. In dem gleichen Jahre 1626, in dem Peter Minnewit die Halbinsel Manhattan, auf der heute die Wolkenkratzer Neuyorks stehen, von den Indianern für Bänder und Perlen im Werte von etwa fünfzig Mark kaufte, wurde auch in Schweden eine amerikanische Kolonisationsgesellschaft gegründet.
Der Hauptteilhaber dieser Gesellschaft war der König selber. Ein Kaufmann aus Antwerpen, Wilhelm Usselinx, hatte Gustav Adolf auf die unbegrenzten Möglichkeiten eines amerikanischen Kolonialreiches hingewiesen. In dem gleichen Jahre, in dem in Deutschland der Frieden zu Lübeck geschlossen wurde, kam auch der schwedisch-polnische Waffenstillstand von Altmark zustande. Durch ihn war die schwedische Vorherrschaft im Ostseeraum gesichert, und Gustav Adolf hatte die Hände für sein geplantes Überseeunternehmen frei. Er selber hatte 400 000 Taler gezeichnet. Von vornherein schwebte ihm eine schwedisch-deutsche Zusammenarbeit vor. In den deutschen Seestädten ging man mit Eifer auf diese Pläne des Schwedenkönigs ein. Stettin wie Stralsund erklärten, sich zu beteiligen, ebenso der Herzog von Pommern. Besonders eifrig war Emden, das seinen Handel ausdehnen wollte und Sitz und Stimme in der Leitung der geplanten Gesellschaft anstrebte. Livland mit seiner starken deutschen Bevölkerung bot an, sich mit 150 000 Talern zu beteiligen, und erst recht war natürlich das reiche Danzig dabei.
Ein gewaltiger deutsch-schwedischer Kolonisations- und Handelsplan begann feste Gestalt anzunehmen. Da führte der reaktionäre Eifer des katholischen Habsburgers das Restitutionsedikt herbei, die evangelische Freiheit war bedroht. Zu ihrer Sicherung griff Gustav Adolf in den deutschen Religionsstreit ein, und statt in das amerikanische Neuland führte er seine Schweden auf deutschen Boden, in den furchtbarsten Krieg, der unsere Heimaterde je verwüstete.
Während in Deutschland der große Krieg wütete, baute der Deutsche Minnewit am Ufer des Hudsons seine Kolonie auf. Er errichtete ein Fort am Ende der Halbinsel, die heute noch Battery Place heißt, und sicherte die Niederlassung durch einen Wall, nach dem die an seiner Stelle führende Wall Street benannt ist. Nachdem der Platz, den Minnewit Neu-Amsterdam nannte, so gesichert war, begann es sich rasch zu entwickeln. Innerhalb weniger Jahre hatten die Neu-Amsterdamer die Pilgerväter im Pelzhandel geschlagen. Bereits im Jahre 1628, als die Kolonie erst zwei Jahre alt war, war der Umsatz 56 000 Gulden. Drei Jahre später stieg er auf 130 000.
Vor allem lag dem deutschen Gouverneur aber an der Schaffung von Siedlungen. Er sorgte dafür, daß Vieh und Pferde herüberkamen, nicht weniger als Menschen, die fähig und willens waren, das Land anzubauen. Jeder, der in Neu-Amsterdam landete, erhielt so viel Land zugeteilt, als er bestellen konnte.
Minnewit hatte von vornherein erkannt, wie wichtig es war, die junge Kolonie politisch und militärisch zu sichern. So erbaute er nicht nur Fort und Wall, sondern legte auch den Grund zu einer eigenen Kriegsflotte. Unter seiner Leitung wurde die »Neu-Niederland« gebaut, ein Schiff, das 600, nach manchen Berichten 800 Tonnen groß war. Jedenfalls trug es dreißig Kanonen und war eins der größten Schiffe, die damals auf dem Wasser schwammen.
Trotzdem waren die militärischen Hilfsmittel von Neu-Amsterdam einstweilen doch noch derart gering, daß es lebenswichtig war, gute Beziehungen zu den britischen Nachbarn zu unterhalten, ohne jedoch die holländischen Ansprüche preiszugeben. Minnewit mußte da mit äußerstem Takt und diplomatischem Geschick vorgehen; denn im Grund machten ja die Engländer Ansprüche auf die ganze Küste. Sie waren aber zunächst durch den Krieg gegen Spanien und die inneren religiösen Streitigkeiten zu sehr in Anspruch genommen, um sie geltend zu machen. Inzwischen mußte die Kolonie so stark gemacht werden, daß sie nicht mehr ohne weiteres genommen werden konnte.
Dazu wären in erster Linie Menschen nötig gewesen, die in dem amerikanischen Boden ihre neue Heimaterde gesehen hätten und infolgedessen auch willens und bereit gewesen wären, sie mit der Waffe zu verteidigen. Unglücklicherweise änderte die Westindien-Gesellschaft jedoch das von Minnewit eingeführte Landverteilungssystem. Sie belegte alles Land für die Gesellschaft und führte das sogenannte Patronatsystem ein. Jeder Teilhaber, der auf seine Kosten fünfzig Siedler herüberbrachte, erhielt ein Gebiet von sechzehn Meilen Uferlänge am Hudson, das sich nach innen so weit erstreckte, »wie die Umstände es gestatteten«.
Begreiflicherweise reihte sich alsbald längs des Hudsons ein Gut an das andere. Die Arbeiter auf ihnen aber waren nicht viel mehr als Leibeigene, die der vollen polizeilichen und richterlichen Gewalt des Grundeigentümers unterstanden. Es ist nicht erstaunlich, daß daraufhin der Zustrom von Kolonisten nachließ und überdies eine endlose Kette von Streitigkeiten einsetzte, die schließlich zu der Abberufung des deutschen Gouverneurs führte.
Minnewit hatte die von ihm begründete Kolonie sechs Jahre geleitet und verließ sie in blühendem Zustand. Unter seinem Nachfolger Wouter van Twiller riß eine Mißwirtschaft ein, die nach Ablauf von fünf Jahren dazu führte, daß die Kompanie nicht nur das Patronatsystem, sondern auch das Pelzhandelsmonopol aufgeben mußte.
Die Kolonie wurde jetzt freigegeben für Angehörige aller Nationen. Sie eilten von allen Seiten herbei, aus Neuengland und Virginien wie aus allen Ländern Europas. Bereits im Jahre 1643 wurden in Neu-Amsterdam achtzehn verschiedene Sprachen gesprochen. Damals schon bekam die Stadt, die nach der Eroberung durch die Engländer den Namen Neuyork erhielt, das internationale Gepräge, das sie seitdem nie mehr verloren hat. Sollte wirklich jemals ein einheitliches amerikanisches Volk entstehen, so werden die Neuyorker die letzten sein, die darin aufgehen.
Noch ein anderes Kennzeichen haftet Neuyork heute noch von den Tagen seiner holländischen Herrschaft an: sein Händlergeist. In jenen Tagen, als die atlantische Küste Amerikas besiedelt wurde, war die Haupttriebfeder zur Auswanderung der Wunsch nach religiöser Freiheit. Sowohl die Neuenglandstaaten wie Pennsylvanien oder Maryland wurden fast ausschließlich von glaubensstarken Menschen besiedelt, die in erster Linie um ihrer idealen Ziele willen in die Neue Welt hinüberkamen. Wer aber nach Neu-Amsterdam hinüberfuhr, der tat das, um Geschäfte zu machen. Auch das von den Holländern gegen Wunsch und Rat ihres deutschen Gouverneurs eingeführte System der großen Liegenschaften wirkte nach. Auf dieses führen die alten Neuyorker Familien ihren Reichtum zurück, die van Rensselaers wie die Schuylers. Bis zum Jahre 1852 mußte noch Pacht bezahlt werden, der auf diese alten Landrechte zurückging. Auch nachdem die Gerichte diesem Unfug ein Ende gemacht hatten, wirkt das Unheil des Patronatswesens bis auf den heutigen Tag weiter, das die Menschen in allmächtige Herren teilt und in ohnmächtige Leibeigene, die für sie fronen müssen. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur von Battery Place mit der Hochbahn durch Neuyork zu fahren und dann an den Hudson. Man wird auf dem Weg zu den Milliardärsvillen so grauenhaftes Elend zu sehen bekommen, daß man eine Weile braucht, um den Eindruck zu überwinden.
Um dieses Händlergeistes und dieser sozialen Ungerechtigkeit willen ging Neu-Amsterdam den Holländern verloren. Als die Briten während des englisch-holländischen Krieges von 1664 eine Flotte zur Eroberung der niederländischen Kolonie aussandten, erhob sich keine Hand zu ihrer Verteidigung. Ihr Gouverneur mußte sie ohne einen Schuß übergeben. Der gleiche Geist lebte zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges, als die Bürger von Neuyork Geschäfte mit beiden Parteien machten und Väter keine Bedenken trugen, englisches Gold zu nehmen, während ihre Söhne vielleicht zerlumpt in den Heeren Washingtons fochten.
Und heute? Steht man auf den ragenden Burgen des Finanzkapitals, die sich hoch über all dem menschlichen Elend erheben, auf dem sie errichtet wurden, denkt man an die kaltherzige Geldpolitik, die hier ihren Sitz hat, so möchte man wie Jugurtha beim Verlassen Roms ausrufen: »O urbem venalem!« »O käufliche Stadt«, in der es nichts gibt, was nicht für Geld zu haben ist und was nicht für Geld verraten und preisgegeben würde.
Der Deutsche Peter Minnewit aber hat den innerlichen Niedergang seiner Schöpfung bei äußerlichem Aufblühen nicht mehr erlebt. Er fuhr nach Holland, um dort sein Recht zu suchen. Als er es nicht fand, ließ er den Mut nicht sinken. Er glaubte an Amerika und seine Zukunft. So erinnerte er sich des deutsch-schwedischen Planes der Gründung eines großen amerikanischen Handels- und Kolonisationsunternehmens und fuhr nach Stockholm.
Als er im Jahre 1636 dort ankam, hatte sich freilich gegenüber der Zeit vor einem Jahrzehnt, als Gustav Adolf den Plan faßte, viel geändert. Der große König selbst war tot, auf Schwedens Thron saß ein unmündiges Kind, seine Heere zogen in Deutschland in einem hoffnungslos verfahrenen Krieg umher, der nur noch um des Krieges willen geführt wurde. Die deutschen Städte hatten andere Sorgen als Beteiligung an einem amerikanischen Kolonisationsunternehmen. Trotzdem brachte die zähe Energie Peter Minnewits es fertig, in Schweden wieder Interesse für seine amerikanischen Pläne zu gewinnen. Im Winter 1637 war er so weit, daß er auf einem schwedischen Kriegsschiff, das fünfzig Kolonisten trug, nach der Küste der Neuen Welt in See stechen konnte.
Dort war inzwischen der noch freie Raum kleiner geworden. Der erfahrene alte »Amerikaner« aber wußte, wo er sich mit seinen bescheidenen Mitteln und wenigen Männern noch einfügen konnte, ohne Mißgunst und Mißtrauen der alten Kolonialmächte, vor allem Englands, allzusehr zu erregen. Er steuerte sein kleines Schiff nach der Mündung des Delaware, wo er ein Fort errichtete. Zu Ehren des kleinen Mädchens auf Schwedens Thron nannte er es Fort Christina. Dem diplomatischen Geschick Minnewits war es zu danken, daß er die neue Kolonie vor englischem wie holländischem Eingriff bewahrte, seinem wirtschaftlichen Weitblick, daß sie in erstaunlich kurzer Zeit aufblühte. Den Pelzhandel verstand Peter Minnewit wie kein zweiter, und bereits im ersten Jahr hatte er dem holländischen Handel für 30 000 Gulden Pelze weggenommen. Auf den Ruf des in Amerika wohlbekannten deutschen Gouverneurs kamen von allen Seiten Siedler nach den Ufern des Delaware, darunter auch Deutsche aus den Ostseestädten.
Solange Peter Minnewit lebte, blühte die kleine Kolonie, kein Feind wagte sie anzugreifen. Er starb auf seinem Posten und wurde in Fort Christina begraben. Allem Vernehmen nach war auch sein Nachfolger ein Deutscher, und zwar Johann Printz von Buchan, der unter Gustav Adolf im schwedischen Heer gedient hatte. Johann Printz verwaltete Neuschweden bis 1653. Zwei Jahre später fiel es in die Hände der Holländer, die von Neu-Amsterdam aus mit sieben Schiffen und sechshundert Mann aufgebrochen waren, es zu erobern.